Der Wind fuhr durch ihr Haar und das Fell ihrer Stute. Hjorgcai hielt die Zügel sicher in der Hand und presste die Beine eng an den Leib des Tieres. Sie trug ihre Rüstung und die Waffen immer noch bei sich. Es war nur ein Arban, welches sie umgab, sowie ihr Standartenträger. Er trug ihr Wappen, das über ihr im klaren Himmel wehte.
Vor ihr lag nur die Steppe, das trockene Gras, das sich unter dem scharfen und eisigen Wind beugte, um zu überleben. Bald mussten sie fort. Ihrem Heer würden bald die Vorräte ausgehen und diese Gegend bot nicht genug Nahrung. Und wenn erst der Hunger ausbrach, würden sich ihre Vasallen und Getreuen von ihr abwenden. Es waren nicht die Niederlagen, die aweynchischen Kriegsfürsten das Ende brachten, es war die schlechte Versorgungslage. Denn es war die oberste Aufgabe eines Anführers ein Versorger zu sein, danach kam erst der Krieger. Jemand, der seine Leute nicht versorgen konnte, konnte auch niemals ein Land beherrschen.
Sie wendete ihre Stute und blickte nach Süden. Eine Staubwolke kam von dort auf sie zu. Pferdehufe trommelten über den Boden und über der kleinen Gruppe erhob sich der goldene Reiter des Khans und ein weiterer Reiter, der einen Löwen durchbohrte, das Wappen des Stammes Tjotschiu. Man erzählte sich, dass der Stammesfürst Achkber wahnsinnig geworden war und jetzt seine Frau Kherosgo das Geschick des Stammes lenkte. Hjorgcai konnte sich das jedenfalls gut vorstellen, schon immer waren die Frauen ihrer Familie Herrscherinnen gewesen. Ihre Mutter war zwar früh gestorben, hatte aber ihren Stamm gegen die benachbarten verteidigt, als ihr Vater im Norden für den Khan gekämpft hatte. Und da waren noch weitere große Frauen zuvor gewesen, Agitchu Khatun, die die Sebetjh zurückgeschlagen hatte, Hejolko, die bis nach Cesing vorgedrungen war und dort gefallen war.
Jetzt jedoch waren diese Frauen nur noch Teil der Vergangenheit, interessant war nur die Gegenwart. Hjorgcai wendete ihr Pferd und ritt den Abhang hinab. Ihre Männer folgten ihr und ihre Waffen funkelten im Licht der fernen Sonne. Gemächlich ritten die beiden Gruppen aufeinander zu. Hjorgcai erkannte ihre Schwester, die ebenso wie sie einen dunklen, geschmeidigen Harnisch aus Lederstreifen trug. Ihr dunkles Haar war nach Art der Krieger nach hinten geflochten, doch sie trug einen Lederhelm und nicht den Schmuck einer Fürstin. Es war Krieg kein Frieden.
Hjorgcai nickte einen ihrer Männer zu, der einen dunkelbraunen Hengst bei sich führte.
„Dies ist mein bester Vererber, er wurde schon unter Arygan Khan geritten. Möge er euch sicher tragen und euch gute Fohlen schenken.“.
Kherosgo neigte den Kopf und nickte ihrerseits einem ihrer Männer zu, der zwei Mädchen herbeiführte. Sie hoben die Köpfe stolz. Ihr volles, schwarzes Haar war zu zwei seitlichen Schnecken hochgebunden worden und die olivfarbene Haut glänzte. Die Augen waren groß und dunkel, eine Sternennacht. Sie mussten aus dem Süden von Radehles kommen, Sklavinnen.
„Dies sind zwei meiner besten Heilerinnen, sie kommen aus Radehles. Mögen sie dir gute Dienste leisten.“.
„Das werden sie.“, erwiderte Hjorgcai leise, dann wurde sie lauter: „Wenn Ihr euer Heer nicht an diesen Ort geführt habt, um sich mit dem meinen zu vereinigen und stattdessen gegen mich kämpfen wollt, dann muss ich Euch enttäuschen. Ich werde Euch besiegen, Kherosgo.“.
„Du musst mich besiegen, wenn du Hes-Argan besiegen wirst.“, entgegnete sie spöttisch, „Aber ich stimme dir zu. Wir brauchen keinen zweiten Esren. Der Taidschie muss fallen, damit das Land zur Ruhe kommt. Du hast mein Schwert und die meiner Männer,…Schwester.“.
Hjorgcai lächelte.
„Schwester.“, stimmte sie zu. „Du und deine Männer sind an meinem Feuer willkommen.“.
Sie nahm einen Schlauch vom Sattel ihres Pferdes und reichte ihn ihrer Schwester. Der süße Duft von Airag drang zu ihr hinüber. Kherosgo trank und stellte sich damit unter das Gastrecht. An Hjorgcais Feuern würde sie sicher sein und die Schwerter würden ruhen.
„Erostjog. Das Heer soll ihr Lager mit dem meiner Schwester vereinen.“, befahl Kherosgo.
Der Krieger nickte und ritt davon.
„Komm, Schwester. Erzähl wie es dir ergangen ist.“.
Gemeinsam ritten sie zurück zum Lager.
Wenig später saßen sie in Hjorgcais Jurte, wobei sie ihrer Schwester den Ehrenplatz überließ.
„Hes-Argan hat die Stämme Ghagistol und Heutschin am Dajar besiegt.“, erzählte Kherosgo.
„Damit hat er die Kontrolle über die Furt bei den Axai-Wiesen.“. Hjorgcai verfolgte in ihren Gedanken das Bild der Steppen und Gebirge.
„Er versucht die Lingial-Steppen unter seine Kontrolle zu bringen.“, bestätigte ihre Schwester sie.
„Nein.“, Hjorgcai schüttelte den Kopf, „Er will die Siljovs-Wälder. Der Süden, Westen und der größte Teil des Nordens sind durch das Emudschin-Gebirge geschützt, der Osten durch das Meer. Es bleibt nur ein kleiner Teil im Norden, der zu durchqueren ist. Dort könnte er eine unüberwindbare Festung schaffen und seine Truppen selbst im Sommer ohne große Probleme versorgen. Es ist abgesehen von den Wäldern am Dzengin die fruchtbarste Gegend unseres Landes.“.
„Dann müssen wir ihn zur Schlacht zwingen, ehe er die Wälder unter seine Kontrolle bringt.“.
„Nein, darauf wird er sich vorbereiten. Wir müssen ihn überraschend treffen, dem Moment, wo seine Rüstung zu durchdringen ist. Wir greifen ihn an, wenn er die Wälder erreicht hat und sich noch mit den einheimischen Stämmen herumschlägt.“.
„Und wie willst du das Heer hinein bringen? Er wird den Norden halten und über die Pässe im Westen kann man nur wenige Männer führen, abgesehen davon, dass wir Herbst haben und die Schneefälle schon im Hochsommer tückisch sind.“.
„Wir greifen aus dem Süden an. Wir führen unser Heer über die Oasenstraßen nach Niyes und nehmen den Pfad aus dem Süden, am Meer sind die Berge verschwunden, dort werden wir den Speer zum Stoß ansetzen.“.
„Und dadurch wird er sterben.“, führte Kherosgo ihren Satz zu Ende.
„Das wird er. Oh ja, das wird er.“.
Sie lächelte.
Es hätte sie kaum schlimmer treffen können. Ausgerechnet Arzaya! Kaum ein anderes Land war so von seiner Königin abhängig wie Madruk. König Lû besaß sieben Söhne, die im Falle seines Todes bereit waren, seinen Platz einzunehmen. Ebenfalls Ciyen, Marvon war längst vom Parlament als Thronfolger legitimiert und für seine Aufgaben ausgebildet worden. Und Tabita und Joshua standen ebenfalls zur Verfügung und selbst wenn alle aus der Königsfamilie umgebracht werden würden, würde das Parlament einfach einen König aus einer anderen Adelsfamilie wählen. In Varyny besaß der König auch mehr eine repräsentative denn eine wirkliche Macht, die wahre Macht lag beim Rat der Stammesfürsten und deren Erben im Falle ihres Todes standen fest und waren vom Volk bestätigt. Bei den Sphinxen war es komplizierter, doch es wahrscheinlich das sich einer der Landesfürsten zum König krönen wurde und das Land nicht in Bürgerkriegen gespalten werden würde.
Madruk dagegen…Arzaya hatte nie geheiratet und hatte kein einziges Kind, noch nicht einmal einen Bastard. Jeder Adelige würde versuchen sich selbst auf den Thron zu bringen oder seine Position im Land zu festigen. Heere würden das Land durchziehen und am Ende würde der Sieger nur eine Spur aus Blut und Eisen hinter sich herziehen.
Tabita wusste nicht, was sie tun sollten. Es war offensichtlich, dass Madruk den Sebetjh erst einmal nichts entgegen zu setzen hatten, nicht, wenn sie keinen Leiter hatten.
Arzayas Leichnahm wurde in ein Boot gelegt, wie es Sitte bei den Jorohnen war. Ihre Hände umfassten ihr Schwert und sie war gehüllt in die Rüstung, in der sie gestorben war, und einen blauen Umhang, über ihre Brust lag die Flagge Madruks.
In ihrem dunklen Haar funkelten die grünen Chrysolithe der Krone und der Tod hatte ihr Lächeln nicht nehmen können. Ihre dunkle Haut funkelte und selbst jetzt konnte man die stolze Haltung ihres Kopfes erkennen. Arzayas Macht war ihr nicht genommen worden, sie wirkte so unnahbar und mächtig, so dass Tabita wusste, dass man sich noch in vielen Jahren Geschichten über Königin Arzaya, die Starke, erzählen würde und wie sie dem zerfallenen Reich der Jorohne seine Stärke wiedergegeben hatte. Man hatte sie an dem Boot festgebunden, das nun durchlöchert wurde. Dann wurde die Königin hinab gelassen und die Matrosen nahmen Abschied. Stumm beobachtete Kayra wie sich das Boot mit Wasser füllte und das Gesicht der Königin im Wasser verschwand. Die Jorohne erzählten sich, dass ihre Toten sich in Nixen verwandelten, um über die Meere zu herrschen.
Doch dies war nun nicht wichtig, denn über Madruk würde sie nie wieder herrschen. Tabita wandte sich um und ging zu dem Ort, wo die zweite Person lag, die sie heute verloren hatten. Sjavkonhkar lag so da, wie sie ihn verlassen hatte. Die Pfeile ragten immer noch aus seiner Brust und der Sand war immer noch da. Wieso? Sie verstand es nicht. Sie wollte nicht mehr kämpfen, wenn sie in einer Schlacht schon zwei Freunde verloren hatte, wie viele sollten sie dann in denen verlieren, die noch folgen würden?
Moment mal. Sie runzelte die Stirn, denn etwas passte zu dieser Situation überhaupt nicht. Tabita hatte bisher keine Sphinxe sterben sehen, doch sie hatte genug Bücher gelesen, um zu wissen, dass etwas überhaupt nicht stimmte. Wenn Sjavkonhkar tot war, wieso hatte er sich dann nicht aufgelöst und die Welt in einen Sandsturm getaucht?
Schritte ertönten hinter ihr und Tabita erkannte ihren Bruder.
„Was ist mit ihm?“, fragte sie ihn, „Ich verstehe es nicht, eigentlich dürfte er nicht mehr sein.“.
„Hast du noch nie einen Sphinx sterben sehen?“, fragte Joshua und beugte sich über den Sphinx.
„Fühl.“, meinte er und gab ihr Sand, der aus Sjavkonhkars Wunden ausgetreten war.
„Er ist feucht.“, erkannte sie.
„Ja.“, erwiderte Joshua, „Und das bedeutet, dass er lebt. Wäre es reines Wasser oder trockener Sand gewesen, dann hätte er sich aufgelöst. Stell dir vor, dass in dem Körper eines Sphinxes zwei Kreisläufe sind. Einer besteht aus Wasser, der andere aus Sand. Diese beiden wollen sich ständig ausgleichen, wenn aber ein Kreislauf verletzt wird, wird es schwieriger das auszugleichen. Wenn die Wunde zu schlimm ist, dann schaffen sie es nicht mehr und der Körper des Sphinxes löst sich auf. Sind aber beide Kreisläufe beschädigt, fährt sich der Körper in einen Ruhestand, um Kräfte zu sammeln, das auszugleichen. Sjavkonhkar befindet sich in diesem Ruhestand und wird mehre Tage, vielleicht sogar Wochen oder Monate schlafen, doch er hat eine Chance zu überleben.“.
Tabita fühlte Erleichterung ihren Körper wie ein Strom frischen Wassers. Sjavkonhkar lebte. Sie musste nicht ein weiteres Mal trauern.
Yarill trauerte. Als Queron mit den Resten der Soldaten durch die Straßen ritt, erkannte er die Trauer überall. Die Menschen trugen ein dunkles Blaugrau, für die Jorohne die Farbe der Trauer, die Farbe der Stürme. Die Flaggen wehten auf Halbmast und überall erklangen die Trauerlieder. Schwermütige Melodien.
Die dunklen Wogen schließen sich.
Das Meer nimmt sich, was es einst gegeben.
Geh, Kind der Jorohne, geh, in Frieden.
Führe dein Schiff gen Horizont,
finde Frieden.
Wellen brechen sich an den Klippen,
sie kommen und gehen ewiglich,
doch Leben vergeht.
Wir vergessen dich nicht,
geh in Frieden, Kind der Jorohne.
Tapferer Kriege nimm die Siege,
die sich vor dir erstrecken.
Neue Welten, erkunde sie mit dem Wissen,
wessen Volkes du bist.
Geh in Frieden und finde Frieden.
In den Tiefen des Meeres,
wirst du ruhen
und wir werden uns deiner erinnern.
Werde Teil der Wellen,
doch vergesse dein Volk nicht.
Schulter Speer und Schild,
geh in Frieden, Kind der Jorohne.
Queron selbst konnte und wollte es nicht begreifen. Königin Arzaya war tot, sie würde nicht wieder auftauchen, so wie vor fünfzehn Jahren, wo ihr Schiff verschollen gewesen war. Nein. Dieses Mal war sie endgültig tot. Die Krieger der Zaréas Zorn hatten ihr den letzten Dienst erwiesen und sie hatte ihr Grab in den Tiefen des Meeres gefunden mit den vielen Hunderten, die in der Schlacht gefallen waren. Fünfundneunzig Schiffe hatten sie insgesamt in der Schlacht verloren, wobei dreißig gesunken und fünfundsechzig mithilfe der Corvus gekapert worden waren.
Der Rest der Schiffe war größtenteils intakt und konnte durchaus kämpfen, doch wer sollte sie führen? Die Königin war tot, gefallen und das brachte ein gewaltiges Problem mit sich. Das Volk brauchte einen starken Herrscher, um sich nicht selbst zu zerfleischen und Arzaya hatte keinen Erben hinterlassen. Das Kind, das sie getragen hatte, war mit ihr gestorben und sie war das Einzige noch lebende Kind von Zoron, dem Vierten, gewesen. Quzon und Kirron, seine beiden Bastarde waren tot.
Es blieben als Verwandte Kirrons Tochter Kayra, Königin von Ciyen, und ihre drei Kinder…und er selbst. Er war Quzons Sohn und die Jorohne würden nie einen Elben als Herrscher akzeptieren, ihm dagegen würden sie vielleicht folgen. Queron dachte an seine Frau und seine beiden Söhne. Wie würde es ihnen damit ergehen? Und das Volk? Ob sie es wollten oder nicht, sie standen immer noch im Krieg.
Queron sah zu Tabita und Joshua, die neben ihm ritten. Sie erwarteten, dass sein Volk ihren Eltern helfen würde. Nur deshalb waren sie noch hier.
Er starrte in die Gesichter der Menschen. Frauen, auf deren Wangen Tränen schimmerten und die ihre Köpfe doch so stolz erhoben hatten. Männer, die im ohnmächtigen Zorn ihre Waffen umklammerten, auch sie weinten und ihre Augen brannten vor Hass. Sie wollten kämpfen. Selbst in den Augen der Kinder loderte es. Sie alle wollten ihre Königin rächen und wenn sie niemand führen würde, dann würden sie es dennoch tun. Queron spürte den Sturm um sich herum, die Flammensäulen, die sich jeden Moment zu einem tosenden Inferno entwickeln konnten.
Er hielt sein Pferd an und ließ seinen Blick über die Menge schweifen.
„Volk von Madruk. Meine Brüder und Schwestern.“. Er hob die Stimme und sah die Menschen an. Der Hass in ihren Augen störte ihn nicht, denn er brannte auch in den seinen.
„Die Königin ist tot. Doch dies ändert nichts daran, dass wird das Volk der Jorohne sind. Wir sind ein Volk von Kriegern und Eroberern. Wir können den Tod der Königin nicht ändern, aber wir können Arzayas Andenken ehren. Wir können ihr Andenken ehren, indem wir uns an denen rächen, die sie uns genommen haben. Sie werden das Gleiche bezahlen, das wir bezahlt haben. Mag es sein, dass die Elben nicht unsere Freunde sind, doch die Sebetjh sind schlimmer. Volk der Jorohne!“. Queron sah sie an, all die Menschen, all die Jorohne. Sie gehörten zu seinem Volk. Stolz wallte in ihm auf. Dies waren seine Brüder und Schwestern, sein Volk.
„Wir haben ihr Land nicht angegriffen, keiner unser Brüder hat das Schiff begleitet, das den Frieden wahren sollte und stattdessen den Krieg brachte. Doch wir leiden darunter, es ist unser Land, in dem die Armee der Sebetjh marschiert. Und lassen wir uns das gefallen, von den Mördern unser Königin?“.
„Nein!“, schrie die Menge und Waffen erhoben sich in den Himmel. Frauen und Männer reckten die Fäuste und schrieen ihren Zorn heraus.
„Ich sage euch, wir werden kämpfen! Kämpfen, um unser Königin und unseres Landes wegen. Wir kämpfen!“.
„Tod den Sebetjh!“.
„Wir kämpfen!“.
Queron betrachtete die Menge der tosenden Jorohnen und als er zwischen sie trat, machten sie ihm Platz und er schritt durch sie hindurch. Bereitwillig nahmen sie ihn auf, denn er war einer von ihnen.
Und sie folgten ihm. Sie folgten ihm aus der Stadt, eine gewaltige Menge von Männern und Frauen, die bereit waren zu kämpfen und zu sterben.
„Der Pass von Dura.“. Arlèn wendete ihren Hengst und warf einen Blick von der Nachhut des Heeres zu dem Einschnitt zwischen den Bergen, der sich wie ein Tor vor ihnen auftat. Hiermit übertraten sie die Grenze zu Madruk und damit war der Krieg unausweichlich. Der Großteil des Heeres hatte die Grenze schon überschritten. Arlèn hatte das Heer aufgeteilt und erst am Nurl würde es sich wieder vereinigen. Sie selbst befand sich bei der Nachhut, denn sie hatte gelernt, dass die Versorgungslinien noch wichtiger waren als ein gewaltiges Heer.
„Das nennt man eine Festung.“. Kayra pfiff leise durch die Zähne. Der Pass von Dura war geschützt durch eine gewaltige schwarze Mauer mit noch größeren Toren. Es war ein enger Durchgang, doch das Norin war hoch und es gab nur wenige Pässe, die leichter zu durchqueren waren, als der von Dura. Schon von hier konnte sie das Wasser rauschen hören, das durch den Fluss Nurl verursacht wurde. Denn hier war auch die einzige Brücke, die in vielen Meilen über den Fluss führte. Auf beiden Seiten des Flusses befand sich eine Mauer, die von einer Seite des Gebirges zur anderen reichte. Arlèn legte den Kopf in den Nacken und starrte die Burg an, die sich über ihr an die Berggipfel drückte. Selbst wenn die Mauern eingenommen werden würden, müssten neue Brücken gebaut werden und das unter Beschuss von der Burg, war nicht besonders nett.
„Solche Festungen brauchen wir auch. Leicht zu verteidigen und nur sehr schwer und mit vielen Opfern einzunehmen. Diesen Pass müssen wir auf jeden Fall halten. Ich werde vierhundert Mann zurücklassen, wenn sich der Markgraf von Dura einverstanden erklärt.“, erklärte Arlèn. „Er ist Arzaya treu ergeben und seine Tochter ist mit Arzayas obersten Befehlshaber Queron verheiratet.“.
„Bei solch einem strategisch günstigen Ort kann ein untreuer Mann, der Tod für sein Reich sein.“, stimmte König Josia ihnen zu.
„Gibt es Neuigkeiten von Arzaya?“, fragte Kayra.
„Meine letzte Nachricht besagte nur, dass die Flotte in See sticht.“, verneinte Arlèn die Frage und lenkte ihr Pferd über den steinigen Boden durch das schwarze Tor.
Der Markgraf von Dura erwartete sie. Er war ein Mann mittleren Alters, dessen dunkles Haar die ersten grauen Strähnen trug. Er war einen Kopf kleiner als Arlèn und damit groß für einen Jorohn, aber mindestens doppelt so breit. Ein Schrank von einem Mann, dessen Mundwinkel von Lachwinkeln verziert wurden.
Arlèn saß von ihrem Pferd ab und begrüßte ihn.
„Ich brauche diesen Ort als Rückzugsweg.“, erklärte sie ihm unverblümt.
„Das ist mir bewusst.“, erwiderte er und seine Augen funkelten in einem verwirrenden Grau.
„Wem gelten Eure Loyalitäten?“.
Als Antwort wies er die Mauer hinauf. Sie stiegen die Zinnen hoch und er deutete über das Land. Die engen Bergpässe, in der Ferne erstreckten sich ein glitzernder Fluss und dunkle Wälder.
„Dies ist euer Land. Wie viel würdet Ihr für es geben?“.
„Alles.“, meinte Arlèn ohne Zögern.
„Dann habt Ihr Eure Antwort. Auf der anderen Seite liegt mein Land. Ich diene Königin Arzaya, doch wenn ich mich zwischen ihr und meinem Land entscheiden müsste, dann würde ich immer mein Land nehmen.“.
„Ich auch.“. Arlèn blickte erneut auf die verschneiten Bergpässe. Sie dachte an ihre Tochter und ihren Mann, die in Tyral Rorym verblieben waren. Ketylèn war noch so jung und hatte es verdient, ein Leben in Frieden führen zu dürfen. Sie hatte gebettelt mitkommen zu dürfen, ihr ihren Bogen hingehalten und gezeigt wie gut sie schon schießen konnte. Als Arlèn es ihr immer wieder verneint hatte, hatte sie geschrieen und geschimpft, sich an ihr festgeklammert. Am Morgen des Abschieds war sie jedoch zu ihr gekommen.
„Du kommst doch zurück, Mama, oder?“, hatte sie gefragt und sie mit ihren grauen Augen angesehen.
„Ja.“, hatte sie versprochen.
Doch sie wusste es nicht. Würde sie zurückkehren? Der Pfad ihrer Zukunft lag verborgen und sie konnte nur den Krieg sehen, der ihr bevorstand.
Der Markgraf drückte kurz ihre Hand.
„Ich habe auch Kinder.“, meinte er leise.
„Dieser Ort wird frei für Euch und Euer Heer sein, Arlèn. Verteidigt und befreit mein Land.“.
Arlèn nickte. Das würde sie tun.