Naichie starrte fassungslos die Nachricht an, die ihm der Bote grade überbracht hatte. Jetzt wusste er, wo die Jorohne waren – und es gefiel ihm ganz und gar nicht. Er legte einen Mantel um, griff nach seinem Schwert, warf einen letzten Blick auf sein Bett, um den Gedanken zu verfluchen, dass er diese Nacht doch keinen Schlaf finden würde und verließ sein Zelt.
Über ihnen hing der Mond als eine große, rote Kugel und im Osten ging die Sonne über den Wäldern auf. Der Tag brach an und mit ihm eine Schlacht, die nicht geschlagen werden durfte, wenn diese Zeilen der Wahrheit entsprachen. Im Gehen befestigte Naichie sein Schwert und hastete eilig weiter. Die Soldaten wichen ihm aus und musterten ihn besorgt. Sie sahen ihm an, dass er schlechte Nachrichten bei sich trug. Doch diese waren zu wichtig, als dass er Rücksicht auf die Moral seiner Männer nehmen könnte.
Endlich erreichte er Nian, die sich auf den Klippen über dem Fluss Alisos im Lichte von Kerzen und dem Mondschein über einige Karten beugte.
„Wir müssen reden.“, erklärte er knapp.
Ungeduldig wartete auf Nians Reaktion, doch sie las ihre Unterlagen in Ruhe zu Ende und würdigte ihn keines Blickes. Verdammt! Musste sie ausgerechnet jetzt zeigen, dass sie die Mächtigere war und ihre Rolle als Kaiserin offenbaren? Verstand sie denn nicht, wie wichtig es war und das jede Minute das Leben von Männern retten konnte? Doch sie genoss es, ihn zappeln zu lassen und ihm die Rolle des Bettlern zuzuweisen.
Endlich meinte sie: „Ich hatte Anweisung erteilt, nicht gestört zu werden und das gilt auch für dich, Naichie.“. Er erkannte diese Frau nicht mehr. Dies war nicht mehr die lebhafte und begeisterte Generalstabschefin, als die er sie kennen gelernt hatte. Sie genoss ihre Macht und vergaß, weshalb ihr diese gegeben worden war.
„Es ist wichtig.“. Er war sicher, dass sie den Zorn in seiner Stimme wahrnahm, doch sie unternahm nichts, um ihn zu beschwichtigen.
„Selbst wichtige Dinge haben zu warten, wenn die Kaiserin es befiehlt.“. Gelassen sah sie ihn mit diesen kalten Augen an. Wohin war die Wärme in ihnen entschwunden?
„Nian.“, knurrte er und schlug mit der Faust auf den Tisch, so dass Papiere hochflogen und vom Wind davon getragen wurden.
„Touargchie!“. Jetzt glühte auch in ihren Augen der Zorn. „Für dich bin ich immer noch Kaiserin Touargchie.“.
„Weißt du, was ich sehe?“, fragte er leise und in seinen Augen schwammen die Tränen, „Ich sehe die junge Frau, die mit mir in einem Zelt stand. Damals hast du mir erklärt, warum du gegen Ciyen in den Krieg ziehen wolltest und du hast mit mir über Demokratie gesprochen. Du hast mich gefragt, was ich verändern würde. Du hast mir den Bogen gezeigt und ich habe eine großartige Feldherrin mit einem Herz für ihr Volk gesehen, die die Chance hat, unsere Welt zum Besseren zu verändern. Aber wenn ich mich jetzt umsehe, frage ich mich, ob ich damals den Dolch hätte ziehen sollen und so diese Zukunft verhindert hätte.“.
„Du hast einen Eid auf mich geschworen – bedingungslose Treue.“. Und in diesem Moment, wo er sie so sah, wusste er, dass sein Volk verloren war. Sie konnten diesen Krieg nicht gewinnen, nicht mit Nian an der Spitze. Nicht mit einer Kaiserin, die allen misstraute und jeglichen Rat ablehnte, nicht mit einer Befehlshaberin, die keinen Schritt zurück weichen würde und keinen einzigen Fehler eingestehen würde.
Er senkte die Stimme, so dass nur sie ihn hörte.
„Ich habe meinen Schwur auf eine gerechte Kaiserin geleistet.“. Als er diese Worte sagte, zersprang sein Herz. All diese Ideale und all die Hoffnung, die er in Nian gesetzt hatte und mit ihr verbunden hatte, waren sinnlos, weil sie ihre Sache verraten hatte.
„Du bist mir verpflichtet und wenn du dich von mir abwendest, wirst du hingerichtet werden wie jeder andere Verräter auch.“.
„Sieh dich um.“. Er deutete auf das Heer, die Männer, die sich um ein Stück Trockenfleisch stritten, andere, die still in Schmutz und Tierkot dalagen. Er reichte ihr den Brief, den er erhalten hatte.
„Wenn wir eine Chance haben wollen, müssen wir zurück. Wir sind umringt von Feinden, Nian. Die Sphinxe marschieren aus dem Süden auf uns zu, die Hersor aus dem Westen, die Zwerge aus dem Norden und die Jorohne sammeln sich, um unsere Flotte zu vernichten. Und unser Nachschub hängt bei Tiron fest. Es ist vorbei, Nian. “.
„Was redest du da?“. Sie zerriss das Papier in Fetzen. „Der Sieg liegt vor uns, hier auf diesem Schlachtfeld. Die Elben halten uns den Kopf hin und alles was wir tun müssen, ist es den letzten Schwerthieb auszuführen.“.
Sah sie es nicht? Ihr kraftloses Heer, die Feinde, die sie umringten? War sie tatsächlich so verblendet, dass sie nicht sah, dass sie den Weg des Todes eingeschlagen hatte?
„Was nützt uns eine gewonnene Schlacht, wenn es keinen Rückweg gibt. Es macht keinen Sinn, wenn die Flotte vernichtet ist.“.
Gleichmütig sah sie ihn an. „Wir haben sie besiegt und restlos vernichtet. Es gibt kein jorohnisches Heer. Dies sind Lügen der Elben, um unseren Kampfesmut zu brechen.“.
„Nian!“. Jetzt schrie er all seinen Zorn und seine Enttäuschung heraus. „Dieses vernichtet Heer ist grade dabei gegen unsere Flotte in die Schlacht zu ziehen! Und diese Elben sind eines der besten Heere der bekannten Welt! Sie haben es nicht nötig unseren Kampfesmut durch Lügen zu schwächen, sie schwächen ihn alleine durch ihre Anwesenheit!“.
„Und doch konnte ich sie in eine Falle locken, wo sie doch ein so geniales Heer sind.“, entgegnete die Kaiserin spöttisch.
„Und dennoch haben sie diese Schlacht gewonnen!“. Wütend starrte er sie an.
„Unsinn.“, winkte sie ab, „Unter meinem Kommando habt ihr jede Schlacht gewonnen.“.
Fassungslos sah er sie an. Hatte sie die Toten vergessen, die halbverwest auf dem Schlachtfeld lagen? Die abgetrennten Glieder, die Todesschreie und das Blut, die Maden, die sich in die Leichen fraßen und die Krähen, die sie sich einverleibten, ehemalige Freunde und Bekannte, Menschen ihres Volkes?
„Es reicht.“, schnaubte er. „Ich werde das Kommando über das Heer übernehmen und es zu den Schiffen führen.“.
„Du willst was?!“, kreischte sie und nur seiner Erfahrung und seinen schnellen Reflexen war es zu verdanken, dass er jetzt noch lebte.
„So läuft der Hase also.“, knurrte er und legte die Hand auf seinen eigenen Schwertknauf. Doch sie war zu schnell für ihn, mit wahnwitziger Geschwindigkeit durchschnitt ihre Klinge die Luft und alles was ihm blieb, war auszuweichen. Endlich gelang es ihm, seine eigene Waffe zu ziehen und ihren Schlag zu erwidern. Die Klingen kreuzten sich und Naichie sah in das Gesicht der Frau, die er einst so bewundert hatte und derentwegen er seine Kaiserin und seinen Prinzen verraten hatte. Er schluckte. Acheving. Wo er wohl war? Wenn der Prinz eine Frau gewesen wäre, hätte Naichie das Kaiserhaus wohl nie verraten, denn er hätte gewusst, dass das Schicksal seines Volkes in den richtigen Händen lag. Der eingebildete Prinz hatte sich zu einem akzeptablem und guten Herrscher gewandelt.
Die Zeit schien stockend zu vergehen, während die Klingen der einstigen Vertrauten sich kreuzten und offenbarten, dass sie nun endgültig Feinde waren.
Naichie löste sich, trat zurück und parierte ihren Schlag. Es war ein wilder Tanz der Klingen, ein Tanz von Blut und Tod. Nian beherrschte wie so viele Dinge die Arbeit mit dem Schwert meisterhaft und sie war voller Energie. Auch Naichie war in seinen frühen Jahren ein berüchtigter Fechter gewesen, doch mit vierundsechzig Jahren bewegte man sich nicht mehr ganz so flink wie mit sechzehn und er hatte die letzte Nacht auch nicht wenig getrunken.
Er wusste wie schlecht seine Deckung war und versuchte sie mit Angriffen wettzumachen. Dutzende von Schlägen hagelten auf Nian nieder, doch sie war mal hier und mal dort, bewegte sich wie eine Schlange und parierte jegliche Flinte, die er sich ausdachte. Mit ihren blitzschnellen Vorrücken und ihren ebenso schnellen Rückzügen durchbrach sie immer wieder seine Deckung, während er sie nicht traf. Und dann geschah das, was geschehen musste. Ihre Klinge bohrte sich in seinen Oberkörper und Schwindel erfasste ihn. Er fiel und mit ihm fiel die Hoffnung seines Volkes.
„So habe ich es mir nicht vorgestellt.“, krächzte er und sah Nian an.
„Was – Sterben? Sei zufrieden. Es ist ein besserer Tod als ihn ein Verräter verdient hat.“.
„Ich wollte immer im Kreise meiner…“.
Er brach ab.
„Deiner Familie?“, höhnte sie, „Verräter haben keine Familie.“.
Seine Familie. Naichie dachte an seine Frau, die er wie keine andere Person auf dieser Welt geliebt hatte. An seine Kinder, von denen nur drei das Erwachsenenalter erreicht hatte. Seine Tochter war bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben und seine Söhne hatten den Tod auf dem Schlachtfeld gefunden, so wie er. Nur, dass sie ihn durch die Klinge eines Feindes erlitten hatten und nicht wie er durch eine einstige Freundin.
Er richtete sich auf und krümmte sich vor Schmerzen. Er spürte ihre Augen auf sich ruhen, doch sie würde nicht den Gefallen bekommen, ihn um Gnade winseln zu hören. Seine Hand schloss sich um den Dolch, den er in den Falten seines Umhangs verborgen hatte. Er stürzte vorwärts und richtete mit dem Mut der Verzweiflung den Dolch auf sie. Er spürte, sah und hörte ihr Lachen. Dieses grässliche Lachen, das ihn nur noch umso mehr an das erinnerte, was er verloren hatte, die Träume, die jetzt nie mehr in Erfüllung gegen würden.
Sie wich ihm einfach aus und er flog über ihr ausgestrecktes Bein hinweg – und über die Klippe. Mit letzter Kraft klammerte er sich an einen Felsvorsprung und versuchte sich hochzuziehen. Das Blut rann aus seiner Brust und tränkte seine Kleidung. Und über ihm stand Nian mit ihrem Lächeln und richtete ihren Dolch auf seine Finger, die seine einzige Verbindung zum Leben waren. Dann durchzuckte ein Schmerz seinen Körper, er ließ den Felsvorsprung reflexartig los und alles was blieb war Finsternis.
Acheving hatte festgestellt, dass die Elben Honig liebten. Nicht nur, dass sie dieses schrecklich süße Getränk verehrten, das sie Met nannten (es war fast unmöglich gewesen Wein aus Trauben zu erhalten und von Reiswein hatten sie noch nie etwas gehört), zu jeder Mahlzeit wurde eine Schale mit Honig gereicht.
Auch jetzt starrte Acheving sein Essen an. Getreidefladen gebacken in Honig, kleine gekochte Fleischklößchen mit einem Teigmantel, die in Honig getunkt wurden, frisches Obst und in Honig geröstete Mandeln und Pistazien. Er hatte ebenfalls bemerkt, dass die Elben kaum Fleisch aßen, sondern viel mit Getreide arbeiteten. Sie waren tatsächlich ein seltsames Volk. Kaum hatte Acheving geglaubt, sie verstanden zu haben und ihre Sprache einigermaßen verstehen zu können, hatte er gemerkt, dass es ein weiteres elbisches Volk gab, das sich in Sprache und Kultur noch mal komplett von den anderen beiden unterschied. Doch eins wusste er sicher: Die Elben waren keinesfalls so schlimm wie es die alten Geschichten berichteten. Sie hatten wie jeder andere ihre Stärken und Schwächen, doch sie behandelten ihn deutlich angenehmer als Nian es getan hatte. Zum einen war seine „Zelle“ ein komfortabel eingerichtetes Zelt und zum anderen durfte er es – wenn auch nur in Begleitung von Wachen – verlassen und das Lager erkunden. Dennoch machte er sich nicht viel Hoffnung, fliehen zu können. Die Wachwechsel waren komplex, verwirrend und scheinbar ohne Ordnung und dennoch blieb in diesem Lager nichts unbemerkt. Eine Flucht wäre sinnlos und außerdem wohin sollte er? Hier war er sicher, während sein eigenes Volk ihn töten würde.
Er hatte freundliche Wachen, die ihm von einstigen Königen und Kriegen erzählten. Von der Ankunft der Elben in Ciyen zum Krieg des namenlosen Grauens und der Besetzung durch die Jorohne bis zum Krieg vor dreißig Jahren bei dem das jetzige Königspaar – Joshuas Eltern – die Herrschaft übernommen hatten. Er war ihnen noch nie begegnet, nur aus der Ferne gesehen, aber Joshua hatte ihn mehrmals besucht und er hatte erfahren, dass er noch einen älteren Bruder hatte. Doch so viel er auch über die Familie des Königshauses und die Geschichte der Elben erfuhr, über die aktuelle Situation schwiegen sie. Er wusste weder, wo sie sich befanden, noch wer die letzte Schlacht gewonnen hatte, er wusste noch nicht einmal, wie viele Schlachten es nach der Seeschlacht gegeben hatte.
Jemand trat ein und Acheving sah auf.
Joshua schloss die Zeltplane wieder und setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl. Acheving kannte den Prinzen in der Zwischenzeit gut genug, um zu erkennen, dass es wichtig war.
„Ich – wir brauchen dich.“.
Er starrte Acheving an, doch dieser erwiderte nichts, sondern wartete auf nähere Erläuterungen.
„Du musst Nian überzeugen, diesen Krieg zu beenden.“.
Acheving schluckte. Das letzte Mal, wo er Nian gesehen hatte, war keine angenehme Erinnerung: Es war der Weg zu seiner Hinrichtung gewesen.
„Sie ist niemand, der einfach so aufgibt.“, erklärte er mit heiserer Stimme.
„Das glaube ich dir, aber wenn sie ein so genialer Befehlshaber ist, wie es behauptet wird, dann wird sie so vernünftig sein und diesen Krieg beenden. Ich weiß ja nicht, wie viel du weißt, aber für dein Volk sieht es nicht gut aus.“.
Er breitete eine Karte Anthars aus und deutete auf einen Punkt im Osten Madruks.
„Wir sind hier bei Faszon. Nian ist weiter unten im Tal, während wir die Hügel halten.“. Er warf einen Blick auf Acheving und meinte leise: „Mir ist bewusst, dass du all diese Informationen an Nian weitergeben kannst, doch ich glaube, dass du vernünftig bist und das Beste für dein Volk willst. Deshalb. Die Sphinxe haben hier eine Schlacht verloren und befinden sich jetzt hier.“. Er deutete auf einen Punkt und Acheving zischte leise. Das war durchaus nicht gut. Ein Tagesmarsch für ein Heer, mehr nicht. Das war nicht viel.
„Die Jorohne haben ihre Flotte versammelt und greifen eure an.“.
Acheving wurde noch blasser. Ohne Flotte war sein Volk verloren.
Joshua dagegen fuhr unbarmherzig fort: „Die Hersor haben die Westgrenze erreicht und werden dieses Tal voraussichtlich in sieben bis acht Tagen erreicht haben, die fliegenden Truppen früher – in höchstens drei Tagen. Die Zwerge werden in zweieinhalb Wochen da sein. Ihr seid umringt, Acheving und ihr habt weder Vorräte noch Nachschub an Männern. Alles was jetzt noch geschieht, wäre sinnloses Blutvergießen und alles worum ich dich bitte, ist es dieses zu verhindern, indem du Nian überzeugst, sich zu ergeben.“.
Er war sich bei den ganzen Erläuterungen nicht sicher, ob sein Volk jetzt verlieren würde, denn Nian hatte sich schon aus ganz ähnlichen Situationen herausgewunden, doch von der Nian, die er gekannt hatte, hatte er auch nicht geglaubt, dass sie ihn verraten würde.
Doch es blieb immer noch Naichie. Acheving erinnerte sich an eine Situation, wo sie Krieg gegen die Gandijol geführt hatte. Das kaiserliche Heer hatte eine entsetzliche Niederlage erlitten und Naichie war der einzige General gewesen, der es geschafft hatte, seinen Trupp sicher nach Hause zu geleiten. Als er von den Gandijol umzingelt war, hatte er einfach behauptet, dass es einen Waffenstillstand gegeben hatte – und die Gandijol hatten ihm geglaubt. Der alte General würde sicherlich einen Weg finden, sein Volk sicher in die Heimat zu geleiten - auch durch eine Niederlage.
„Einverstanden. Ich werde es versuchen.“.
„Gut.“. Joshua lächelte, „Ich möchte, dass du noch etwas für mich erledigst.“. Er sah sich um und flüsterte dann einen Vorschlag in Achevings Ohr. Und damit war er vollkommen zufrieden.
„Ich sehe nur ein Problem.“. Acheving runzelte die Stirn. „Wie soll ich in ein Lager von Menschen gelangen, die mich ohne weiteres töten würden.“.
„Ah.“. Joshua schnipste mit den Fingern, „Jetzt habe ich diesen Punkt doch tatsächlich vergessen. Jedenfalls müssen wir dafür zu meiner Schwägerin.“.
Acheving hatte Arlèn bisher nur aus der Ferne gesehen, doch er war schon da von ihr beeindruckt gewesen. Anfangs erinnerte sie ihn an Nian, doch später nicht mehr. Die Elbe war geduldiger, ruhiger, abwägender und nicht so aufbrausend wie Nian es manchmal sein konnte, doch sie war auch unnahbarer und argwöhnischer.
Die Oberbefehlshaberin trug ein Kettenhemd und darunter die elbische Uniform, auf ihrem Schreibtisch lag ein Spangenhelm und griffbereit lag ein Kurzschwert, ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen. Mit ihren grauen Augen musterte sie Acheving lange, ehe sie meinte: „Wir haben diesen Krieg nicht gewollt und wir wünschen uns alle eine friedliche Lösung.“.
Einen Moment dachte Acheving daran, wie ungewöhnlich sie waren. Welcher Heerführer würde seinen Gegner nicht komplett zerschlagen würden, anstatt ihm einen Frieden anzubieten, obwohl er der Überlegende war?
„Wir haben schon mehrere Boten zu ihr geschickt, aber sie kamen nicht zurück. Du wirst nun als Botschafter dorthin geschickt und wir hoffen, dass Nian auf dich hört.“.
Hoffen nicht wissen. Und Acheving wusste es auch nicht. Es war gefährlich, dass war ihm bewusst. Für sie war er immer noch eine Gefahr für ihren Thron und so lange er lebte würde er es bleiben. Doch ein wenig hoffte er darauf, dass sie sich auf die alten Zeiten besinnen würde. Die Zeiten, in denen sie ebenbürtige Freunde gewesen waren.
„Ich werde es tun.“.
„Gut.“. Arlèn lächelte zufrieden, „Ich werde dich mithilfe meiner Gabe vor den Augen der Wachen verbergen. Wenn du Nian erreicht hast, sage das Wort: Cirill . Wenn du das Lager verlassen willst, spreche: Lôr. Ich werde deinen Ruf vernehmen und meine Gabe einsetzen. Cirill und Lôr wiederholte er die Worte leise.
Dann nickte Arlèn ihnen zu und sie verließen das Zelt, als wäre nie etwas geschehen. Drei Männer, die Acheving für Generäle hielt, sagten etwas auf schnellem elbisch zu Joshua, dann verschwanden sie im Inneren des Zeltes.
„Ihr seid seltsam.“, teilte Acheving seine Gedanken mit ihm, „Warum wollt ihr nicht die Vernichtung des Heeres und riskiert, dass dieses Heer euch immer wieder angreifen könnte?“.
„Weil wir gelernt haben, dass jedes Leben wertvoll und ein Geschenk ist.“, erwiderte dieser völlig ernst.
„Auch wenn sie das Schwert gegen euch erheben?“, fragte Acheving skeptisch.
„Was kann ein einzelner Krieger dafür? Er kämpft wegen seiner Befehle für Könige, die er noch nie in seinem Leben gesehen hat. Er kämpft, um seine Familie über den Winter zu bringen und weil er kämpfen muss, wenn er nicht als Verräter und Deserteur sterben will. Es ist nicht Recht, Menschen für Kriege zu töten, die sie nicht angezettelt haben und wenn man die Wahl hätte, Leben zu schonen, sollte man es immer tun.“.
„Von so einer Lehre habe ich noch nie gehört.“. Er runzelte die Stirn.
„Wir haben einen Gott der Liebe, der uns diesen Weg gelehrt hat. Wir nennen ihn schlicht „den Hüter““.
Götter! Acheving kannte viele Götter. Sein Volk verehrte ihre Ahnen wie Götter und die Gandijol opferten ihrem Meeresgott vor jeder Überfahrt und ihren Kriegsgott vor jedem Krieg. Die Wüstenstämme der Niyes verehrten die Wasser- und Fruchtbarkeitsgöttin, die Bergvölker beteten die Sonne an. Bisher hatte er noch bei keinem Volk gesehen hatte, dass es ihnen geholfen hatte.
Joshua schien seine Zweifel zu bemerken und blieb stehen.
„Der Hüter ist mehr als eine steinerne Figur, der man Opfer bringt. Er ist…wie eine Kraft. Eine Kraft, auf die wir Zugriff haben, die uns unterstützt und unser Wesen verändert. Uns wurde dieses Land von ihm zur Herrschaft anvertraut, damit wir es in seinem Willen regieren und das tun wir, Acheving. Das ist es, was wir tun und warum wir so sind, wie wir sind. Er lebt, er ist um uns herum, in allem was lebt und atmet und er ist ein König, der wirklich Einfluss auf unser Leben hat, wenn wir es denn zulassen. Denn ebenfalls hat er uns einen freien Willen gegeben, zu entscheiden, was wir wollen.“.
Acheving verstand. Er verstand und wusste, was er zu tun hatte und er ging, um diesen Krieg zu beenden.
Nian starrte die Klippen herunter, als erwartete sie, dass Naichie sich wie ein böser Albtraum zurück schlich. „Ich werde das Kommando über das Heer übernehmen.“, hatte er gesagt.
Verstand er denn nicht, dass nur sie dies tun konnte. Niemand sonst hatte die Fähigkeiten dazu, sie alle hätten, dass Heer in den Untergang gelenkt, allen voran Naichie. Sie sah erneut in den Abgrund, doch im Licht des Mondes schimmerte nur der Fluss dunkel. Er lachte. Sie stolperte zurück. Der Fluss lachte, er verhöhnte sie.
„Verflucht!“, schrie sie, „Ich habe gesiegt! Sei still!“. Sie ließ das Schwert fallen und fasste sich an den Kopf. Was waren das für Stimmen? Naichie der sagte: Ich habe meinen Eid auf eine gerechte Königin geschworen. Das Volk, das ihr nach ihrer Krönung zujubelte. Acheving mit dem sie lachend Pläne machte, die Rebellen zu besiegen. Sie als sie ihren Eid auf die Kaiserin leistete. Diong. Ihr Sohn. Erneut stolperte sie zurück. War sie nicht selbst eine Rebellin gewesen?
„Nein.“, keuchte sie. Sie hatte alles richtig gemacht. Sie hatte Anspruch auf den Thron, bestimmt hatte sie adeliges Blut in ihren Adern. Sie musste sofort ihre Männer beauftragen, Beweise zu sammeln. Und Naichie all ihre Fehler, die sie gemacht hatte, waren allein seine Schuld. Er hatte sie verblendet mit seinen falschen Worten. Schlange! Sie lächelte. Die Gefahr war gebannt, Naichie war tot und sie lebte. Doch wahrscheinlich hatte er die anderen Generäle ihres Stabes ebenfalls vergiften. Sicherlich, so musste es sein. Sie durfte keinem mehr trauen. Alle waren eine Gefahr für ihre Position, sie musste sie beseitigen und neue, treue Männer einsetzen.
Doch sie kamen wieder die Stimmen. Naichie, Acheving, Xeron, Diong, Dioargchie, sie alle. Sprachen mit ihren mahnenden Stimmen auf sie ein. Wollten sie überzeugen, dass sie sich zurückziehen sollte. Ha! Das war der Beweis. Sie hatten sich mit den Elben verbündet und die ganze Geschichte mit den Jorohnen war eine Falle, um ihr Heer zu vernichten. Aber sie würde nicht darauf hereinfallen! Sie war viel zu klug dafür. Nian lachte auf. Sie würde sie alle besiegen und auf all ihre Gräber spucken. Mal gucken. Dioargchie und Naichie waren erledigt. Sie musste einen Trupp zur Flotte schicken, um Sielied zu erledigen und gegen die anderen Generäle würden sich bestimmt auch irgendwelche Beweise finden lassen. Da blieben noch Acheving, der wirklich ein Problem war…und ihr Sohn.
Ihr Sohn! Wie hatte sie ihn vergessen können. Bestimmt hatte sich Xeron ebenfalls mit Naichie gegen sie verbündet hat, immerhin hatte sich Naichie etwas auffällig benommen, als er ihn zum Adjutanten genommen hatte. Eine Schlange, bestimmt eine Schlange wäre am einfachsten. Ein einfacher Unfall bei dem der Prinz zu Tode kam. Wieso nicht? Er war ein Verräter.
„Nian?“. Sie wirbelte herum und da stand er. Acheving.
Acheving betrachtete Nian. Sie hatte sich verändert. Ihre Augen lagen tiefer in den Höhlen und zeigten ein merkwürdiges Funkeln. Sie war dünner geworden und von ihrer Rüstung tropf das Blut. Was war geschehen? Dort lag ein umgestürzter Tisch und daneben ein Schwert. Ein Schwert, das er kannte. Naichies Schwert…
Sein Herz raste. Was war hier passiert? Er konnte keine Angreifer erkennen. War es eine Falle? Doch die Einzige, die zu sehen war, war Nian.
„Soll ich dich ebenfalls töten, wie Naichie?“. Wie irre geworden rannte sie auf ihn zu, dabei fuchtelte sie in der Luft herum, als ob sie ein Schwert trug, aber da war nichts…
Er griff nach ihren Handgelenken und hielt sie fest. Sie wehrte sich, trat und versuchte ihn zu beißen, doch er war kräftiger und stärker als die dünne Kaiserin.
„Hör mir zu, Nian.“, meinte er eindringlich und sah ihr ins Gesicht. „Dieser Krieg muss ein Ende haben. Es ist sinnlos weiter zu kämpfen. Die Elben bieten dir eine ehrenvolle Kapitulation an.“.
Sie lachte schallend.
„Kapitulation? Eine Falle sage ich dir. Wenn ich zu Verhandlungen komme, werden sie mich töten. Zu gefährlich geworden bin ich ihnen. Naichie hat mich auch verraten und sie was aus ihm geworden ist.“.
Sie deutete auf die Klippen und Acheving wurde übel.
„Aber ich bin zu schlau für euch alle. Ohne mich würden deine Elbenfreunde gewinnen, das weiß ich. Ich bin das Einzige, was zwischen ihnen und dem Sieg steht. Haben sie dich geschickt, um mich zu töten?“.
Sie kicherte. Entsetzt sah Acheving sie an. Wer war diese Frau vor ihm? Wer war das? Ein Nalinow, der ihre Gestalt angenommen hatte. Aber insgeheim wusste er, dass sie es war. Es klang immer noch nach ihr.
„Nian. Bitte, hör mir zu.“, flehte er. „Unser Volk muss nicht leiden.“.
„Unser Volk.“. Sie kicherte noch mehr, bis sich das Ganze zu einem Lachanfall steigerte und sie kaum noch Luft bekam.
„Du bist ein Verräter, Acheving. Lässt dich von den Elben hier her schicken. Ich sage dir, was man mit diesen blutrünstigen Kreaturen machen muss: Jeden Einzelnen von ihnen töten.“.
Joshua und eine blutrünstige Kreatur? Was war mit seiner einstigen Freundin geschehen?
„Du willst gar nicht wissen, wie Len geschrieen hat, als ihr die Eingeweiden herausgerissen wurden. Das Blut lief und ihre schrillen Schreie…Du hättest sie hören müssen und nachher. Glaub mir, sie sah gar nicht mehr so schön aus.“. Sie kicherte nochmals, doch Naichie presste sie auf den Boden und hielt ihr die Klinge an den Hals.
„Beleidige Len niemals.“, flüsterte er und seine Hand zitterte. Es wäre so einfach, dem Wahnsinn hier und jetzt ein Ende zu bereiten. Doch immer wenn er Nian ansah, sah er die Freundin und die Frau, die er begehrt hatte. Er sah sie lachen und ununterbrochen über Strategien und den Aufbau des Heeres reden. Tränen liefen ihm über die Wangen, aber er schämte sich ihrer nicht.
Dies war Nian. Nian. Leise flüsterte er ihren Namen. Warum war sie so zerstört? Er war sich sicher, dass sie nur das Beste im Sinn gehabt hatte, doch warum…Er schluckte. Nian. Diese gebrochenen Augen, ihr dunkles Haar, die Narben auf ihrer Wange.
Doch er konnte es nicht. Er konnte sie nicht töten. Seine Hand fand nicht die Kraft, den letzten Streich auszuführen. Eilig zog er sie zurück, als hätte er sich verbrannt. Er stand auf und lief davon, ohne einen Blick auf die Fremde zu werfen, die dort lag. Er kannte diese Frau nicht. Wer war sie? Er schluchzte leise. Wo war Nian, die Frau, die er geliebt hatte. Wo war sie? „Lôr.“, flüsterte er und verschwand, um sie zu vergessen und um die Frau zu trauern, die er verloren hatte.
Lächelnd rappelte Nian sich auf. Sie hatte gewonnen. Sie hatte Acheving geschlagen und besiegt. Er war geflohen vor ihr und ihren Worten. Jetzt galt es nur noch ihn zu töten und auszulöschen.
Sie hob ihr Schwert auf, dann tat sie das Gleiche mit dem von Naichie. Eine schön ausgewogene und einfache Klinge, sie war einer Kaiserin nicht würdig, außerdem stammte sie von einem Verräter. Sie zuckte mit den Achseln und warf Naichies Schwert hinter ihm her in den Fluss.
Dann ging sie lachend davon, denn sie hatte Acheving besiegt und die Täuschungen, die er ihr entgegen geschmissen hatte und heute würde sie ebenfalls seine Elbenfreunde besiegen.
Ihr Lächeln verschwand erst, als sie bemerkte, dass der Bogen fort war.
Es herrschte Aufregung in den beiden gegenüberliegenden Lagern. Truppen wurden aufgestellt, die letzten Klingen geschliffen, die letzten Gebete gesprochen. Boten überbrachten Nachrichten und Männer rannten hin und her.
Es war später Vormittag, doch das Heer der Sebetjh war erschöpft von dem Marsch und die letzten Truppen trafen erst jetzt ein und gingen in Aufstellung.
Es war ein beeindruckender Anblick, wenn man es so aus der Ferne betrachtete, dachte Naichie leise.
In der Ferne glänzten die grün-blau-silbernen Uniformen der Elben, die hervorragende Ziele abgaben. Doch sie besetzten die Hügelketten und Naichie wusste wie schwer es war, gegen Höhen anzurennen, während um einen herum die Pfeile flogen. Er erinnerte sich an die Schlacht am Dzengin. Damals hatten sie nur gegen die Aweynche gewonnen, weil diese mit ihrer Kavallerie immer wieder gegen die Stellungen auf Hügeln angestürmt waren, bis ihr Heer vernichtet war. Es war ein grausamer Tag gewesen und noch heute hörte Naichie die schrillen Schreie der sterbenden Pferde und Menschen und er sah die Gesichter der Männer, die durch sein Schwert gefallen waren.
Jetzt war es kein Pferd, das über dem feindlichen Heer schwebte, sondern die mächtige Eiche mit dem Majon und dem im Boden steckenden Schwert auf blauem Grund. Und ihnen gegenüber stand ein Tiger auf grünem Grund, der seine Pranken zum Angriff erhob und seinen Spott herausbrüllte.