In diesem Moment, in dem die Stille zerbrach, schien es Tabita, als ob der Himmel weinte, um des verlorenen Frieden. Wolken hatten die Sonne verdeckt, doch jetzt öffneten sie sich und ein einziger Lichtstrahl traf die Gestalt der gefallenen Kaiserin und tauchte sie in ein warmes Licht. Dann fing es erneut an zu regnen, doch es war Schnee der fiel. Winzige, weiße Flocken, die in einem endlosen Sturm die Welt eroberten und das Blut verdeckten.
Diese Reise, ihre Reise, hatten an einem Wintertag mit einem Brief begonnen und nun würde sie im Schnee enden.
Tabita trat vorwärts, ein zögernder Schritt, langsam und ruhig. Und fast unbemerkt öffneten sich die Reihen vor ihr und die, an denen sie vorbei kam, hörten auf zu kämpfen. Denn sie sahen in ihr eine Königin der alten Zeit und wie einst Kayalèn, die den Frieden in ein von Bürgerkrieg zerrütteltes Land gebracht hatte, ging auch von ihr eine Welle des Friedens aus gegen die Hass nicht ankommen konnten. Und Tabita sah Ériyor neben sich gehen, obwohl die anderen ihn nicht erkennen konnten und sie wusste, dass er es war, der ihr die Kraft gab, es zu vollenden.
Überall wo sie war, kehrte die Stille wieder ein.
„Ich war es nicht, der den Pfeil lenkte und was für ein Interesse hätte mein Land daran, eure Kaiserin zu töten?! Frieden wird nicht durch Mord geschaffen, sondern Krieg ist erbaut auf Mord und Todschlag. Versteht ihr nicht? Es passiert dasselbe wie damals vor vierzigtausend Jahren. Zwei Völker werden aufeinander gehetzt, obwohl sie selbst kein Interesse daran hatten. Damals war er es der Diebstahl des Bogens, heute ist es die Ermordung euer Kaiserin. Es ist dasselbe Schema, derselbe Angriff, dasselbe Ziel. Ein Ziel, das nur zu weiteren Morden leitet. Ist es das, was ihr wollt? Damals entstand ein Krieg, der Jahrhunderte andauerte, bis die Elben vertrieben oder vernichtet waren, aber danach immer noch nicht zu Ende ging, sondern vierzigtausend Jahre Misstrauen und Hass auf Seiten beider Völker einleitete. Vierzigtausend Jahre ausgelöst durch einen Diebstahl. Ist es das, was ihr wollt? Weitere vierzigtausend Jahre, so kurz vor der Hoffnung auf Wiedergutmachung, ausgelöst durch einen Pfeil? Wollen wir darauf warten, dass in Jahrtausenden wieder einige Menschen vor der Frage stehen, worauf diese Feindschaft baute und dann feststellen, dass es ein Pfeil war, der das Leben von Millionen kostete?“.
Sie spürte die Blicke der Menschen, die sie anstarrten und die Antworten auf die Fragen, die sie sich jahrelang gestellt hatten, in greibarer Nähe lagen. Und sie sahen diese Frau, die da vor ihnen stand. Eine Frau gekleidet in einen blutbefleckten Harnisch, doch sie sahen mehr den Panzer der Hoffnung und der Frieden, der sie umgab.
„Ich weiß nicht, was damals wirklich geschah, doch was ich weiß, ist, dass es sich nicht wiederholen soll. Lass uns vergessen und gehen auf einen Pfad der Freiheit und Brüderlichkeit.“.
„Ich kann nicht vergessen, Tabita.“.
Diese Stimme hallte laut wie ihre eigene über das Schlachtfeld und sie erkannte sie wieder, auch wenn sie die Person noch nicht sah.
„Ohne die Möglichkeit des Vergessens kann es keinen Frieden geben.“, erklärte sie sanft.
„Doch mit Frieden werden auch die guten Dinge vergessen.“. Darl Schattenklinge trat hervor und ein Wirbel aus Schneeflocken umgab seine so schmerzlich vertraute Gestalt. Dies war ein Mann, dem sie vertraut hatte und dessen Verrat sie immer noch nicht überwunden hatte. Und dennoch stand er jetzt hier vor ihr und stellte sich gegen sie und den Frieden. Sie hatte geglaubt, ihn zu kennen, doch er hatte ihr nur ein einziges Mal sein Herz gezeigt und in diesem Moment verstand sie, worum, um wen es hier ging und warum sie auf diesem Schlachtfeld standen.
„Es war immer nur sie, du hast immer nur für sie gekämpft“.
Er stand jetzt direkt vor ihr, das blonde Haar klebte nass an seinem Schädel, der gewohnte Hut fehlte und der Spott in seinen Augen war verschwunden. Nun waren sie dunkel und der Schmerz, den er so lange hatte verbergen können, offensichtlich. Er war ein guter Schauspieler, dachte sie verbittert, denn er hatte sie alle getäuscht.
„Nerileni Karyndo“. Seine Stimme war weich und Tabita erkannte die Liebe darin, die in all den Jahren anscheinend nicht geschwunden war, doch sie hatte sich in Wahnsinn gewandelt. Der Wahnsinn der Rache.
„Es war ihrer.“. Es war eine Feststellung keine Frage. Sie deutete auf den Bogen, den er in der Hand trug. Der Bogen, mit dem es begonnen hatte, der Bogen, der Nian getötet hatte.
„Nein.“, meinte Schattenklinge, „Ich war der erste, der ihn trug. Dieser Bogen wurde gefertigt durch meine Hand und er war ein Geschenk, ein Geschenk an die Frau, der ich mein Herz schenkte. Ich bekam den Köcher.“.
„Sie wurde getötet.“.
„Ja. Ich war es, der den Krieg vor vierzigtausend Jahren auslöste. Damals wurde Jagd auf Nalinow gemacht, sie wurden als Unheilbringer verflucht. Nerileni Karyndo wurde getötet.“.
„Die Aweynche erzählen sich, dass Khesyaran Khan den Bogen dem König der Sebetjh als Zeichen des Friedens schenkten, der Frieden gebrochen wurde und sie ihn zurückforderten, ihn aber nicht erhielten und deswegen der Krieg ausbrach.
Mein Volk sagt dagegen, dass Kyoros, König der Elben, von den Sebetjh getötet wurde und sie aus Rache den Bogen stahlen, wodurch der Krieg ausbrach.
Was ist die Wahrheit?“. Denn in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass dieser Mann mit diesem alten Zorn im Herzen, der Einzige war, der die wahren Geschehnisse von damals kannte. Die Wahrheit. Doch wenn sie damals gewusst hätte, dass der Preis, sie zu erfahren, so hoch war, hätte sie es niemals gewagt, die Bibliotheken Marsinas nach Hinweisen zu durchsuchen.
„Wieso sollte ich sie erzählen?“. Für einen Moment blitzte der alte Spott hervor, aber es war nur Fassade. Die Wahrheit war voller Schmerz und Zorn. Er würde sie erzählen, ihr, allein um den Triumph der Rache zu vollenden.
„Die Wahrheit war, dass sie tot war. Nerileni Karyndo und beide Geschichten stimmen in dem Punkt überein, dass Khesyaran oder Kyoros König war. Sie sind dieselbe Person, der Held der Aweynche war ein Elb. Sie selbst erwickelten sich aus Halbelben, die zurückgelassen wurden, unter ihnen auch Kyoros Sohn, dessen Mutter eine Frau aus Niyes war, und dessen Blut bis heute durch die goldene Erblinie fließt. Er tötete Nerileni Karyndo und behielt den Bogen als Trophäe. Die Aweynche haben ebenfalls in dem Punkt Recht, dass er ihn den Sebetjh zum Geschenk machte, doch nicht als Zeichen des Friedens, sondern als Zeichen des gemeinsamen Sieges über das Volk der Nalinow, mein Volk. Wir waren ein friedliches Volk, aber wir waren anders, deshalb wurden wir Opfer eines Völkermordes. Ich beschloss sie zu rächen.“.
„Und stahlst den Bogen.“, stellte Tabita fest, „Und du hast ebenfalls Kyoros getötet?“.
„Ja.“, erklärte er schlicht, als ob die Wahrheit und mit ihr die Welt denn so einfach wäre. „Die Sebetjh dachten, dass die Elben den Bogen stahlen, während die Elben die Sebetjh beschuldigten, ihren König ermordet zu haben und der Krieg war da.“. Tabita war jetzt so nah heran, dass sie die Wolken seines Atems sehen konnte. Er wirkte so zufrieden.
„Hätte sie das gewollt? Gewollt das Millionen als Rache für sie sterben? Ist es fair?“.
„Erzähl mir nichts von Gerechtigkeit!“. Seine Stimme war ruhig, doch diese Ruhe war gefährlicher als jegliches Gebrüll. Schattenklinge war schon immer ein Mann der Stille geworden und hatte genau deswegen seinen Ruf erworben. Der lautlosen Angriffe aus dem Schatten wegen.
„Ist es fair, ein Leben für Tausende willst du fragen? Doch ich frage dich, ob es gerecht ist, ein Volk nieder zu meucheln, dass Frieden wollte?“.
„Nein. Es ist nicht gerecht, keins von beiden. Doch wir können daraus lernen und es in Zukunft besser machen.“.
„Nein, Tabita. Diese Welt ist nicht gerecht und sie wird es auch nie sein. Egal, was du sagst, es gilt nur: Der Stärkere gewinnt.“.
„Und wie kann es besser werden, wenn wir nicht verändern sondern vor dem ersten Schritt aufgeben?“.
„Es ändert nichts, Tabita. Hier wird es enden. Das Recht des Stärkeren. Lange haben wir es nicht zu nutzten gewusst, aber jetzt ergreifen wir es, um eine Welt zu schaffen, in der unser Volk Frieden findet. Und glaube mir, wir sind die Stärkeren.“.
„Wie viele sind es, Schattenklinge?“, fragte sie schwach.
„Wie viele?“. Er blickte sie an, „Genug um euch alle zu töten und die Rache zu vollenden. Elben und Sebetjh, Tabita. Gäbe es einen Platz der mehr geeigneter ist, euch zu vernichten?“.
„Der ganze Krieg wurde inszeniert, um die beiden Völker an einen Platz zu bringen?“.
Er lächelte, das Gesicht zu einer Grimasse erstarrt.
„Wir sind Meister des Schattens und Meister der Gedanken. Die normalen Fähigkeiten gehen nur dahin, mit anderen Nalinow mit Kraft der Gedanken zu kommunizieren und Gedanken zu lesen, aber ich habe meine Kraft so weit perfektioniert, Menschen zu beeinflussen. Schwache Menschen und Nian war im Laufe der Zeit schwach geworden. Sie hatte sich selbst so zerfressen, in den Versuchen ihr Gewissen mit Halbwahrheiten zu beruhigen, das es leicht war, sie zu beeinflussen. Sie war das Tor zum Ende.“.
„Du kannst nicht siegen.“.
„Wieso? Wer bist du, Tabita?“. Er lachte ein herablassendes Lachen
„Ich bin die Tochter des Königs und es genügt, dass ich vor dir stehe, Doeron Tiarev.“.
Er lächelte erneut und für einen Moment las sie Trauer in seinem Blick.
„Du bist klug.“. Waren es Tränen, die seine Wangen herabflossen oder nur der schmelzende Schnee?
Und dann begann er sich zu verwandeln. Das Blond des Haares färbte sich Braun, die Augen wurden dunkler. Doeron Tiarev war größer und kräftiger als Schattenklinge, dennoch blieb der Schatten des Vertrauten. Es war derselbe Blick und es waren dieselben Hände. Die langen Finger, von der Sonne gebräunt, die Fingernägel rissig, verbanden Schattenklinge und Doeron Tiarev. Auf eine gewisse Art und Weise war es derselbe Mensch und dennoch vollkommen unterschiedlich.
„Hör mir zu.“, bat sie flehend, „Es muss aufhören. Sie ist tot und wurde erneut geboren. Eines Tages wird wieder eine Nalinow ihren Baum als Wohnort wählen und sie wird eingehen in den Kreis der Nalinow. Sie ist fort und keine Rache dieser Welt kann daran etwas ändern.“.
Der Schnee knirschte unter ihren Füßen, als sie auf ihn zutrat. Es waren nur sie Beide, die hier standen, inmitten des Schneesturms. Alles um sie herum verblasste und beschränkte sich auf diesen Raum von wenigen Schrittlängen. Sie und Schattenklinge.
„Lass los. Lass sie ziehen und Frieden finden.“. Nun stand sie direkt vor ihm, sah in seine Augen und versuchte diesen Schmerz zu verstehen und zu besänftigen.
Sein Gesicht war ein einziger Ausdruck des Schmerzes, doch der Zorn war verschwunden und hatte eine Schicht aus Trauer freigelegt.
„Ich kann nicht vergessen.“. Der Zorn tauchte auf, plötzlich und scharf, verdeckte die Trauer wie der Schnee, eiskalt und undurchdringlich.
Es war nur eine einzige Bewegung, doch der Schmerz glühte auf, heiß und verzehrend, ein tödliches Feuer. Sein Dolch hatte ihren Harnisch mühelos durchbohrt, woran viele Schwerter gescheitert waren.
Sie presste die Hand auf ihre Seite und Blut tränkte den Schnee rot. Feuerzungen wüteten in ihrem Inneren, doch es war nicht vorbei. Sie suchte etwas um sich festzuhalten, doch da war nichts, nur der kalte Schnee. Fahrig glitt ihre Hand durch den Nebel, dann sackte sie zu Boden. Dennoch presste sie die Zähne zusammen und richtete sich auf.
„Weißt du, was du damals zu mir sagtest? Es ist eine Geschichte für friedliche Tage.“.
„Das war ein anderer Zusammenhang.“, entgegnete er.
„Nein. Wir sprechen beide von demselben Thema. Frieden. Wie willst du ihre Geschichte erzählen, wenn es keinen Frieden gibt. Wenn du alle Menschen tötest, die sich ihrer erinnern könntest.“.
„Du kennst sie nicht, wir sprechen von anderen Welten.“.
„Nein. Ich kenne sie nicht, doch wenn du ihre Geschichte nicht erzählst, wie soll ich sie dann kennen?“.
„Geh und lass mich.“. Zornig und schwer atmend stand er da.
Tabita breitete die Arme aus. „Ich gehe, Schattenklinge. Ich gehe sein Reich, mein Lieben fließt hinfort.“. Sie lächelte ihn an, während das Blut in den Schnee tropfte. Leise begann sie eine Melodie zu summen und Schattenklinge hielt inne.
„Dieser Fluss strömt von der Quelle,
das Wasser fließt, Wasser der Heilung,
Wasser um Herzen zu heilen,
Wasser von seinem Thron.
Es strömt und endet nimmer,
durch unser Reich.
Wir schützen diesen Strom,
seht ihn an Reisende aus fernen Ländern,
seht seine Schönheit und
versteht die vergessenen Wahrheiten
Wir können sie nicht verraten,
wir sind Wächter und nicht mehr,
und doch wir sind mehr.
Wir sind die Wächter der Tiefen.
Länder der Meere,
von vielen Unverstanden.
Seht ihre Schönheit,
ihr Reisende aus fernen Ländern
und versteht die Kostbarkeit des Frieden.“.
„Frieden, Schattenklinge. Fühlst du ihn? Ein Schatten sanft und mächtig, der an uns heran kommt und uns umarmt wie eine Mutter ihren Säugling. Siehst du den Strom? Den Strom des Friedens. Höre ihn. Du kannst ihn nicht aufhalten.“.
„Tabita.“. Er fiel zu Boden und setzte sich neben sie. Und jetzt waren seine Augen klar, der Wahnsinn des Zorns verschollen.
„Was habe ich getan?“. Er nahm ihre Hand.
„Ruhig.“. Sie lächelte. „Es ist gut.“.
In diesem Moment wusste sie, dass der Frieden ihn genommen hatte, sein Herz überspült hatte und dass es vorbei war.
Er sah sie an und sie erkannte einen Mann, der tief bereute, als er auf sein Werk sah.
Sie drückte seine Hand und spürte den Schlag des Lebens. Er würde mit ihr gehen, das wusste sie. Er würde mit ihr gehen und wie Nerileni Karyndo endlich Frieden finden. Für einen Augenblick öffnete sie ihm ihr Herz und er sah und hörte die Wunder, sie sie in ihrem Leben erlebt hatte.
„Komm.“, flüsterte sie leise.
Sie gingen gemeinsam. Tabita und Doeron Tiarev traten ein in die Gärten des Hüters. Sie lag da, getötet durch den Dolch und ein Lächeln auf dem Gesicht. Auch er wirkte glücklich, denn am Ende war er frei geworden, frei von Schuld, Hass und Trauer, die der Tod Nerileni Karyndos mit sich gebracht hatte und es war seine wahre Gestalt, die er am Ende gezeigt hatte, das unbeschwerte Ich, als die er da lag. Und bald bedeckte der Schnee ihre Gesichter und allein die Erinnerung blieb.
Und so war es gut.
hren+Au