Sahres, Cesing, 18 Jahre später
Das Meer war an diesem Tag wild und ungestüm wie ein wilder Hengst, der seinen Reiter abschüttelte. Es war ein goldener und schwerer Tag, ein Tag, an dem der Wind die Blätter von den Bäumen riss und Regenwolken vor sich her trieb. Und es war der Tag, an dem das Parlament der Sebetjh zum ersten Mal gewählt wurde. 18 Jahre waren seit Nians Rebellion vergangen und ebenso lange hatte es gebraucht, um die Wunden wieder zu heilen und den langen Weg der Veränderung zu gehen.
Acheving trat aus dem Palast von Cesing und ließ sich von einem Bediensteten seinen Rappen bringen. Es war ein guter und schneller Hengst, der ihn seit mehreren Jahren sicher trug. Hinter ihm sprangen seine beiden Söhne die Stufen hinunter, auch ihnen wurden die Pferde gebracht, dann verließen sie den Platz und folgten der Straße in die Stadt hinunter. Die Menschen grüßten und lächelten, während sie Handkarren voll mit Äpfeln, Brot und Wolle die Straße entlang schoben und zum Marktplatz strömten. Sie mochten ihren jetzigen Herrscher, hatte er ihnen doch knapp zwei Jahrzehnte Frieden geschenkt. Momentan war es der Drache, der von den Zinnen und Dächern wehte, doch Acheving hatte sich an den Gedanken gewöhnt, dass es bald ein neues Wappen geben würde. Dieser Teil seiner Vergangenheit war abgeschlossen und er hatte gelernt, seine Mutter nicht länger zu hassen. Es war die Zukunft, die wichtig war. Seine Kinder und dieses Land, für die er nun lebte.
Sie verließen Cesing und folgten der Straße nach Norden in die Wälder von Yaran. Unter den Hufen ihrer Pferde knarrte das Holz der Brücke, doch der Menschenstrom um sie herum versiegte. Die Wälder waren immer noch so dünn besiedelt wie vor achtzehn Jahren und schon bald verloren sich die Spuren von Besiedlung. Nur in der Ferne stieg der Rauch einzelner Meiler auf, langsam gewannen diese Wälder durch die Holzkohleproduktion an Bedeutung.
Der Lärm der Stadt verschwand hinter ihnen und es blieb nur noch Platz für die Stimmen des Waldes. Acheving wusste, dass seine Söhne Fragen hatten, doch sie schwiegen. Ihre Mutter Arsu war eine politische Heirat gewesen, doch sie war eine gute Ehefrau und Mutter und war mit ihrem sanften Wesen beim Volk beliebt. Er hatte gelernt, sie zu achten und wertzuschätzen und nach einer Zeit sogar zu lieben, doch dennoch hatte sie nie den Platz, in seinem Herzen erreicht, den Nian eingenommen hatte. Es waren fünf Kinder, für die sein Herz schlug. Sein ältester Sohn Tanju zählte zwölf Winter und war nach dem einzigen Freund und Begleiter benannt, den Acheving in Zeiten der Not gehabt hatte. Der neunjährige Joshua erinnerte ihn daran, dass Freundschaft viele Grenzen überwinden konnte. Schließlich blieb die fünfjährige Len, die das Leben besaß, das seiner Schwester genommen worden war. Die Zwillinge waren zu jung, um Namen zu erhalten, doch sie waren kräftig genug, um zu überleben.
Es war seine Familie und er war froh, sie zu haben, wo er seine alte bei der Plünderung Cesings verloren hatte. Die Mutter, die ihm eine Fremde gewesen war, der Vater, eine ferne Erinnerung und die Schwestern, deretwegen sein Herz manchmal immer noch vor Zorn wild pochte.
Heute war zugleich ein Tag, an dem er die Vergangenheit endgültig hinter sich lassen würde. Und er wusste jetzt schon, dass es ein guter Tag war.
Acheving parierte seinen Rappen und deutete auf die Lichtung.
„Hier ist es.“. Sein Atem bildete Wolken in der kühlen Morgenluft, die den Duft des Winters verborgen mit sich trug.
Seine Söhne sahen sich überrascht um und es gab ja auch nicht viel, was man entdecken konnte. Es war eine Lichtung wie jede andere auch. Die Luft besaß den Duft von feuchter Erde und einige Vögel ließen ihre Lieder erklingen. In der Ferne klopfte ein Specht und irgendwo jaulte ein Hund. Brombeergestrüppe zerkratzten ihnen die Beine, doch Acheving beachtete die Kratzer nicht und auch Tanju und Joshua schwiegen. Er kniete nieder und strich die feuchte Erde mit seinen Handschuhen fort. Dann ertastete er den Eisenring und zog die Klappe hoch. Mit einem stummen Zeichen bedeutete er Tanju ihm einen Beutel zu reichen und entnahm diesem drei Fackeln. Er schlug zwei Feuersteine aneinander und entzündete die Fackeln, danach reichte er jedem seiner Söhne eine.
Mit der Fackel in der Hand trat er die Stufen in die Finsternis hinab. Schatten huschten die steinernen Wände entlang und erzählten ihre ganz eigenen Geschichten. Dann endete die Treppe und die Fackel erhellte eine unterirdische Kammer. Die steinernen Wände waren ungeschmückt und der einzige Inhalt waren zwei Gräber. Die Särge trugen keine Namen, doch über dem linken erhob sich ein Tiger, der über dem Grab lag, dessen Körperhaltung dennoch Wachsamkeit symbolisierte.
Den zweiten Sarg bewachte der Leopard des Hauses Kariong, dessen Hinterpfoten auf dem Boden standen und dessen Vorderpfoten auf dem Sargdeckel ruhten. Mit gebleckten Zähnen starrte er den Betrachter an, bereit zum Sprung.
Natürlich war es ein rein symbolischer Akt von Acheving gewesen, denn Nians und Naichies Leichen ruhten irgendwo vor der Küste Madruks im Meeressand. Es war ebenso geheim gewesen, denn Nian und Naichie waren Verräter, dennoch war es ein Dienst Achevings an seinen ehemaligen Freunden, deren Werk er weiter geführt hatte. Doch dies war kein Ort um Erklärungen abzugeben und so stiegen sie wieder hinauf in eine Welt des Lichts.
„Ihr dürft Fragen stellen.“, erklärte er seinen Söhnen und lehnte sich an einen Baum.
„Ich nehme an, dass dies Gräber für Naichie und Nian waren.“, entgegnete Tanju zögernd. Er war schon immer der Klügere und schnellere im kombinieren gewesen.
„Warum? Warum gewährt Ihr ihnen die Ehre eines Grabes, Vater, wo sie Verräter waren.“.
„Sie waren Verräter, ja, doch nicht aus Bosheit oder Rache. Sie haben das Beste für dieses Volk und dieses Land gewollt. Nian war eine großartige Frau, eine unfassbar kluge Stabschefin. Sie sah eine Chance, dieses Land zu reformieren und ergriff sie. Sie wollte das Beste, doch sie ließ sich von der Macht verleiten. Sie war ungeduldig und wollte ihre Ziele übereilt und mit Krieg erreichen. Ebenfalls war sie nicht bereit, sich ihre Fehler einzugestehen. Dies waren ihre Schwachpunkte. Ihre Ungeduld und ihr Stolz, die die verleiteten und sie zu dem Menschen werden ließ, der sie am Ende war. Und deshalb bitte ich Euch alle Möglichkeiten zu betrachten und niemals übereilte Entscheidungen zu treffen. Menschen müssen viele Wege gehen, um Heilung zu erfahren und ihr müsst ihnen die Zeit lassen, die sie brauchen.“.
Er betrachtete seine Söhne, die ihm gebannt lauschten. Bestimmt hatte noch niemand ihnen die Geschichte so erzählt. Sie hatten nur gelernt, dass Nian böse gewesen war, mehr nicht.
„Naichie war anders. Er war treu und hatte ein gewaltiges Herz für dieses Land und seine Männer. Sie liebten ihn und er liebte sie. Er war ein Krieger mit seinem ganzen Wesen, nicht wie Nian, die auch eine Politikerin war. Er folgte Nian aufgrund des Wunsches dieses Land zum Guten zu wenden, nicht weil er mich hasste oder Rache wollte. Er hat mich immer respektiert und Naichie war nicht verblendet. Ihr werdet es nicht wissen, doch am Ende hat er sich gegen sie gewendet und hat an meiner Seite das Heer überzeugt. Er war einer der besten Menschen, die ich je kannte und ich bezweifle, dass wir einen General wie ihn in unserem Heer finden. Er hat für seine Männer gekämpft und wird heute dafür verachtet, dass er ein Verräter war. Doch er hat sich einfach nur auf die Seite gestellt, die am schnellsten die Möglichkeit zur Veränderung bot – und diese Seite ist gefallen und wurde vernichtet. Doch Naichie war ein großartiger Mann.
Und deswegen sollt ihr Menschen nicht in schwarz und weiß einteilen, sondern versuchen, sie zu verstehen und warum sie auf dieser Seite kämpfen. Es gibt keine schlechten und es gibt keine guten Menschen. Jeder trifft falsche Entscheidungen und manche werden schlimmer als andere. Doch kein Mensch ist grundlos zu dem geworden, was er ist und ich möchte, dass ihr lernt, dies zu verstehen, um unsere Welt zu verstehen.“.
Acheving sah in die Augen von Tanju und Joshua und wusste, dass sie ihn noch nicht verstanden, aber eines Tages würden sie es tun. Und vielleicht würden sie dann auch verstehen, warum er ihr Erbe einer Versammlung überlassen hatte, die den Kaiser wählte und die Gesetze beschloss. Denn dies war es, wofür Nian und Naichie gekämpft hatten und dies war der Weg, der gegangen werden musste. Es war eine Adelsversammlung, aber wenigstens konnte das Volk über die Adeligen bestimmen, die sie regierten. Es war noch ein weiter Weg zu gehen, doch es war ein Anfang und zwar ein sehr, sehr guter, der diesem Land endlich Frieden schenken würde.