Nie mehr wünsche ich den Schmerz zu sehen, den mein Bruder mit seinen Kriegen brachte. Nichts ist scheußlicher als der Krieg, denn er vernichtet Leben leichtfertig und ehrlos. Dieser ist mit Abstand das Schlechteste, was die Völker hervorgebracht haben.
Zitat von König Jaakan, dem Segensbringer. Wahrheitsgehalt umstritten, wird bisweilen auch König Jerimot I, dem Generationenkönig, zugesprochen.
Es gab nicht viele Situationen aus Laedans Leben, von denen er hätte behaupten können, dass sie verzweifelt gewesen waren. Doch diese war definitiv eine.
Er stützte sich mit der rechten Faust das Kinn, während die linke auf die Tischplatte trommelte und seine Augen die Zeltwand anstarrten.
„…Misilem, Kommandant der ersten Brigade der zweiten Division, Antikas und Tarenen, Kommandanten des ersten und zweiten Bataillons des dritten Regiments der ersten Brigade der ersten Division…“.
So viele Namen, zu denen er die Gesichter nicht kannte. So viele Verluste, zu viele.
Zwar hatten sie die Zwillingsreichler mit Laedans massivem Angriff in die Festung zurückgetrieben, doch konnten sie nicht mehr von allen Seiten angreifen, da das Eis gebrochen war und das Wasser ihnen den Weg versperrte. Zudem hatten die Zwillingsreichler die Bliden zerstört, was die Belagerung deutlich erschwerte. Zwar war im Gebirge reichlich Wald vorhanden, doch ließen sich aus diesem harten Holz, dessen Wurzeln tief in den Boden reichten, nur schwerlich Bliden fertigen. Und Jasreel war immer noch vermisst. Suchtrupps waren ausgesendet worden, die das Eis absuchten, mögliche Zeugen wurden befragt, doch der Kronprinz blieb verschollen.
Draußen begann ein weiterer Mann zu schreien und gesellte sich zum Chor der übrigen Schmerzensschreie. Laedan hielt viel vom arthergischen Militär, doch zu den Ärzten mochte er nicht gebracht werden.
„Halt.“, unterbrach er den Berichterstatter, der mit den Vermissten fortgefahren war, „Wie war der letzte Name?“.
„Jihram, Herr.“, entgegnete der Mann nervös.
„Er ist vermisst?“, fragte er.
„Ja.“, bestätigte dieser.
Laedan seufzte. Noch eine schlechte Nachricht, die er dem Brief an seinen Vater hinzufügen musste. Für einen Moment fragte er sich, wie dieser reagieren würde, wenn er die Nachricht vom vermutlichen Tod des einzigen Sohnes seines Bruders erhielt. Sicherlich entsetzt. Und auch Laedan verspürte einen Stich des Bedauerns, denn war Jihram mit ihm und seiner Schwester aufgewachsen, nachdem sein Vater gefallen war, ohne seinen Sohn einmal zu sehen und seine Mutter im Kindbett ihren letzten Atemzug getätigt hatte.
„Fahrt fort.“, befahl er dem Mann, nachdem er bemerkt hatte, dass dieser ihn anstarrte.
Weitere Namen füllten den Raum.
Der Erbprinz Norioms hörte mit halbem Ohr zu, während er Karten, von seinen Pionieren angefertigte Skizzen der Festung und verschiedene Berichte seiner Offiziere durchsah.
„Jadiel!“. Sein Knappe, der fünfte Sohn des Herzogs von Suwi, eilte zu ihm.
„Ja, Herr?“, fragte dieser.
Obwohl Laedan kein großer Menschenfreund war, musste er Jadiel zurechnen, dass dieser ein eifriger und kluger Junge war.
Er kramte einen Brief zwischen seinen Unterlagen hervor und reichte ihm dem Jungen.
„Bring dies zu einem jungen Boten namens Karim. Er soll dies so schnell wie möglich Kurfürst Alemet überbringen.“.
Jadiel verneigte sich und eilte dann eifrig davon.
Kopfschüttelnd sah Laedan ihm nach, bevor er ein neues Blatt Papier vor sich ausbreitete. Er drehte ein Tintenfass auf, spitzte eine Feder an und tauchte sie in die Tinte.
Verehrter Herr Vater,
Kurz überlegte er wie er fortfahren sollte. Sein Vater Setam war ein ernsthafter und strenger Mann, dem Freude ebenso fern war wie seinem Sohn.
Ich befinde mich wohlbehalten auf dem Feldzug in den Zwillingsreichen. Sicherlich werdet Ihr zuvor die Nachricht erhalten haben, dass die erste Schlacht ein Sieg für uns war. Nun sitze ich am Morgen nach der zweiten Schlacht unterhalb der Festung Mondfels am Rande der Gläsernen Wasserfälle und überbringe die Nachricht, dass Jasreel, Kronprinz des Arthergischen Reiches, Sohn von Jerimot, dem Kindgekrönten, am siebenundzwanzigsten Tag des vierten Monats des Jahres 2475…
Er sah auf, als jemand hereinstürmte.
Laedan sprang auf, denn es konnte nur einen Grund geben, aus welchem ein Bote in diesem Moment jegliche Etikette missachtete.
„Mein Herr! Wir haben ihn gefunden!“, keuchte der junge Mann.
Ohne zu zögern, griff sein Befehlshaber nach dem Mantel, der über der Stuhllehne hing und warf ihn sich über.
Gemeinsam stürmten sie heraus und selbst die Wachen vor seinem Zelt konnten ihre Neugierde und Bestürzung nicht verbergen.
Der Überbringer der Nachricht deutete auf das Pferd, welches von einem Soldaten festgehalten wurde.
„Es ist ein wenig entfernt.“.
Laedan winkte einen anderen Soldaten zu sich.
„Bring mir ein Pferd.“, befahl er in solch einem harschen Ton, dass dieser nach einer kurzen Zeit mit einem gesattelten Pferd zurückkehrte.
Er schwang sich in den Sattel und trieb die fremde Stute an.
Diese gehorchte trotz des unbekannten Reiters auf ihrem Rücken sogleich und preschte los.
Ein stetiger Schneeregen peitschte in sein Gesicht, doch Laedan ignorierte den scharfen Wind.
Schließlich erreichten sie die Unglücksstelle am Rande des gebrochenen Eises.
Sein Pferd wich einem Kadaver aus, doch dann sahen sie den Prinzen, beziehungsweise dessen Rüstung.
Laedan sprang aus dem Sattel und überließ die Stute sich selbst, dann eilte er mit schnellen Schritten zu den Versammelten hin.
Ein Mann in der grünen Tracht der Ärzte beugte sich über den Prinzen, während eine Heilerin eine weitere Person untersuchte.
„Jihram!“, murmelte Laedan fassungslos, als er seinen tot geglaubten Cousin erkannte.
Einige Generäle standen abseits und tuschelten leise, während sich schaulustige Soldaten versammelt hatten.
„Beiseite.“, herrschte der Prinz von Noriom sie an und verdutzt machten sie ihm Platz.
Ungeachtet seines Ranges ließ Laedan sich neben Jasreel auf den Boden fallen.
„Er lebt.“, erklärte der Arzt ihn, ohne seinen Blick zu heben. „Doch müssen wir ihn hier fortschaffen, wenn es auch so bleiben soll.“.
Laedan nickte und gab den Soldaten und Generälen Anweisungen, denn Jasreel lebte!
Unruhig und ungeduldig wanderte er einige Zeit später vor dem Zelt des Kronprinzen auf und ab, in welchem die Ärzte und Heiler an der Arbeit waren.
Die Zeit verrann langsam, denn auch wenn Jasreel lebte, bedeutete dies nicht, dass es auch so bleiben musste.
Schließlich erlaubte ein Arzt ihm das Eintreten.
Jasreel lag in seinem Bett ausgebreitet, sein Gesicht von Blutergüssen und Schrammen verunstaltet, die Augen geschlossen. Doch sein Brustkorb hob sich, schwach und unregelmäßig, doch er bewegte sich.
Ein Feuer prasselte und ein Diener warf unablässig Holz in die Flammen. Einige Ziegelsteine lagen am Rand des Feuers und weitere waren unter Jasreels Decken gesteckt worden, um ihn zu wärmen.
„Wie steht es um ihn?“, fragte er einen Arzt.
„Er lebt.“, entgegnete dieser, „Doch hat er Erfrierungen erlitten und wir werden ihm den linken Fuß, sowie drei Finger der rechten Hand abnehmen müssen, wenn sich diese nicht ausbreiten sollen.“.
Laedan gab ihnen mit einer Handbewegung sein Einverständnis. Er wusste was Erfrierungen bedeuteten, zwar bedeutete der Verlust eines Gliedes für einen Kronprinzen das politische Todesurteil, da ein gesalbter König unversehrt sein musste, doch war Laedan bereit dies zugunsten des Lebens seines Cousins aufzugeben.
Dennoch hatte er das Gefühl, das eine andere, viel schlimmere Nachricht noch in der Luft saß.
„Weiter.“, befahl er.
Die Ärzte warfen sich unruhige Blicke zu, dann holte einer von ihnen Luft.
„Das Rückgrat seiner Majestät ist gebrochen, den Eindellungen seiner Rüstung nach durch einen Streithammer. Sollte seine Majestät genesen, was sehr unwahrscheinlich ist, wird er nie wieder laufen oder reiten können und es wird ihm nicht möglich sein, weitere Kinder zu zeugen. Es tut mir Leid, Hoheit.“.
Laedan versuchte nicht einmal mehr, die Tränen zurückzuhalten und er schämte sich ihrer nicht. Denn es war nicht nur Jasreels Zukunft verloren, sondern auch die Zukunft Arthergs hatte sich auf einmal ins Ungewisse gewandelt. Ein König musste unversehrt sein, Erfrierungen mochten vielleicht akzeptiert worden, aber ein König, der sich ohne Hilfe nicht fortbewegen konnte? Ein Mann, der nicht in die Schlacht reiten konnte, war kein Mann. Vielleicht würden einige Herzöge zu Jasreel halten, doch die Aßgeier würden sich diese Chance nicht entgehen lassen und einen Gegenkönig erheben.
Es war eine Katastrophe, denn sie steuerten auf einen Bürgerkrieg zu.
Jasreel schwebte. Er hatte kein Gefühl für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Alles verschwamm angesichts des Schmerzes, der in ihm wütete. Doch dann verschwand auch dieser und mit ihm alles andere. Wer war er? Es war nicht länger von Bedeutung. Wenn man ihn gefragt hätte, was er hier tat, hätte er nur sagen können, dass es egal war. Im ersten Moment war er noch dankbar für das Fehlen des Schmerzes, doch vergaß er bald, dass dieser überhaupt existiert hatte.
Er schwebte in einem Nichts aus diffusem Nebel. Es war still. Kein Laut durchbrach diesen Nebel, es gab nichts zu sehen und nichts zu fühlen. Es war ein Nichts, in dem er einfach existierte. Nicht mehr und nicht weniger.
Dann veränderte sich auf einmal alles. Ein Licht durchdrang den Nebel und eine Gestalt kam auf ihn zu und als er dieser Person in die Augen blickte, erinnerte er sich. Diese Augen sprachen ihm eine Identität zu und auch wenn er es nicht beurteilen konnte, ahnte er, dass sie größer als die vorige war.
Einen Moment stand er einfach da und die Person neben ihm ebenso.
Schließlich wagte er es, sich umzublicken und die Person, die ihm sein Sein zurückgegeben hatte, zu betrachten.
Sie trug ein weißes Gewand, dessen Schnitt er vergaß, sobald er in das Gesicht des Mannes blickte. Wenn er es im Nachhinein hätte beschreiben sollen, hätte er nicht die Worte dafür gefunden. Es gab keine Farben und keine Formen, nicht die geeigneten Worte in seiner Sprache, um diesen Mann zu beschreiben. Sein Gesicht wirkte zeitlos und in seinen Augen lauerte die Unendlichkeit. Doch sein ganzes Sein strahlte vor Liebe, sie brach aus allen Poren aus ihm heraus, ein ewiges Meer der Güte.
„Wer bist du?“, fragte er, obwohl er die Antwort schon wusste, als er die Frage stellte.
„Ich bin, der der war, der der ist und der, der sein wird.“.
Verdutzt blickte Jasreel ihn an.
„Du bist der Hüter?“. Es gab viele Religionen in Artherg, auch wenn die des Hüters, die am weitesten verbreitete war. Doch sie war die Einzige, die nur einen Gott besaß.
„Ja.“, antwortete er, „Und nein.“.
„Was?“, verwirrt blickte er ihn an.
„Du musst wissen, dass wir eins sind. Ich, der Hüter und der Geist. Ihr habt uns alle als eins, als Der Hüter zusammengefasst und wir sind auch alle eins, doch zugleich differenziert.“. Er lächelte. „Doch früher nanntet ihr mich Ériyor.“.
„Ériyor.“, wiederholte Jasreel und der Name fühlte sich gut und seltsam richtig auf seiner Zunge an.
Er musterte diesen Mann, der doch keiner war. Vielleicht war er viel zu verwirrt, um erstaunt zu sein, oder, er hatte es irgendwie gewusst, jedenfalls war er nur neugierig und auch seltsam ehrfürchtig.
„Bin ich tot?“, wagte er es schließlich die Frage zu stellen.
Ériyor lachte leise.
„Weder noch. Es ist eine Entscheidung, die du treffen musst. Du kannst mit mir weiter gehen oder du kannst zurückkehren.“.
„Weiter? Was bedeutet das? Eine andere Welt?“. Es gab Religionen, die glaubten, dass man nach dem Tod in eine andere Welt kam, ein ewiger Kreislauf.
„Es bedeutet eine Rückkehr in die Heimat.“. Die Heimat. Jasreel war sich sicher, dass er damit nicht Mearis meinte. Vielmehr verspürte er einen tiefen Frieden und er nahm den Geruch von frischem Gras und Blumenwiesen auf.
„Es muss ein schöner Ort sein.“, meinte er nachdenklich.
Ériyor nickte. „Es ist der schönste Ort, den es jemals gegeben hat und jemals geben wird. Es ist wundervoller, als jeder Traum, den ein Mensch je zu träumen gewagt hat. An diesem Ort gibt es keinen Schmerz, kein Leid, kein Hass und keine Tränen.“.
„Aber wenn ich zurückgehe, werde ich Leid erleben.“.
Sein Gegenüber nickte sanft und Jasreel verstand, dass Ériyor um seine Welt und das Leid in dieser trauerte.
„Aber mein Volk wird alleine gelassen.“, stellte er fest und dachte an das Chaos, das ausbrechen würde, wenn er nicht zurückkommen würde.
„Ein Bürgerkrieg würde ausbrechen.“.
Ériyor nickte erneut.
„Es wird andere geben, die dein Volk leiten können. Doch niemand vermag es, den Platz so zu füllen, wie du es vermocht hast. Du bist einzigartig, deine Art zu sprechen und zu gehen. Niemand ist so wie du.“.
Jasreel dachte an seine Familie. Seine Frau, die ihn hasste. Seine Tochter, die ihn verehrte und an das Kind, das er nie kennen lernen würde.
„Hättest du es nicht verhindern können?“, fragte er plötzlich, „Ich weiß, dass ich schwer verwundet bin, ansonsten wäre ich nicht hier. Du bist allwissend, also ist dir auch bekannt, dass ein arthergischer König unversehrt sein muss. Wenn ich zurückgehe, wird dennoch ein Bürgerkrieg ausbrechen, genauso wie wenn ich mit dir gehe. Warum hast du es zugelassen?“.
Ériyor lächelte sanft.
„Ich habe nicht eingegriffen, weil niemand eine Entscheidung getroffen hat.“. Er wischte mit der Hand und der Nebel verschwand, um den Weg für eine mit Wälder und Seen gesprenkelte Landschaft frei zu machen.
„Diese Welt ist den Völkern Anthars gegeben worden. Sie sind die Herrscher, nicht ich. Nur wenn einer von ihnen eine Entscheidung trifft, mir zu vertrauen und mir zu erlauben, in ihrem Herrschaftsgebiet zu wirken, kann ich etwas verändern.“.
„Nicht mehr als eine Entscheidung?“. Ungläubig blickte Jasreel ihn an.
„Eine Entscheidung und der Wille etwas Gutes zu tun.“, fügte er hinzu und wieder strich eines dieser friedlichen Lächeln über sein Gesicht.
Als schien er einen Gedanken in Jasreels Kopf zu kennen, fuhr er fort: „Jedoch greife ich nur ein, um Gutes zu tun, niemals benachteilige ich ein Geschöpf zu Gunsten eines Anderen. Ich liebe euch beide – dich und Elieser. Es tut mir im Herzen weh, wenn ihr euch gegeneinander wendet und Kriege führt.“.
„Ich wollte diesen Krieg auch nicht.“, entgegnete Jasreel.
„Und doch hast du dich von deinem Zorn leiten lassen.“, berichtigte Ériyor ihn, ohne einen Vorwurf in seiner Stimme.
Auf einmal erkannte Jasreel, wie viel er hätte verändern können, wenn seine Priorität nur hoch genug gewesen wäre.
Verlegen und erschüttert blickte er auf seine Füße – und erschauderte.
Unter ihm erstreckte sich ein Leichenfeld in der Morgendämmerung. Ein Wolfsrudel vertrieb einen vorwitzigen Fuchs von ihrem Fund, der sich abseits ans Fressen machte. Die Wölfe rissen verfaultes Fleisch von den Knochen. Bleiche Gebeine, Schädel, grinsend in den ersten Sonnenstrahlen. Ruinen wie bleiche Gerippe, einst blühende Dörfer lagen nun in Schutt und Asche. Eine einzige Puppe, niedergetreten, vergessen und mit Blut und Dreck verschmiert. Und dann erkannte Jasreel dieses Schlachtfeld.
„Das sind die Sonnensteppen.“, murmelte er und Tränen liefen ihm die Wangen hinab, als er erstmals den Schrecken einer Schlacht erkannte. So viele Leben, hinfort geworfen wie Abfälle. Sie hatten so getan, als wäre ein Leben austauschbar, dabei war es in Wahrheit unbezahlbar.
„Du hast es erkannt.“, stellte Ériyor fest, doch seine Stimme klang unsagbar traurig. „Sie alle sind ein Meisterstück gewesen, jedes kostbar und einzigartig.“.
„Weil keiner eine Entscheidung für dich getroffen hat.“, wiederholte der arthergische Prinz.
„Ja.“.
Er wandte sich zu Jasreel um. „Willst du etwas sehen?“.
Zögernd nickte dieser.
Das Bild unter ihnen wandelte sich. Ein Zimmer mit feinen Wandvertäfelungen, geschnitzten Statuen und einem großem Kamin. Syrela. Jasreel wusste nicht, was er empfinden sollte, als er seine Frau sah. Er blickte sich weiter um und erkannte seine Tochter, die in einer Ecke malte. Sorgfältig wählte sie Farben aus und ihr Pinsel flog förmlich über das Papier.
Jemand klopfte an und Syrela legte das Buch nieder, in welchem sie zuvor gelesen hatte. Jasreel konnte sogar den Titel erkennen. Die Unbezwungene lautete er. Es war eine bekannte Biografie über Königin Kinya, die den Beinamen die Unbezwungene erhalten hatte. Sie war auch eine der wenigen Niasiler, von denen man sagte, dass ihre Haare komplett silbergrau gewesen waren. Jemand wie Jasreel, der mit vielen Niasilern zu tun hatte, wusste wie selten das war. Selbst Laedan, der eine der tapfersten Niasiler war, den er kannte, besaß nur wenige Strähnen von Silber.
Er hatte nicht einmal gewusst, dass sich seine Frau für sie interessierte.
Mit einer Handbewegung erlaubte sie einem Boten einzutreten. Sie nickte einer Zofe zu, die von ihrer Stickerei aufsprang und den Brief entgegen nahm, um ihn ihrer Herrin zu geben.
Syrelas Hände zitterten leicht, als sie das Siegel der drei Feuerblumen Norioms brach.
„Lasst mich allein.“, befahl sie mit einer Stimme, der unmöglich zu widersprechen war.
Ihre Zofen standen auf und verließen den Raum, doch als die Kinderfrau Hawila mitnehmen wollte, meinte sie: „Meine Tochter soll bei mir bleiben.“.
Die Kinderfrau verneigte sich und ging rückwärts hinaus.
Hawila blickte ihre Mutter mit großen Augen an, während diese den Brief las.
Verblüfft bemerkte Jasreel die Tränen, die auf das Papier tropften und die Schrift verlaufen ließen.
Der Brief entglitt ihren Händen und ihr Körper erbebte. Allein ihre rechte Hand ruhte auf ihrem Bauch, dem die Schwangerschaft noch nicht anzusehen war.
„Mama!“.
Hawila lief humpelnd auf sie zu und kroch unbeholfen auf ihren Schoß. Tröstend legte sie die Hand auf den Arm von Jasreels Frau.
Die Szene verschwamm.
„Verstehst du jetzt?“, fragte Ériyor ruhig, „Sie liebt dich.“.
„Nein!“. Verwirrt schüttelte Jasreel den Kopf. Seine Frau verachtete ihn.
„Das Kind.“, murmelte er, in dem verzweifelten Versuch einen Beweis für seinen Standpunkt zu finden. „Es war ein hellhaariges Mädchen.“.
Helles Haar war im menschlichen Volk Soreq, dem Jasreel angehörte, eine Rarität. Er bezweifelte, dass sich einhundert hellhaarige Menschen in seinem Volk fanden. Soreqer trugen Haar in allen Nuancen von braun und seltener schwarz, doch blondes Haar war solch eine Rarität, dass ein König aus grauer Vorzeit, dessen Name längst vergessen war, bestimmt hatte, dass hellhaarige Frauen Eigentum des Königs waren. Diese Anordnung war längst aufgehoben, doch an der Seltenheit von hellem Haar hatte das nichts geändert.
„Es war dein Kind, Jasreel.“, entgegnete Ériyor ruhig und diese Wahrheit erschreckte ihn zutiefst. Eine Welt zerbrach in Stücke.
Vor sieben Jahren hatte er Syrela rechtmäßig zum Weib genommen, doch ihre Ehe war geprägt von Misstrauen und Zwietracht. Wie konnte es also sein, dass sie ihn liebte? Wie konnte ihm dies entgangen sein?
„Warum hat sie mich dann verachtet?“, fragte er.
„Diese Frage musst du ihr selbst stellen.“.
„Dann muss ich zurückgehen.“, stellte er fest.
„Oder du wartest auf sie.“, schlug Ériyor vor, „Zeit besitzt an jenem Ort keine Bedeutung.“.
Die Sehnsucht nach Frieden wütete in ihm. Sein ganzes Leben hatte er für andere aufgeben müssen, sein Volk, seinen Vater, seine Soldaten. Er brauchte Frieden. Zugleich befahl sein Ehrgefühl ihm, zurück zu seinem Volk zu gehen und die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Es war seine Pflicht als Kronprinz seinem Volk zu dienen.
Jasreel deutete auf den Nebel, wo sich zuvor noch seine Welt ausgebreitet hatte.
„Du müsstest dort regieren. Du bist der wahre König dieser Welt.“.
Ériyor schüttelte sanft den Kopf.
„Es ist eine Entscheidung, die die Völker von alleine treffen müssen.“.
„Aber du würdest alles zum Guten wenden können.“, beharrte der junge Prinz.
„Nur dann wäre es eine Macht erbaut auf Zwängen. Ich möchte aber, ein Freund sein, dem man vertraut.“.
„Wirst du bei mir sein?“, wollte er zögernd wissen.
Ériyor lächelte. „Ich werde immer bei dir sein.“, versprach er.
„Dann werde ich gehen und eine Entscheidung treffen.“.
„Ich danke dir von Herzen für dein Vertrauen, Jasreel Jiasmer. Du sollst wissen, dass ich dich nie verlassen werde und wenn du auf mich vertraust, so wird dir alles möglich sein, was dem Guten dient.“.
Jasreel sah erneut auf, in dieses Gesicht, das so strahlend war, dass es ihn schier zu verbrennen schien. Kein bösartiges Feuer, sondern eines geprägt von Liebe und Respekt.
Ériyor beugte sich hinab und küsste ihn sanft auf die Stirn. Stärke durchfloss seinen Körper und in diesem Moment wusste er, dass er die Macht eines wahren Königs wahrnahm.
Dann erwachte er und der Schmerz durchfuhr seinen Körper.