Und Najav sah den Schmerz des Mädchens. Weil er aber gnädig und gutmütig war, verwandelte er jede einzelne ihrer Tränen in Perlen, die Hoffnung und Zukunft in ihr Leben säten. Sie aber erhob sich und ging, um das zu tun, für was sie bestimmt war und somit ihrem Volk zu dienen.
- Aus einem Volksmärchen Madruks -
Zornig starrte Hiskijar die Klinge an, die sich auf seine Kehle richtete.
Zornig über seine Unachtsamkeit und sein Versagen. Die Gedanken zu seiner Suche, Alsra und der fernen Heimat schweifen zu lassen, kostete ihn nun in einem Wald zwei Tagesritte von Zwillingsstadt entfernt die Freiheit.
Er hob die Hand, wie um nach seinem Säbel zu greifen, doch sein Gegenüber sagte nur: „Vergiss es.“.
Die Stimme kam ihm bekannt vor, doch hatte sein Gegenüber sein Gesicht im Schatten einer Kapuze verborgen und dennoch…
„Kannst du mir verraten, warum du ein Schwert auf mich richtest, Jehiel?“
„Magst du mir verraten, warum ganz Artherg nach dir sucht?“
„Soll ich dir die Waffen reichen?“, fragte Hiskijar seinen Stellvertreter spöttisch, auch wenn es in seinem Inneren rumorte. Er war es gewöhnt, einstigen Verbündeten gegenüber zu stehen, doch wenn er in den letzten Jahren einen Mann Freund genant hatte, dann war es jener, der ihn nun bedrohte.
„Nein“, entgegnete Jehiel ernst, ohne ihm in die Augen zu blicken. „Ich weiß, wie gut du kämpfen kannst, wenn du erst einmal eine Waffe in der Hand hast.“.
Warum musste es ausgerechnet Jehiel sein? Jeder andere hätte darauf vertrat, dass ein Mann, an dessen Kehle ein Schwert ruhte, nicht den Versuch wagen würde, zu kämpfen. Doch Jehiel hatte Jahre an seiner Seite verbracht und kannte ihn.
„Dreh dich um.“, befahl er und sein Gefangener befolgte seine Worte schweigend. Jehiel zog die beiden Säbel heraus und warf sie außer Rechweite, wo sie zitternd im Erdreich stecken blieben.
Plötzlich trat Hiskijar nach hinten, doch wich Jehiel ihm mühelos aus und da wo seine Kniescheibe hätte sein sollen, war nun nichts.
In einer fließenden Bewegung wirbelte Jehiel herum und knallte Hiskijar die flache Seite seines eigenen Säbels über den Kopf.
Als Hiskijar erwachte, war er an einen Baum gefesselt und sein Kopf dröhnte.
„Geht’s?“ Sein Freund, von dem er nicht wusste, ob er ihn noch länger so nennen konnte, tauchte vor ihm auf, einen Wasserschlauch in der Hand.
„Mit gefesselten Händen bist du nur wesentlich ungefährlicher.“
Er reichte seinem Gefangenen den Wasserschlauch, den dieser mit den gefesselten Händen geradeso fassen konnte. Als Jehiel den Wasserschlauch wieder an sich nehmen wollte, versuchte Hiskijar ihn mit einem seitlichen Schwinger außer Gefecht zu setzten, doch erneut wich sein einstiger Gefährte ihm mühelos aus.
„Es wäre einfacher, wenn du nicht ständig versuchen würdest, dich zu wehren.“ Er verpackte sein Gepäck auf die Rücken der Pferde. „Allerdings würde ich mich mehr sorgen, wenn du es nicht tun würdest.“ Hiskijar schwieg und verfluchte Jehiel und seine Lage.
„Ich habe dir das Leben gerettet“, erklärte er schließlich und sah seinen Freund an. Genau genommen hatten sie sich beide häufiger gegenseitig das Leben gerettet, doch wenn er es richtig berechnet hatte, war Jehiel ihm noch eines schuldig.
„Falsch.“ Jehiel grinste, während er die Pferde heran führte. „Ich rette dir momentan das Leben. Jeder Andere würde sich nicht die Mühe machen, dich lebendig nach Mearis zu schaffen. Und was auch immer du angestellt hast und wofür du angeklagt wirst, ich werde dich vor deiner eigenen Dickköpfigkeit schützen und dafür sorgen, dass du freigesprochen wirst.“
Und genau das war das Problem. Jeder anderer seiner einstigen Männer hätte ihn laufen gelassen, doch Jehiel war einfach zu pflichtbewusst und zugleich dem Staat gegenüber zu treu. Er verspürte die Pflicht, ihn zu retten und dabei innerhalb der Gesetze zu bleiben. Dass er damit alles schlimmer machte, konnte Jehiel nicht wissen und Hiskijar würde ihn auch sicherlich nicht auf all die Fälle hinweisen, in denen er das arthergische Gesetz gebrochen hatte.
„Ich kenne dich und ich werde dafür sorgen, dass du nicht wegen deinem Dickkopf bestraft wirst.“
Er hockte sich hinter den Baum, an dem er Hiskijar festgebunden hatte. „Und ich warne dich, du wirst keine Gelegenheit zur Flucht erhalten.“
Er schnitt die Fesseln seiner Beine und die, die seinen Oberkörper banden, los. Hiskijar schüttelte sich, um die Schmerzen abzuwerfen, die die erneute Durchblutung seiner Glieder bewirkte.
Dennoch blieb er ruhig. Momentan war Jehiel viel zu aufmerksam, um einen Fluchtversuch zu wagen, doch irgendwann würde der geeignete Moment kommen. Bis Mearis war es weit und früher oder später musste selbst Jehiel schlafen.
Der Kriegsrat war ein trübsinniger Haufen, doch hatten sie allen Grund dazu. Mondfels mochte eine uneinnehmbare Festung sein, nur konnte sie ebenso wenig verlassen werden.
Elieser seufzte und blickte müde in den Bierkrug, der vor ihm stand. Von Alkohol hatten sie scheinbar genug, aber die Vorräte wurden langsam knapp und die Rationen waren schon vor Tagen gekürzt worden.
Eine Belagerung war eine langwierige und einsame Sache. Die einzige Abwechslung war der immer wieder verringert werdende Abstand der Bliden zur Festung, wobei die Artherger jedes Mal erneut an Mondfels’ Höhe und Standfestigkeit scheiterten.
Die Diskussionen, welche die Generalität immer wieder führte, griffen nur die alten Punkte wieder auf und die Soldaten starrten missmutig in die Ferne.
Sie hatten einen Fehler begangen, als sie nicht auf Liiyas gehört hatten, der einen defensiven Kampf gewollt hatte. Nun hatte dieser sein Leben für die Freiheit seines Volkes gegeben und die Reste eben jenen Heeres verbargen sich in einer Festung.
Halbherzig lauschte Elieser den Ausführungen von Tanyer, der etwas von Fluchtwegen vorschlug, von denen sie alle wussten, dass sie nicht existierten.
Auf einmal öffnete sich die Tür der Halle und ein Diener stürmte herein. Er stürzte zu seinem Prinzen und flüsterte ihm zu: „Herr, ein Bote ist aus Winterflucht gekommen. Es ist Prinz Jetur.“
Elieser sprang auf.
„Entschuldigt mich“, bat er.
Eilig hastete er hinaus. Sein Herz hämmerte, denn mochte die Nachricht, die sein Bruder mit sich trug, Sieg oder Niederlage bedeuten.
Er fand Jetur bei den Pferden, was ihn für einen winzigen Moment ein Lächeln aufs Gesicht brachte. Früher hatte sich sein Drilling immer im Stall versteckt.
Einen Augenblick blieb er am Türbalken gelehnt stehen und betrachtete seinen Bruder, der mit konzentrierten Bewegungen einen wunderschönen Rapphengst abrieb.
„Was ist mit deiner Stute geschehen?“, fragte er schließlich.
Ein trauriges Lächeln zog sich über Jeturs Gesicht. „Nicht nur für Menschen sind Schlachten tödlich. Ich habe auch deine Stute in diesem Stall nicht gesehen.“
„Ich musste sie erlösen, nachdem Jasreel sie in der Schlacht verwundet hat.“
Sein Gegenüber verzog das Gesicht.
„Was für ein Feigling.“
„Woher hast du ihn?“
„Zugelaufen. Er konnte mir leider nicht mehr verraten, wer sein Herr gewesen ist, aber ich denke, dass er Artherger war.“
Elieser erwiderte nichts, doch sein Blick begegnete dem seines Bruders und kurz darauf erklärte dieser: „Es tut mir leid, aber Winterflucht ist gefallen. Ich ritt bevor der Kampf ein Ende fand, doch war die Überzahl groß und die Zahl der Unsrigen klein. Ich kann dir nicht sagen, was aus deinen Weib noch was aus dem meinem wurde. Doch ich bin mir sicher, dass die Artherger gesiegt haben. Winterflucht war aus Holz erbaut.“
Elieser legte seine Hände auf die Schultern seines Bruders.
„Doch diese Feste ist aus Stein errichtet“, meinte er mit aller Überzeugung, die er aufbringen konnte.
„Richtig“, erwiderte Jetur. Er öffnete den Mund, als ob er noch etwas sagen wollte, doch dann schloss er ihn wieder.
„Lass uns schlafen gehen, Bruder und morgen weiter reden.“
„Natürlich“, erklärte er und seine Miene wurde sanft. „Ich vergaß, dass du noch keine Zeit hattest, dich an den Gedanken zu gewöhnen, dass wir die letzten unserer Familie sein können.“
Mit diesen Worten wandte Jetur sich um.
Elieser tätschelte ein letztes Mal den arthergischen Hengst, dann ging auch er davon, um noch etwas Ruhe an diesem Abend zu finden.
In dieser Nacht träumte er von dem Festmahl, an dem er Alsra zum ersten Mal getroffen hatte. Eine Zeit, als noch Freude geherrscht hatte und der Krieg noch nicht mal eine Ahnung gewesen war.
Er führte Alsra die Treppe hinauf, doch als er die Tür aufstieß, war die Halle leer. Allein die Instrumente spielten noch und die Schüsseln und Becher hatten sich mit Blut gefüllt, das bald die Halle überströmte.
Alsra wurde von seiner Hand gerissen, ein letzter, angstvoller Schrei, dann war er allein in einem See aus Blut.
„Herr!“ Jemand rüttelte ihn und schriee ihn mit panischer Stimme an.
Elieser fuhr hoch und erkannte einen von Liiyas’ Söhnen.
„Was ist?“, fragte er mit schlaftrunkener Stimme.
Ohne die Antwort abzuwarten, stand er auf.
„Du musst fliehen.“ Die Stimme des Jungen zitterte „Mondfels ist gefallen, die Artherger sind überall. Sie…Du musst fort, bitte.“
Der Prinz zögerte nicht, warf sich einen Umhang über, griff dann nach seinem Schwert und seinem Horn.
„Komm“, meinte er und stieg mit gezücktem Schwert die Treppe des Turms hinab.
Schwerter klirrten und Geschrei ertönte.
Wie hatte er es nur nicht bemerken können?
Er stürzte auf den Hof und sah sich sogleich einem Artherger gegenüber. Das Geplänkel war kurz, dann trieb sie die Masse wieder auseinander.
Woher kamen die ganzen Feinde auf einmal? Sie waren überall, diese rotgekleideten Männer, die ihm seine Heimat nahmen.
Für einen Moment sah er den General Zevinier, der einige Männer um sich gescharrt hatte, dann verschwanden sie unter einer Welle Artherger.
Elieser blies in sein Horn und alle Zwillingsreichler in seiner Nähe schlossen sich dem Ruf ihres Prinzen an. Es bildete sich eine Gruppe von Kriegern, die rasch anwuchs.
„Zum Tor!“, schrie er.
Pfeile zischten über sie hinweg und der Mann an Eliesers Seite sackte mit einem Schrei in sich zusammen.
„Mein Herr!“ Tanyer drängte sich zu ihm zu. Die Uniform des Generals war blutig und sein Atem ging hastig. „Lass mich das königliche Banner führen und sie ablenken“ Ein flehender Ausdruck lag auf seinem Gesicht.
Elieser nickte. „Bitte gewährt.“ Mit einer knappen Verneigung wandte Tanyer sich ab, rief einige Männer zusammen und stürzte sich erneut ins Getümmel. Wenig später erhob sich fern von ihnen auf einer der Treppen, die auf den Wehrgang führte, das königliche Banner. Schreie verkündeten, dass auch die Artherger es gesehen hatten.
Der Prinz dagegen führte seine Männer fern des hauptsächlichen Kampfgeschehens auf einen Seitenausgang zu. Ihm widerstrebte es, der Schlacht den Rücken zu kehren, doch galt es, sich vorerst einen Überblick über die Lage zu verschaffen und dann eine Möglichkeit zu finden, die Artherger zu überlisten.
Hinter den Pferdeställen war es still. Erstaunlicherweise schien niemand die Pferde hinaus geholt zu haben, so dass sie panisches Wiehern aus den Stallungen vernahmen. Fast automatisch lenkten Eliesers Schritte ihn dorthin, doch dann hielt er sich zurück. So schwer es ihm auch fiel, sein Volk war wichtiger.
„Kaskal?“ Er winkte einen jungen Soldaten zu sich.
„Kundschafte das Tor aus und prüfe ob der Weg frei ist.“
„Natürlich, Herr!“ Der Mann wollte davoneilen, als sich eine Gestalt aus den Schatten der Ställe löste.
„Das wird nicht nötig sein“, meinte sie.
„Jetur!“ Verblüfft starrte Elieser seinen Bruder an. „Was meinst du? Ist der Weg versperrt?“
„Ja, das ist er.“ Seine Stimme war fast sanft, als würde er das Sterben der Männer seines Volkes um sich herum gar nicht wahrnehmen. „Ich kenne dich Bruder und wusste, dass du zu den Ställen kommen würdest.“
„Dann müssen wir…“ Er brach ab, drehte sich zu seinem Bruder um. „Warte, was hast du gesagt?“ In diesem Moment verstand er – und sah seinen Bruder vielleicht zum ersten Mal wirklich. Und auf einmal war er ihm so fremd, dass er sich fragte, wie er überhaupt jemals geglaubt hatte, Jetur verstehen zu können.
„Der Hengst“, flüsterte er, „Es hätte mich misstrauisch machen müssen.“
„Warum?“ Aber diese Frage blieb Jetur ihm schuldig. Vielleicht sagte er noch etwas und die Antwort ging im Lärm der heranstürmenden Artherger unter, vielleicht schwieg er auch. Aber es war sein Gesicht, das Elieser sah, als ihm sein Schwert entrissen und seine Hände gefesselt wurden. Triumphierende Rufe erklangen um ihn herum. Ein Offizier trat auf seinen Bruder zu und beugte sich zu ihm hinab. Auch wenn er es nicht verstand, verletzte ihn jedes einzelne Wort, das dort gesprochen wurde.
Und er weinte.
Er weinte über die verlorene Zukunft seines Volkes.