Sobald es ihm besser ging, bekam Bucky sein eigenes Schlafzimmer. Die Schmerzmittel und Beruhigungstabletten wurden abgesetzt und Steves Präsenz war nicht länger notwendig. Ab da spürte Bucky von Minute zu Minute, wie die Unruhe in ihm wuchs. Er lag in diesem fremden Bett, in einem Zimmer, das sehr unpersönlich war, mit fremden Gerüchen und konnte sich wieder nicht rühren.
„Das kommt vom Schock. Ist eine rein psychische Sache“, hatte ihm ein Arzt erklärt und Shuri hatte diese Worte wiederholt, als er sich das erste Mal nicht bewegen konnte. Sein Körper fühlte sich taub an. Als würde er ihm nicht gehören. Unter dem Einfluss von Tabletten war es nur einmal vorgekommen. Doch nun war es wieder so weit.
Es war höchstens eine Stunde in diesem sterilen Zimmer vergangen, als er aus einem verstörenden Traum erwachte, lange mit offenen Augen dalag und auf seine Finger starrte, die sich langsam zu bewegen begannen. Dann döste er wieder ein, nur um erneut nach höchstens einer Stunde aus einem unruhigen Schlaf zu erwachen. Es war wie eine Folter, aus der er nicht ausbrechen konnte.
So ging es zwei Nächte und einen Tag lang. Sein Magen war wie ein Klumpen, der sich nicht rührte. Weil er so gut wie nichts essen konnte und sich deswegen permanent müde und kraftlos fühlte, zog es ihn immer wieder ins Land der Träume oder in seinem Fall, ins Land der Albträume. Die Ärzte verweigerten ihm die Medikamente, weil die Abhängigkeit zu groß war.
Am frühen Morgen war er erneut aufgewühlt aufgewacht und fand ab da keine Ruhe mehr, obwohl sein Körper nach Schlaf und Erholung schrie. Zorn kam in ihm hoch. Er war hilflos, wie ein Kind, ein Krüppel und eine Last. Er wälzte sich im Bett und konzentrierte sich auf die Erleichterung, weil er seinen Körper wieder spürte und sich bewegen konnte. Die Tür wurde geöffnet. Shuri setzte sich an den Rand seines Bettes, wo er sie aus halb geschlossenen Augen heraus beobachtete. Sie zu täuschen, war fast genauso unmöglich wie Steve zu belügen und vielleicht war es der Grund, warum T‘Challa sie geschickt hatte, anstatt die Ärzte.
„Wie geht es dir?“
Dieses junge Mädchen, das seinen kaputten Arm bearbeitet hatte und ihm geholfen hatte sich besser zu fühlen, mochte er jetzt schon, genauso wie ihren Bruder, obwohl T‘Challa ihn zuerst umzubringen versucht hatte. Was Bucky ihm unmöglich verübeln konnte.
„Besser“, krächzte er. Das Räuspern, das folgte, klang viel zu laut in seinen Ohren. „Danke.“
Sie lächelte, nahm seine Hand und drückte sie. Sie kannte ihn kaum, behandelte ihn aber wie einen großen Bruder. Diese Zuneigung nahm Bucky dankbar an. Es war so lange her, dass er Zuwendung und körperliche Wärme verspürt hatte, dass er danach durstete. Früher war er immer ein sehr herzlicher Mensch und scheute nicht andere zu berühren und zu umarmen. Er erwiderte ihre Geste und drückte auch ihre warme Hand etwas fester, wodurch ihr Gesicht noch heller strahlte. Er mochte ihr Lächeln. Es war so aufrichtig und rein. So wie Steves.
„Wo ist Steve?“
„Er ist mit T‘Challa unterwegs. Es gibt jetzt so viel zu tun, weißt du“, sie machte eine kurze Pause und betrachtete ihn. Ihn mit Einzelheiten zu belasten wäre dumm, also setzte sie wieder ihr fröhliches Gesicht auf. „Du hast endlich tief und fest geschlafen“, sagte sie und zeigte ihm ihre weißen Zähne. „Er wollte dich nicht wecken.“
Bucky zog leicht die Oberlippe nach oben und kniff ein Auge etwas zu, was einem Widerspruch gleichkam.
„So gut auch wieder nicht.“
„Alpräume?“, ihr Lächeln verschwand.
„Ja, könnte man sagen, wenn man es nett ausdrücken möchte“, erklärte er.
„So schlimm?“
Er blinzelte und zog scharf die Luft ein, anstatt zu nicken, weil ihn die stichartigen Kopfschmerzen umbrachten. Es fühlte sich an, als hätte jemand sein Gehirn in die Hände genommen und es geknetet.
„Ich kann dir helfen.“ Sie wedelte mit einer Spritze in der Luft. Ihr war bewusst, was die Ärzte sagten, sie war bloß anderer Meinung. Und jeder wusste, dass ihre Meinung mehr zählte. Shuri hatte ein Talent für Medizin und Technik. Buckys Körper war dem von Steve nicht unähnlich. Es arbeitete anders, als bei anderen Menschen. Ihrer Meinung nach würde er die Medikamente schneller und effizienter abbauen, wodurch die Gefahr einer Abhängigkeit geringer war.
Er nickte und verursachte damit blitzartige Schmerzen. Shuri legte ihre warme Hand auf seine glühende Stirn. Bucky wünschte sich, es wäre Steve gewesen und schloss bei dem Gedanken die Augen. Die Spritze spürte er kaum noch. Die Welt versank schnell in Dunkelheit. Diesmal träumte er nichts, trotzdem wühlte ihn etwas auf. Innerlich. Tief in ihm verborgen.
Seine Seele war gebrochen. Er fühlte sich beschädigt, wie ein Uhrwerk, das mit der Zeit nicht mitkam und ihr deswegen keiner trauen konnte. Niemand konnte ihn reparieren. Hydra hatte seinen Geist beinahe zerstört. Sich davon zu erholen war schwierig, sogar mit Hilfe. Da war ein Loch in seiner Brust, wo einmal ein Herz gewesen war, das irgendwann mit warmen Erinnerungen gefüllt war. Man hatte es ihm genommen. Wie sollte er dieses Loch wieder füllen und womit? Es waren genau diese Gedanken, die ihn weckten, als die Sonne unterging.
Beinahe hätte er geschrien. In seiner Brust wütete unbändiger Zorn, der so stark war, dass er dachte, er würde jeden Moment explodieren und alles zu Asche verwandeln. Das Haus bis auf die Grundmauern niederbrennen mit allen Menschen darin. Alle die ihn hassten würde er töten, bis die Welt in Flammen stand. Ein Schrei kroch seine Kehle hoch, den er, wie immer, unterdrückte.
Sein linker Arm tat höllisch weh, was nicht sein konnte, weil er nicht da war. Das machte ihn wütender. Phantomschmerzen nannten es die Mediziner. Bucky war es egal, wie man es nannte. Verflucht noch mal, es sollte aufhören.
Seit Tony ihm den Arm weggeschossen hatte, hatten diese Schmerzen nie richtig aufgehört. Durch keine Spritze ließ sich das behandeln. Manchmal wollte er nach seinem Arm greifen, bevor ihm bewusst wurde, dass er nichts anfassen konnte. Auch das war eine psychische Sache und langsam nervte sie Bucky. Er war kein Psycho. Er war verdammt noch mal stark. Und nicht geistig krank.
Er drehte sich auf die Seite. Ihm war übel. Speiübel. Es machte ihn fuchsig, dass er allein war. Langsam, darauf bedacht keinen Brechreiz hervorzurufen, richtete er sich auf, bis er auf dem Bett kniete. Einige Minuten starrte er auf sein Kopfkissen. Sein Atem ging schnell, sein Herz raste und er schwitze stark.
Die Vergangenheit war wie ein Parasit, welcher all die Jahre an ihm genagt hatte. Der Teil, der weg war, würde nie wieder zurückkommen. Unbedeutend, mit welcher Kraft man versuchte, es zurückzuholen. Der alte Bucky war unwiederbringlich verloren und in dem Neuen hatte der Schädling etwas hinterlassen, das er nie loswerden würde.
Ein Schrei wohnte in ihm, seit Hydra den Winter Soldier aus ihm gemacht hatte. Dieser Schrei, der die Übelkeit hervorrief, wollte heraus, ob in brutalen Handlungen oder in Form eines Lautes. Seit er in Wakanda war, dachte er, er wäre ihn los. Doch nun rüttelte der Dämon erneut an seinen Gitterstäben und wollte hinaus.
Mit zitternder Hand nahm Bucky sein Kissen, lehnte sich etwas vor und drückte sein Gesicht so kräftig er konnte hinein und schrie das heraus, von dem er nicht wollte, dass die anderen es hörten. Es war ein hasserfüllter, brutaler Schrei, der zu einem schmerzhaften Ton wurde. Und da wusste er, dass er ein gebrochenes Individuum war. Er war der Psycho. Der Mensch, der er nicht sein wollte.
Geschockt von dieser Einsicht setzte er sich auf und starrte in die Leere, noch immer zur Wand kniend. Die Tür, die sich leise geöffnet und geschlossen hatte, nahm er nicht war. Auch nicht die Person, die im Raum stand und ihn mit gebrochenem Herzen betrachtete.
Das Bett gab nach. Es senkte sich unter der neuen Last. Auch das ignorierte Bucky. Starke Arme legten sich um ihn. Sogleich schloss er die Augen. Seine Hand verbarg das Gesicht, auf dem sich Qual abzeichnete.
Steve umarmte ihn und legte seine Wange auf Buckys Nacken. Er hielt seinen verloren geglaubten Freund, seinen gebrochenen Kameraden so lange in den Armen, bis das Beben, das durch Buckys ganzen Körper ging, anfing stetig abzunehmen.
Nachdem Buckys Wut und die Übelkeit verebbt waren, lag er ganz ruhig in Steves Armen, der ihn mit sich runtergezogen hatte und Bucky fest an sich drückte. Grabesstille lag über ihnen. Sie thronte in dem charakterlosen Zimmer. Das Heben und Senken von Steves Brustkorb hatte einen Rhythmus, dem auch Buckys Herz folgte. In diesem unendlichen Moment, in dem die Zeit stehen zu bleiben schien, gab es nur sie beide. Das war alles, was sie gerade brauchten.
Bucky klammerte sich an Steves Arm, der über seiner Brust lag. Er dachte daran, wie er Steve festgehalten hatte. Auf die gleiche Art und Weise, wie Steve ihn jetzt festhielt. Früher noch, als Steve, sein Punk war und Bucky, Jerk. Als Steve noch klein und kränklich war und Bucky sein starker Beschützter. In den Jahren, als der Zweite Weltkrieg herrschte und die Menschen hungerten. Als sie die Heizkosten nicht bezahlen konnten und ihnen das Holz ausgegangen war. Sie hatten sich gegenseitig gewärmt. Bucky versuchte Steves Stimme von damals zu hören. Rief sie aus seinen Erinnerungen hervor, die all die Jahre gelitten hatte und er bettete zu Gott sich zu erinnern. Aus dieser Bitte manifestierte sich ein Moment aus vergangenen Jahren.
„Eines Tages werden wir tun, was wir wollen. Wir werden dahingehen, wo es warm ist und uns erfrischende Cocktails servieren lassen.“
„Cocktails? Da müssen wir uns erst mal erkundigen, wovon du keine allergische Reaktion bekommst“, hatte Bucky gewitzelt und darauf einen Ellbogenschlag von Steve bekommen.
„Wir werden glücklich sein. Eines Tages, Bucky, werden wir das Leben genießen.“
„Ich weiß“, sagte er, obwohl er diesen Worten keinen Glauben schenken wollte, konnte er nicht anders, als darüber zu lächeln und sich von Steves Worten mitreißen zu lassen. Im Herzen glaubte er Steve jedes Wort, auch wenn er es nicht wollte.
„Aber weißt du was?“
„Was?“, fragte Steve und sah geradeaus auf das Fenster, auf dem der Winter aus Schneekristallen ein Kunstwerk gemalt hatte.
„Ich bin schon recht glücklich, muss ich zugeben“, er schmunzelte. „Obwohl wir frieren und ich noch immer nicht weiß, was wir essen sollen.“
„Ah ja, das glaube ich dir. Ich bin ja auch derjenige, der deine kalten Füße ständig ertragen muss.“ Sie hatten sich noch weiter aufgezogen und Witze gemacht. Aber an die genauen Worte konnte Bucky sich nicht mehr erinnern.
Er spürte, dass er bei dem Gedanken ruhiger wurde, obwohl er wusste, dass nichts mehr davon stimmte. Das alles, was sie hatten, unwiderruflich verloren war. Aber es war okay, solange sie einander hatten und er, obwohl er den kleinen Steve sehr mochte, den großen Steve genauso gern hatte. Die Erinnerungen prasselten auf Bucky ein, bis er die Augen schloss und weiter, immer weiter aus der Vergangenheit zurücktrat und hinein in die Zukunft, als er Steve zum ersten Mal wieder traf.
„Bucky?“, geisterte Steves Stimme in seinem Kopf, wie ein Echo. „Buck?“, ertönte es erneut und Bucky verstand, dass es keine Erinnerung war.
„Hm?“
„Es ist schön dich wieder zu haben“, flüsterte Steve in die Stille.
Weil Bucky nichts darauf erwiderte, fuhr er fort und Bucky war dankbar für seine Stimme und den Atem, der seinen Nacken streifte und ihm zeigte, dass er nicht nur träumte.
„Alles wird gut, das verspreche ich dir. Wir schaffen das.“ Steve vergrub sein Gesicht in Buckys Haaren.
Lange lagen sie da, Arm in Arm und irgendwann schliefen sie ein. Erst die Sonne weckte Bucky auf. An diesem Tag fühlte er sich besser. Ausgeschlafen. Auf dem Weg ins Bad glitt sein Blick aus den großen Panoramafenstern. Im gefiel Wakanda. Vielleicht würde er hier bleiben, wenn man es ihm erlaubte.