Es dämmerte unlängst und die Zeit, in welche sich jene, die über keine halbwegs sichere Unterkunft verfügten fieberhaft in Verstecke verkrochen, stand bevor. Seltsam schien die augenscheinlich geordnete Flucht, oder ... nein, natürlich nicht. In diesem Viertel trieben sich zur Sperrstunde freiwillig weder irgendwelche Schergen Thules noch jene der ›Obristen‹ herum. Die Gefahren, die nebenher gegenwärtig waren, waren gänzlich anderer Natur und zumeist absehbar.
Laue Winde zogen von Seeseits herein und vertrieben die drückende Schwüle, die sich allerorts tagsüber breitmachte und den Arbeitenden schwer zur Last viel. Wenn man all die Laster, die einem bedrückten, außer Acht ließ und schlicht die am Horizont untergehende Sonne beobachtete konnte man die wenige Zeit, die verblieb, bis die Sperrstunde ausgerufen wurde, tatsächlich auskosten und genießen.
Seichte Wellen zauberten Regenbogenfarben der verbliebenen Sonnenstrahlen auf dem Wasser des Hafenbeckens. Wären nicht die unsäglichen Hämegeräusche aus dem umfriedeten Bereich, es gäbe so etwas wie malerische Idylle.
Bauchige Schiffe, Lasten- und Fischerboote und sich selbst überlassene Jagdboote von den wohl bekannten Seebarbaren, wie sie in Holmfirth genannt wurden, tanzten jedes für sich einen gänzlich eigenen Reigen.
Seebarbaren, was für ein Unsinn. Nur weil seine Urväter in der Lage waren auch die raue See zu befahren und Schiffe in ihren angestammten Gebieten ihrer Waren zu erleichtern, hatte doch nichts mit Barbarei zu tun. Männer wie er vergingen sich weder zur heutigen Zeit noch zur damaligen, an Schwächeren. Drängten sie nicht in Schlüpfrigkeiten oder befriedigten sich an derer Qualen.
Gleichwohl, etwas in ihm wiederstrebte es, sich Tag ein Tag aus mit diesen Menschen zu umgeben. Andererseits spürte er darin auch eine Art Befriedigung, die Scharen unter Kontrolle zu haben. Oftmals war sein handeln den ›Obristen‹ ein Dorn im Auge und gleiche scholten ihn ebenso oft, wie sie ihn beleidigten. Ihm war es egal. Er war der Hauptmann der Stadt und somit unterlagen viele der hiesigen unter Waffen stehenden seinem Wort. Das vertrauen, welches man in ihn hegte galt in Raten, so viel war ihm durchaus bewusst. Dennoch, etwas in ihm sagte ihm immerzu, dass es richtig sei und er nicht mehr lange ausharren müsse.
Die ›Obristen‹ predigten stets dieselben Worte. »Keinesfalls darfst du dem Pöbel helfen. Dem einfachen Pack zur Seite stehen noch in irgendeiner Form behilflich sein.«
Ja verdammt, all diese Dinge waren mehr als offensichtlich und schickten sich nicht für einen Anführer, der Stärke zu beweisen hat. Aber dennoch ... da war etwas in seinem Inneren, eine Stimme, die er glaubte zu kennen. Ob diese der gleichen Frau gehörte, von der er sein Amulett erhielt?
Beinahe zu jeder Nacht, wenn der Schlaf ihn trotz aller Bemühungen dennoch übermannte, suchte ihn das Feuer heim. Eine Brunst, die sich durch ein komplettes Dorf fraß. Hilflose Schreie und hämendes Gelächter. Eine kindliche Hand, die über ein rußverschmiertes Gesicht einer Sterbenden strich. In derer letzten Sekunden drückte sie der kleinen Hand ein Amulett in die Hand und ermahnte ihn. An die Worte hingegen vermochte er sich nicht erinnern. Die vergehenden Laute gingen in dem Tosen unter, als er sich von ihre entfernte. Das Meer trieb ihn, so ahnte er, in einem mickrigen Boot davon.
Sebold wusste, um das Verbot, welches er bereits ungezählte Male zu hören bekam. Im wahrsten Sinne, er Schiss auf die harschen Worte dieser einfältigen Weisung.
Die eingestürzte Hafenmauer befand sich mitten im Grenzgebiet zum geschützten Stadthafen und der ›grauen Zone‹. Niemand der halbwegs bei Sinnen war, würde sich freiwillig nach Ausrufen der Sperrstunde über die Grenzstelen hinaus wagen. Sebold hingegen interessierte sich für derlei nicht. Er genoss das Ansehen der Schergen und die Obacht der Bewohner des Viertels.
An Abenden wie dem aktuellen, war er häufig auf einem zerborstenen Poller anzutreffen und ließ die Beine baumeln, in den Händen einen scheinbar alten hölzernen Anhänger.
Er summte und schien den sich Nähernden gar nicht zu bemerken.
Wie so oft trat er an die alten Kaimauern und betrachtete den rot glimmenden Horizont. Immer dann, wenn die untergehende Sonne die Oberfläche des Ozeanes berührte stieg Nebel auf und trieb hinüber zum Ususmeer. Das Meer kochte an jenem Ort und zeigte sich blutrot.
Ein Schmunzeln huschte ihm über die Lippen, als er an die alten Sagen dachte und dem, was sein Volk einst als Vorhaben angedachte. Die Clans der fünf Inseln einen und ein Königreich gründen. Es sollte nicht mehr heißen die ›Siebenkönigsgrenze‹, sondern derer Acht, doch der alte Adel hielt nicht Wort.
Dolvi wusste, das Holmfirths Hauptmann sich hier herumtrieb und wie er selbst, gern den Horizont beobachtete. Er hörte ihn bereits von weitem Summen und das Herz wurde ihm schwer. Er nährte sich ihm, wusste, dass der Mann ihn bemerken müsse, machte hingegen keinerlei Anstalten. Er summte dieses uralte Sagenlied einfach weiter.
Lange lauschte er und versuchte auf dem Amulett etwas erkennen zu können, obgleich dieses bereits arg abgenutzt und gewetzt schien. Wie oft musste diese arme Seele dieses bereits in den Händen gehalten haben?
Dolvi bemerkte vorerst gar nicht, dass Sebold ihn musterte und aufhörte das ihm wohl bekannte Lied nachzusummen. »Wieso beobachtet mich der Maskenmann und wieso stellst du mir nach?«
Der Frage ausweichend deutete Angesprochener auf den Anhänger, der er einstmals war. »Weist du, was das ist und woher du es hast?«
Dessen Blick fiel abermals auf die fast abgeriebenen Insignien. Mit etwas Fantasie konnte man einen Berg erkennen und etwas was aussah wie ein Leuchtturm, wie er hier an der Zufahrt des Hafens thronte.
»Nein. Ich habe diesen schon immer besessen ... glaube ich.«
»Du glaubst, Sebold? Und dieses Lied, welches du immerzu summst?«
Erstaunt hob der Hüne den Blick und sah seinem Gegenüber ins Antlitz. »Weißt du, wer ich bin? Woher ich komme?«
Diese nickte und malte mit ausgestrecktem Zeigefinger die Maserung im Amulett nach. »Ich glaube zu wissen, wer du bist und wenn du seit Anbeginn diesen Anhänger, das Zeichen der Seewacht, den Wächtern der fünf Inseln, dein Eigen nennst, dann steht die Frage im Raume, wieso du dich mit denen abgibst.« Mit dem Kopf nickte er in Richtung des gesicherten Hafens.
Der Adamsapfel zeugt von dem schweren Kloß, den Sebold versuchte hinabzuwürgen, als er leicht den Kopf senkte. Er begann ausgerechnet dem Mann ins Vertrauen zu ziehen, den er am wenigsten kannte.
Er berichtete ihm von dem Feuer und den vor Schmerzen Schreienden. Den blauhäutigen Leuten, die die fliehenden gedankenlos malträtieren und verhöhnten. Auch von jener Sterbenden, die ihm seinen Anhänger überreichte, als sie von ihm ging. Als man ihn damals als kleinen Jungen fand, steckte er in einem bisher ungesehen kleinen Boot auf hoher See. Apfelkäuze und ein kleines Fläschchen mit noch einem winzigen Schluck Wasser waren seine einzigen Begleiter.
Abermals begann er zu summen, als er seinen Oberkörper vor und zurückwiegte. Das war es also, was sein Geist ihm vorenthielt.
Dolvi lauschte und erkannte, dass seelisch Gebeutelte immerzu den Kehrreim wiederholte. Er hoffte inständig etwas in ihm zu erreichen und begann den Lauten eine Stimme zu verleihen. Sebold hing an seinen Lippen und formte die Worte unhörbar nach.
Kein Sturm kein Streit, kein Stolz und auch kein Leid.
Zerreißt den Bund, wir stehn geschlossen bis zur Letzten stund.
Wir sind uns treu bis in den Tod auf hoher See in tiefster Not.
Wir sind uns treu bis in den Tod, bis der Teufel kommt und uns alle holt.
Wir sind uns treu, wir sind uns treu.
Wir sind uns treu, wir sind uns treu.
Bis in den Tod.
Ein Kurs, ein Weg und ein Schiff, dass alle trägt.
Sei stark, halt Stand, wir stehn geschlossen Hand in Hand.
Wir sind uns treu bis in den Tod auf hoher See in tiefster Not.
Wir sind uns treu bis in den Tod, bis der Teufel kommt und uns alle holt.
Wir sind uns treu, wir sind uns treu.
Wir sind uns treu, wir sind uns treu.
Bis in den Tod.