Während dessen der hünenhafte Seebär und Jarl sich seinem Sinnspiel, den Geist dieses dösigen Hauptmannes zu ergründen, tagelang ergab, ging Alric seiner eigenen - verzweigten - Wege.
Beobachten, ausspähen und winzige Fäden spinnen, die bei Zeiten zu einem festen Garn führten, das war es, was man ihm vor vielen Jahren auftrug. Es gab hierbei nur einen einzigen Umstand, der seine bisherige Muße beeinträchtigen konnte. Der rechte Zeitpunkt.
Aus dem feinen Gespinst feinster Fäden war unlängst zugfestes Garn, welches darauf wartete, zu einem Tau und schlussendlich zu einem Ganzen zu verknüpfen. Die vielen einzelnen Stränge waren zum Bersten gespannt und die Zeit wie der ausgeübte Druck seitens der Häscher Thules schien ungebrochen.
Wo tagsüber die Scharen Holmfirth für vermeidliche Ordnung sorgten, zerklüfteten frei umherlaufende Clans als auch zersprengte Banden das Letzte bisschen noch vorhandene Zuversicht.
Ungeachtet aller Behauptungen, die über ihn kursierten ...
Er, der Maskenmann.
Er, der mit den Schatten läuft.
Er, der Integrand und Volkshetzer.
Er, der Eidbrecher und viele angedichtete Eigenschaften noch hinzu.
Ein Schattenjäger, noch dazu der führende Kopf, das war er ... und noch etwas mehr. Ausgenommen seinem Vetter kannte niemand seine wahre Person.
Seine Hand fand wie von Geisterhand geführt den Platz, an welchem das Herz pochte. Der Schmerz, über den Verlust Alnas, saß noch immer tief.
Alric war und würde niemals von sich behaupten es jemals zu sein. Weder göttlich noch erhaben gehörten zu seinem Sein. Ohne die Schattenjäger wäre er nahezu nichts. Sie waren es, die ihm fortwährend Bericht erstatteten und Beobachtungen zutrugen.
Allein war er nur ein einzelner Mann, ein jemand, der nichts weiter zu Stande bringen konnte. So jedoch hielt er vielerlei Fäden in den Händen und trug maßgeblich ihrer Schicksale bei.
Dolvi vertrat nach wie vor die Ansicht, dieser umnachtete Hauptmann wäre einer der Seinen. Er wäre sogar bereit seine rechte Hand zu opfern, dass eben jener sinnbefreite Kerl der todgeglaubte Knabe des letzten weiblichen Jarls sei. Demnach müsse dieser dann eine recht wichtige Stellung auf den Inseln bekleiden.
Die Seewacht war der letzte befestigte Außenposten und galt als etwas wie ein Leuchtfeuer in dem Gewirr aus nadelspitzen und messerscharfen Kliffen. Vorrangig diente diese Feste als Warnmal der Weiler und übrigen Inseln.
Er meinte eines Abends, solange keine einträchtigen Berichte kämen, dass er das gebrochene Wort seiner Leute doch in irgendeiner Form begleichen könne, lieber auf eigene Faust tätig werden wolle. Er mahnte ihn immerzu, dass sein Wort Gewicht habe und er wisse, wo er zu suchen habe, würden die Meldungen anders lauten.
Alric vertraute darauf, dass die Order, die er Rondal auftrug, eingehalten wurde. Falkenau benötigte dringend die Eisen und Waffenlieferungen der Inseln. Die Seemannen waren ein unschätzbarer Verbündeter in ihrem Vorhaben, sich der Knute Thules zu befreien. Dafür bedurfte es vorerst jedoch das gebrochene Vertrauen wieder herzustellen. Er baute darauf, dass man seinem Urteil Gewicht beimaß und eine gewisse Person nicht informiert wurde. Alric traute ihm nicht. Zu viele unerklärbare Ereignisse sorgten in der Vergangenheit für Misserfolge.
Dolvi verbrachte Stunden am Pier, doch kein ihm bekanntes Boot noch Gesicht landete an, um ihn die ersehnte Nachricht zu übermitteln.
Um den Seebären derweil aus dem Weg zu gehen, hielt sich Alric oftmals außerhalb der Stadtmauern auf. Nachdem er den ›Obristen‹ Hinweise über das Vorhaben Lord Bestlins gesteckt hatte, musste er sich ebenso oft selber innerhalb der Mauern auf unbestimmte Zeit zurücknehmen.
Ein Gutes hingegen hatte das entflechten diverser Fäden von seinem Gespinst. Die einsten Landflächen der Berengar blieben fortan von Übergriffen unbehelligt und die ›Obristen‹ setzten die Gebote der Grenzüberschritte tatkräftig um. Die Landnutzung und Umgestaltung der ländlichen Ordnung konnte so seinen Lauf nehmen. Er wusste seit geraumer Zeit, das Veyed und Kayden beginnend der Dämmerung das Land beritten.
Die Schattenjäger selbst berichteten ihm davon, so auch von den versteckten Insignien oder der übergebenen Wimpel. Es war und blieb ein gewagtes Unterfangen, würde eines dieser gefunden, das Land würde binnen Stunden brennen - im wahrsten Sinne des Wortes. Der Stein jedoch war unlängst ins Rollen gebracht, wenngleich er noch immer verunsichert blieb, dass nunmehr Kayden und nicht Veyed der ›Falke‹ sein solle.
An jenem einen lauen, wohl aber sternenklaren Abend war Alric wieder allein unterwegs und suchte Schutz in den Schatten des Umlandes. Seine Fährte führte ihn zu einer kleinen Ansammlung Unterkünfte, die vor Jahren noch eine Dorfgemeinschaft darstellten, die Falkenau wohl gesonnen war. Viele deren Bewohner fristeten nun hinter den schützenden Mauern Memnachs oder sind wie andere schlicht gestorben gar ermordet.
Sofern die ›Obristen‹ nicht bald ebenfalls Schutz auch während der Nächte boten, würde Agrea weiter ausgedünnt. Selbst wenn es ihnen dann noch gelänge, die Oberhand über die Besetzer zu erringen, es würde Generationen brauchen, bis das Land wieder zur früheren Stärke zurückfände. Daran vermochten selbst die geflohenen Massen Falkenaus nichts zu ändern, wenngleich einige derer zurück zu ihren Häusern kehren würden. Blut würde Bächen gleich fließen. Bäche alsdann in Flüssen enden. Inständig hoffte er, die Banner Falkenaus wehten eher gestern als heute über die Ebenen Agreas und der ›Falke‹ riefe zum Sturm.
Beißender Geruch stieg ihm in die Nase und trommelndes Gehämmer wie enthemmtes Gelächter stahl sich in sein Gehör. Selbst die Nacht vermochte den aufsteigenden Rauch nicht gänzlich verdecken. Alric wusste, er war zum Beobachten verdammt. Seine Bürde, das gebot unbeteiligt zu bleiben, bis der Tag gekommen sei, verfluchte ihn zur Untätigkeit. Warum er? Ausgerechnet, wo er es doch sein könnte, der ... Nein, er schalt sich einen Narren. Sein Gewissen, so ehrbar es auch schien, würde mehr schaden, als nutzen.
Als er sich der schützenden Baumgrenze nährte, verharrte er.
Auf einer kleinen Anhöhe, aufgeschüttet von den damaligen Bewohnern, krauchte er auf allen Vieren. Von dort aus würde er den besten Blick haben, ohne selbst gesehen werden zu können. Seine Hände gruben sich tief in das Gras. Er spürte seine Finger unterhalb der Oden und seine Gelenke knacken.
Es glich Hohn sondergleichen, dass dieser Ort, von wo er diesen Bastarden so nahe zu sein schien, doch so fern war. Auf diesem fanden sich an jedem siebenten Tag einst jene ein, die den Worten der Gelehrten lauschten.
Eine Träne rann ihm die Wange hinab, die er sich unschlüssig mit der von Erde beschmutzten Linken abwischte. Seltsam, war es doch nicht er, der ein Leben nahm.
Einer mordlüsterne Bande oder einer der umherstreifenden Clans gierte es mal wieder. Zweifelsfrei war das, was sie an diesem Ort taten ungleich der sonstig alltäglichen Geschehnisse. Schwer ging sein Atem und wiederkehrend schluckte er bittere Galle. Seine Oberarme zuckten unstet und begannen zu schmerzen.
Auf dem Dorfvorplatz, zumindest jenem, der mal als ein solcher angelegt und gedacht war, brannte es lichterloh. Diese vermaledeiten Bastarde haben alles, was brennbar aussah, wenn es dem Anschein auch nicht viel sein konnte, zusammengerafft und den Flammen übergeben, ebenso wie das zweistöckige Haus gegenüber der alten Wegeschänke.
Sie waren nicht gekommen, um zu plündern, soviel blieb offenkundig. Diese Leute verfolgten ein anderes Ziel und er schwor, es herauszukriegen. Wer auch immer hinter diesem frevel stand, würde bezahlen.
Panische Schreie zerrissen die unlängst aufgewühlte Nacht. Alric schloss die Augen und biss sich auf den Knöchel des Zeigefingers.
Er zählte sieben dunkel gekleidete Gestalten, die immerzu um dieses Gebäude herum eilten, mit ihren Schwertern auf vernagelte Läden hämmerten und wüst brüllten oder lachten. Sie mussten die Bewohner wie Vieh in dieses Haus getrieben haben, um sie dort elendig verrecken zu lassen.
Gierig züngelten die weiß-roten Flammen an dem trockenen Holz der Fassade. Als verfüge das Feuer über einen eigenen Geist und spiegelte das krankhafte Sinnbild dieses marodierenden Abschaums, umschloss es tosend das gesamte Gebäude und reckte seine unersättlichen Finger himmelwärts. Der Feuersbrunst gierte es nach Nahrung, wenngleich es sich um lebendiges Fleisch handelte.
In Gedanken formten sich Bilder, die ihn unaufhaltsam durchfluteten.
Haare die erst schmorten, dann in Flammen aufgingen.
Brennende Kleidung, die ungelenk von Körpern gezerrt wurde.
Haut die vor Hitze anfing Blasen zu bilden, blutend aufriss und schwarz kohlte.
Leblose Hüllen, deren Augen und offenstehende Münder mahnend auf noch Leidende blickten, obgleich kein Auge und keine Lippe mehr vorhanden.
Lüsternes Gejohle zerrte ihn aus den trüben Gedanken, die sich unweit von ihm wahrhaftig zutrugen. Er war im Begriff aufzuspringen und den Zweien ein sofortiges Ende zu bereiten, als eine weitere Person um die Ecke trat und mit der freien Hand seinen Gürtel öffnete. Mit der anderen hielt er einen Krug und rülpste frohlockend.
»Na macht schon. Bevor ihr die Kleine mit euren Sackratten verpestet, will ich auch noch einen wegstecken. Verpiss dich mal und lass eine richtige Lanze ran«, höhnte dieser.
Das Mädchen konnte keinesfalls älter als Veyed gewesen sein, als sie vor Jahren vor Bestlins Männern flohen. Mit gerafftem Rock lag sie vornüber eines vermutlich extra für diesen Akt umgestoßenen Fasses.
»Mann, die Schlampe hat doch drei Löcher. Wieso können wir nicht alle zusammen unseren Spaß haben?«
»Schnauze, ich muss mich konzentrieren«, blaffte letzterer.
Die ersten beiden grölten, und schlugen sich erheitert auf die Oberschenkel. »Du weißt nicht mal, was das ist. Lanzenträger warst du? Fabelhaft.« Abermals lachten sie und Alric glaubte den leeren, geistlosen Blick der Geschändeten auf sich ruhend spüren zu können.
Der Dritte begehrte frustriert auf. Er rotzte dem armen Ding auf den Rücken, als er sich ihr entzog, während die beiden anderen ihn weiter auslachten.
»Wenn ich dich nicht bekomme, fickt dich keiner«, brüllte er, als er seinen Gürtel von der Hose zerrte und ihr um den Hals schlang. Mit aufgelegtem Knie riss er sie brutal in die Höhe.
Alric konnte nicht hinsehen. Beschämt wendete er den Blick und wünschte sich, die vier Schattenjäger nicht fortgeschickt zu haben. Gemeinsam hätte sie eine Möglichkeit gefunden, diesem Elend ein Ende zu bereiten.