Die beiden Steinstufen hinauf, ein Griff nach rechts unter den leeren Blumenübertopf im kleinen Fenster und ich habe den Schlüssel. Nichts hat sich geändert. Die Haustür geht schwer, weil sich das Haus gesenkt hat, Anfang der siebziger, kurz nachdem wir eingezogen waren. Endlich ein eigenes Zimmer für jede von uns.
Zwanzig Quadratmeter, von Ilona mit Postern tapeziert. Schottenkaros. Bay City Rollers. The Sweet. David Cassidy. Und Mittwochs immer mit dem Cassettenrekorder mitschneiden, bei der »Diskothek im WDR«: Shang a Lang, I only wanna be with you.
Das Haus müffelt, zwei Wochen nicht gelüftet. Im Wohnzimmer die dicken Teppiche, die schwere Sitzkombi. Schwarzes Leder. Couchtisch. Und in der Schrankwand zwei Meter Bertelsmann Lesering und was wir damals sonst alles unter der Bettdecke verschlungen haben. Tal der Puppen. Die Liebesmaschine. Angelique. Alles aufgehoben, denn Bücher wirft man ja nicht weg.
Der Streuselkuchen vom Leichenschmaus liegt mir im Magen. Natürlich sind wir bei Kerkhoffs gewesen, hier in der Siedlung geht man nach einer Bestattung zu Kerkhoffs. Die Tische zum Hufeisen gestellt, Streuselkuchen und Kaffee. Oder Tee. Teebeutel mit heißem Wasser.
Das Zimmer, das Haus nimmt mir die Luft. An der Garderobe ihr anderer Mantel, der Schal. In der Küche noch der Frühstücksteller auf dem Tisch, zerlaufene Margarine, ihre selbstgemachte Marmelade, ein brauner Rand vom eingetrockneten Tee in einer Tasse. Mir wird der Hals eng. Ich mache das Fenster auf und heule ein bisschen.
Das ist also das Ende. Für mich. Ab jetzt hab ich nichts mehr mit der Siedlung zu tun. Keine Anrufe mehr, einmal in der Woche.
»Kommst du zurecht?«
»Aber ja. Muss ja.«
»Was machst du denn so?«
»Nichts besonderes. Ein bisschen aufräumen. Ist ja so viel zusammengekommen.«
»Ich ruf nächsten Sonntag wieder an.«
»Ja, mach das. Ich bin hier.«
Das dauert bestimmt Wochen, bis ich das alles hier aufgelöst habe. Kann ich überhaupt solange hier bleiben? Nächste Woche muss ich wieder am Platz sein, weil dann die Verhandlungen mit den Amerikanern anstehen. Und die wollen nur mit mir sprechen. Linda Bayer, Chief Financial Officer.
Im Schlafzimmer das Ehebett. Beide Seiten bezogen, ihre Seite benutzt. Auf dem Nachttisch ein paar Medikamente. Gegen Bluthochdruck, etwas für die Beine. Sowas muss man in der Apotheke abgeben, oder? Ob die Kleinschmitts noch an der Poststraße sind? Wenn alles seinen Gang gegangen ist, müsste jetzt Dirk die Apotheke übernommen haben. Dirk Kleinschmitt. Lange Haare, sanfte Augen, ausgeleierte Jeans und eine Felljacke, Schaffell oder so, was halt damals angesagt war. Er hatte eine eigene Stereoanlage, in seinem Zimmer hinterm Haus, mit Plattenspieler, Tuner, Vorverstärker und Wahnsinnsboxen, wo man so richtig aufdrehen konnte, wenn die Eltern auf Abo im Theater waren.
Give a little love, take a little love. It's a game.
Leslie, Eric, Stuart und Derek.
Sie sei etwas verwirrt gewesen, am Morgen in der Bäckerei, hat Doktor Brenner gesagt, als er mich vorgestern in Phoenix am Telefon erreichte. Habe geschwankt, war unsicher auf den Beinen. Konnte sich nicht artikulieren. Ist dann zusammengebrochen. Notarzt, Intensivstation, Herz-Kreislaufversagen, nichts mehr zu machen. Mein Beileid.
Der Moment, in dem alles stillstand, nachts um drei in einem Businesshotel in Phoenix. In meinem Terminplaner standen noch die beiden Meetings mit den Amerikanern, es wäre Wahnsinn gewesen, die zu canceln.
Bestattungen Schumacher, immer noch die gleiche Adresse, jetzt auch mit eigenem Internetauftritt. Ein paar Anrufe. Horst Schumacher. Eine schwache Erinnerung an ein schmächtiges Pickelgesicht, in Ilonas Klasse, eine unter mir. Er hat das Geschäft von seinem Vater übernommen. So geht das hier in der Siedlung. »Bayer... Linda Bayer?« Seine Stimme am Telefon war professionell mitfühlend. »Ich erinnere mich. Wir haben auch Ihren Vater bestattet, vor fünf Jahren, nicht wahr? Und wenn ich mich nicht täusche auch damals …«
»Ja«, habe ich gesagt, »damals, das war meine Schwester. Ilona.«
»Ah ja.« Pause. Dann: »Ich werde mich um alles kümmern. Es genügt, wenn Sie zur Bestattung hier sind. Dann können Sie auch alle Unterlagen unterschreiben.«
Die Kellertür knarrt, ich finde automatisch den Lichtschalter, rechts, ein Stück zu niedrig angebracht. Die Holztreppe. Unten ist es ein bisschen feucht. Alte Möbel. Blechregale mit ihrer selbstgemachten Marmelade, aufgereiht nach Einkochjahr. Vor sieben Jahren, vor sechs, fünf, vier, drei, zwei …
Mein Schaukelpferd. Mein Puppenwagen. Ilonas Kinderbett. Ihr Dreirad. Und da hinten in der Ecke ist … ja: mein Teeregal.
Rattan, für 25 gesparte Mark, aus dem Billigladen am Reinoldiplatz. In dem Wäschekorb daneben: die Reste meiner Teesammlung, in braunen Schraubgläsern, jedes ordentlich mit einem Etikett. Mango Royale, Blutorangen, Wildkirsche, alles aus dem Teeladen, gleich neben dem Billigshop am Reinoldiplatz. Meine Teerunden mit Carola und Karin. Die Gardinen zugezogen, Räucherstäbchen angesteckt, die Teekanne auf dem Stövchen, Platten hören und über Jungs quatschen.
Rock 'n Roll Love Letter. - Keep On Dancing. - It's a Game.
Leslie, Stuart, Eric und Derek. Mein Gott, ja, Teenager brauchen solche Jungs, egal ob sie nun Take That heißen oder Tokio Hotel.
Die Teegläser sind leer. Naranquilla, Sunny Island, Kokos, Black Currant, Vanille. Das wars. Kein Black Indigo. Den Namen habe ich mir damals selber ausgedacht, ihn ordentlich auf einen Aufkleber geschrieben, den Aufkleber aufs Glas und das Glas ins Teeregal, das war das perfekte Versteck.
Unser Geheimnis. Unser buntes Geheimnis. Schillernd, aufregend. Indigo. Wer war eigentlich als Erste darauf gekommen? Carola? Oder Karin?
»Du, das ist der Wahnsinn ...«
»Ja was?«
»Du siehst Farben, du fühlst dich ganz warm, und manchmal fliegst du auch weg.«
»Ja was denn?«
»Klaus hat's mir besorgt.«
Kichern, in der Ecke vom Schulhof. »Klaus hat's dir besorgt?«
»Du bist sowas von blöd!«
Engelstrompete. Klaus war der Sohn vom Biologielehrer und hatte irgendwo in den Büchern seines Vaters darüber gelesen, dass man aus den Blättern Tee machen konnte. Irgendein altes Rezept. Er hatte es sich besorgt und Karin hatte es mit ihm zusammen probiert. Aufgießen, abseien, abkühlen lassen, dann in kleinen Schlucken trinken. Und man hebt ab.
Wir waren ganz aufgeregt, als Karin zum ersten mal etwas von dem Zeug in einem Tütchen mitgebracht hat. Wir waren allein, Karin, Carola und ich. Die Eltern waren beim Schützenverein. Ilona zählte nicht, die war in ihrem Zimmer und schrieb ihre Autogrammbriefe an die Adressen aus der BRAVO.
»Dear Les, dear Stuart, dear Eric, dear Derek, I am a great fan of your band. Could you please send me an autogram.«
Karin hatte so um die hundert Gramm mitgebracht, getrocknete Blätter, schwarz, bröcklig, wie Tee eben. Deswegen war ich auch auf die Idee mit dem Black Indigo gekommen, im Teeregal.
Kleine Schlucke. Gespanntes Warten. Kichern.
»Spürst du schon was?«
»Und du?«
»Mir ist so warm.«
»Oh Mann …«
»Was denn?«
Farben. Herzrasen. Schweißausbruch. Noch mehr Farben. Ein Rauschen. Und der Absturz in den Regenbogensog. Irgendwann wieder auftauchen. Schwitzend, trockener Mund, aufgeregt... »Oh Mann, war das geil.« Kichern. Mädchengeschnatter.
»Hast du gesehen …«
»Was?«
»Deine kleine Schwester hat sich an Klaus rangemacht.«
Ilona? Ein Jahr jünger, noch mit Babyspeck und Pickeln. An Klaus?
»Nee, oder?«
»Doch!« Karin kichert eifrig. Und Carola nickt. »Ich glaub, die knutschen schon.«
Nein. Nicht Klaus. Und nicht Ilona. Klaus ist achtzehn, hat ein Motorrad und wunderbar blaue Augen. Und er hat mit mir geknutscht, vor drei Wochen auf der Disco im Jugendzentrum. Seine Hände waren unter meinem Pulli, meine Brustwarzen waren hart und meine Knie weich. Aber nicht weich genug.
»Bitte … nicht …«
»Ich liebe dich. Wirklich, Linda.«
»Jaaa …«
»Du willst es doch auch.«
»Lass mich. Ich brauch noch Zeit.«
»Klar. Natürlich. Wenn du meinst.«
Die Treppe ins Obergeschoss knarrt noch immer. Rechts mein altes Zimmer. Mit den vielen Schrägen und dem Fenster nach vorn zur Straße raus. Links Ilonas Tür mit dem Baustellenschild, das sie mal geklaut hat: BETRETEN DER BAUSTELLE VERBOTEN.
Die Klinke zu Ilonas Zimmer lässt sich herunterdrücken. Hat Mutter es also doch noch geschafft, das Zimmer wieder aufzuschließen. Nach all den Jahren.
Alles ist noch wie damals, als wäre Ilona nur kurz rausgegangen. Schleiflackmöbel. Flokatiteppich, der Knautschsack mit den Plastikkügelchen zum Sitzen. Ihr Schreibtisch, die Schulbücher ordentlich aufgestellt - da hat doch jemand aufgeräumt. An der Wand immer wieder die Rollers. Les und Eric und Stuart und Derek. Schottenkaros, bunte Klamotten, Teenagergrinsen. Yesterday's Hero. - Summerlove Sensation. - Love me like I love you.
Spitzengardinen am Fenster, die Schlafcouch mit dem indischen Überwurf und daneben an der Wand ihr Teeregal. Sunny Island, Sweet Orange, Vanille. Ein Foto im Silberrahmen. Klaus auf seiner Honda. Ich fröstele.
Ilona, an diesem Nachmittag. Völlig aufgedreht. Donnert sich auf, kommt gar nicht mehr raus aus dem Bad. Seit drei Wochen geht das jetzt schon so. Jeden Samstag. Ganz süße sechzehn.
»Klaus holt mich nachher ab!" Ilona glüht.
»Das ist der mit dem Motorrad, oder?" Unsere Mutter.
»Wir wollen … äh … ins Kino.«
Ich kann es nicht glauben. Klaus und Ilona. Er hat mit mir geknutscht. Wenn ich daran denke, dass er jetzt mit den Händen unter Ilonas Pulli fährt, an ihre Minititten … Von wegen ins Kino. Jeden vierten Samstag ist Klaus alleine, da besuchen seine Eltern irgendeine Tante in Flensburg. Er wird es mit Ilona machen, nachher, ich weiß es einfach.
»Linda … kann ich deine Teekanne habe? Wir wollen noch Tee trinken, eh wir losfahren.«
Ich weiß nicht, wie lange ich sie angestarrt habe. Natürlich will sie mein Teezeug, weil ihre Kanne absolut hässlich ist, braunes Steingut, mit irgendwelchen blöden Ornamenten.
»Linda, bitte, dein Teezeug, ja?«
Was soll ich sagen? Ilona ist schon wieder im Bad, weil irgendetwas mit den Haaren nicht stimmt. Und ich trage meine Teesachen in ihr Zimmer. Teekanne, Stövchen. Tassen. Ilona hat ihr Glas mit dem Sweet Orange schon herausgestellt. Klaus mag Sweet Orange. Das hat er mir jedenfalls mal gesagt.
Ich schraube das Glas auf, und dann lasse ich eine Handvoll Black Indigo hineinrieseln. Schöne Träume, ihr beiden! Von wegen Kino.
Mein Herz pocht. Ich bin in meinem Zimmer, als Klaus kommt. Kurzauftritt im Wohnzimmer bei unserem Vater. Dann zu Ilona. Ich höre nichts aus ihrem Zimmer. Sie werden dasitzen und ihren Tee trinken. Sweet Orange spezial.
Als ich sie die Treppe runtergehen höre, denke ich mir noch nichts. Aus dem Fenster sehe ich, wie Klaus auf sein Motorrad klettert. Und Ilona auf den Sozius. Ihre Arme um ihn schlingt. Er lässt den Motor an und sie rollen davon.
Unten steht Mutter am Fenster. »Das scheint wohl was ernstes zu sein, mit den beiden." Und: »Wenn da bloß nichts passiert, mit dem Motorrad!«
Ich laufe rauf. In Ilonas Zimmer steht das benutzte Teegeschirr. Ihr Glas mit dem Sweet Orange ist offen. Was fühle ich? Triumph? Schadenfreude? Teereste in beiden Tassen. Ihnen würde heiß werden, sie würden Farben sehen, alles würde sich verdrehen. An den Abend wirst du noch lange denken, Schwesterchen, das wird dir eine Lehre sein.
Die Polizei kam drei Stunden später. Stille Beamte, Mutters entsetzte Augen. »Frau Bayer? Wir haben eine schlechte Nachricht für Sie!« Überhöhte Geschwindigkeit. Schlangenlinien, als sei er betrunken gewesen. Und dann vollkommen sinnlos bei Rot über die Bertholdykreuzung, direkt in die Straßenbahn. Sofort tot. Klaus und Ilona. Fassungslosigkeit. Nein, Alkohol war nicht im Spiel. Keiner konnte sich erklären, was da in den Jungen gefahren war. Keiner.
Ich halte es nicht mehr aus in Ilonas Zimmer. Mutter hat es damals abgeschlossen, nach der Bestattung, und es nie wieder aufgemacht, jedenfalls nicht in den drei Jahren, in denen ich noch zuhause war. Drei Jahre bin ich jeden Tag auf dem Weg zum Bad an ihrer Tür vorbeigegangen. »BETRETEN DER BAUSTELLE VERBOTEN. Eltern haften für ihre Kinder.«
Manchmal kamen Carola und Karin vorbei. Saßen bei mir rum. Wir tranken Tee. Jasmin, Orange Blossom, Kokos. Niemand wollte mehr Black Indigo. Ich habe nichts gesagt, natürlich nicht. Ich glaube nicht, dass sie etwas geahnt haben. Ich habe das Glas einfach hinten ins Regal gestellt. Als ich ausgezogen bin, ist es in den Keller gewandert, die Gläser mit dem Tee habe ich in den alten Wäschekorb gepackt.
»Wo willst du denn damit hin?«
»Wegwerfen. Der Tee ist alt.«
»Tee wird doch nicht alt.«
Nichts wegwerfen, alles aufheben. Also wanderte der Korb zu dem Regal in den Keller.
Ich sitze in der Küche und spüre, wie mir die Kälte in die Glieder kriecht. Draußen dämmert es. Es hat geregnet, die Straße glänzt feucht. Ein Tee wäre gut.
Ich greife automatisch zum Hängeschrank. Manche Dinge vergisst man nie. Kaffee und Tee im Hängeschrank. Seit ein paar Monaten hat sie keinen Kaffee mehr getrunken.
»Bekommt mir nicht! Tee ist viel angenehmer.«
Ich starre auf das gestapelte Teegeschirr im Hängeschrank. Das Stövchen, die Kanne, und daneben ein braunes Teeglas, mit einem ausgebleichten Aufkleber. Black Indigo.
Nie etwas wegwerfen. Alles aufheben. Tee wird nicht schlecht.
Meine Hände zittern, als ich das Glas herunternehme. Trockene schwarze bröckelige Blätter. Wie Tee.
Nie etwas wegwerfen.
Sie hat geschwankt, als sie in die Bäckerei kam, hat Dr. Brenner gesagt. Morgens um neun, kurz nach dem Frühstück. War unsicher auf den Beinen. Konnte sich nicht artikulieren. Hat sie Farben gesehen?
Ich höre sie noch, wie sie zu mir sagt: »Weißt du, ich mache mir jetzt immer eine Tasse Tee zum Frühstück.«