Der Herr sieht alles
Lohmann beugte das Knie vor der Madonna und schlug das Kreuz. Es war dämmerig in der kleinen Kirche und natürlich nicht geheizt, trotz der winterlichen Temperaturen, die draußen herrschten. Immerhin ging es schon auf Weihnachten zu und überall öffneten jetzt die Weihnachtsmärkte. Wie viele waren es inzwischen allein hier in Köln? Zehn, elf? Fast jedes Jahr schien noch ein neuer kleiner Markt mit speziellen Waren und natürlich Glühwein und Reibekuchen hinzuzukommen.
Langsam näherte sich Lohmann der Madonna in ihrer Wandnische, verharrte, streckte die Hand aus und strich über den Faltenwurf des sorgfältig gearbeiteten Kleides. Eine Kostbarkeit, geschaffen von einem alten Meister im späten 18. Jahrhundert.
Irgendwo im Kirchengebälk knackte etwas. Lohmann zog die Hand zurück und verharrte. Und dann flog plötzlich die Kirchentür auf. Mit einem kalten Windstoß stürzte ein junger Bursche herein. Er trug eine abgewetzte Lederjacke, ausgeblichene Jeans. Er hatte noch einen Motorradhelm auf dem Kopf und eine Motorradtasche in der Hand. Seine groben Stiefel knallten auf dem Steinboden, als er zwischen den Kirchenbänken herankam.
„Weg da!“, keuchte er, als er vor Lohmann stand, der ihm den Weg zur Sakristeitür versperrte.
Lohmann schluckte. „Mein Sohn!“, donnerte er dann. „Was fällt dir ein? Dies ist ein Haus Gottes!“
„Mir egal!“ Plötzlich hatte der Bursche eine Pistole in der Hand und richtete sie auf Lohmann.
„Alles, was jetzt kommt, haben Sie sich selbst zuschreiben, Pater!“, stieß er hervor. Er setzte seine Motorradtasche ab. „Wir bleiben zusammen eine Weile hier. Sobald es dunkel ist, sehen wir weiter.“
„Im Haus des Herrn gibt es Unterkunft für jeden!“, sagte Lohmann und setzte sich, die Waffe ignorierend, die auf ihn gerichtet war. „Wovor bist du auf der Flucht?“
Der Bursche kicherte hysterisch unter seinem Motorradhelm. „Können Sie sich das nicht denken?“
Lohmann nickte nachdenklich, während sein Blick über die Gepäcktasche seines Gegenübers glitt. „Die weltliche Gerechtigkeit wahrscheinlich“, meinte er.
„Wie bitte?“
„Polizei!“, erklärte Lohmann knapp. „Das sehe ich doch richtig, oder? Ich habe da vorhin im Radio etwas von einem Bankraub in Rodenkirchen gehört...“
„Klappe halten!“ Der Bursche stieß Lohmann die Waffe in den Leib.
Lohmann versuchte, unbeeindruckt zu bleiben. „Damit wir uns richtig verstehen: der Herr gewährt zwar jedem Sünder Unterkunft, aber nicht jedem Bankräuber Unterschlupf.“
Der Bursche erstarrte für einen Moment. Lohmann sah dichtes blondes Haar, das im Nacken unter dem Motorradhelm hervorschaute. Er musterte die schlanke Gestalt seines Besuchers eingehend und meinte dann: „Du bist doch kaum zwanzig Jahre alt!“
„Einundzwanzig, seit letzter Woche!“, sagte der Blonde. „Sie haben sich jetzt ganz schön hineingeritten, Pater. Weil Sie so verdammt clever sein wollten. Sie wissen, dass ich die Sparkasse in Rodenkirchen ausgenommen habe.“
„Das war kein großes Kunststück!“, sagte Lohmann. „Man fahndet nach dir. Ein Mann auf einem Motorrad. Bewaffnet. Und gefährlich. So haben sie es jedenfalls vorhin im Radio gesagt.“
„Verflucht!“, zischte der Blonde.
„Also bitte!“ Lohmann wies auf den Altar und das Kruzifix. „Nicht in seinem Haus!“
„Sein Haus ist genauso gut wie jedes andere!“, meinte der Bankräuber. „Wir werden uns in den nächsten Stunden schon aneinander gewöhnen, Pater. Das Motorrad steht draußen beim Friedhof in einem Schuppen, wo die Bullen es so schnell nicht finden. Ich bleibe hier, bis es dunkel ist und die Fahndung eingestellt wird. Gehen wir nach hinten!“
Er wies mit der Waffe auf die Tür zur Sakristei.
„Bleiben wir besser hier“, sagte Lohmann. „Ich möchte den Küster nicht wecken. Er hat dort hinten sein Zimmer und hält um diese Zeit immer ein Nickerchen. Nachher, wenn er zu seinem Feierabendbier gegangen ist, können wir es uns hinten gemütlich machen.“
Der Blonde wollte etwas sagen, schien dann aber den Fluch, der ihm auf der Zunge lag, lieber nicht aussprechen zu wollen. Jedenfalls drang unter dem Motorradhelm mit seinem versiegelten Visier nur ein dumpfes Knurren hervor.
„Ich glaube kaum, dass jemand kommen wird!“, meinte Lohmann. „Die Menschen haben zu viele andere Dinge zu tun, die ihnen wichtiger erscheinen als ein Gebet im Haus des Herrn. Setz dich doch.“
Widerspruchslos gehorchte der Blonde. Er legte die Hand auf die Motorradtasche und schien sich sogar ein wenig zu entspannen. Sie schwiegen, hörten dem Wind zu, der durchs Gebälk heulte und irgendwo ein Fenster klappern ließ.
Schließlich deutete Lohmann auf die Tasche. „Wie viel ist es?“
„Hab noch keine Zeit zum Zählen gehabt!“, schnarrte der Blonde und achtete darauf, dass seine Waffe weiter auf Lohmann gerichtet blieb.
„Im Radio war von dreißigtausend Euro die Rede“, sagte Lohmann.
„Immerhin!“, meinte der Blonde. Er schien mehr erwartet zu haben.
„Es gibt keine Summe, die es rechtfertigt, dass man sie stiehlt“, meinte Lohmann.
Der Blonde schwieg. Sein Kopf bewegte sich hin und her. Wieder knackte etwas im Gebälk der Orgelempore. Der Blonde zuckte zusammen und richtete die Waffe planlos gegen die Decke des Kirchenschiffes.
„Ich bin sicher, es gibt einen anderen Ausweg aus deiner Notsituation“, meinte Lohmann nachdenklich. „Einen Ausweg, der dir nicht fünf oder sieben Jahre Gefängnis beschert. Denn das steht dir bevor, wenn man dich fasst. Willst du das wirklich? Allein in einer Zelle sitzen, drüben im Klingelpütz, nur einmal im Monat Besuch bekommen von deiner Mutter, von deiner Frau?“
„Meine Frau!“, zischte der Blonde. Und dann. „Noch habe sie mich ja nicht geschnappt.“
„Jeder hat das Recht auf ein bisschen Hoffnung!“, sagte Lohmann. „Auch du. Aber ich sage dir, dass sie dich irgendwann einmal schnappen werden. Und bis dahin wirst du ständig in der Angst leben, dass man dich findet. Jedes Geräusch wird dich misstrauisch machen. Noch weißt du nicht, wie das ist, ständig Angst zu haben. Ständig auf der Lauer zu sein, ob du dich nicht vielleicht doch durch eine unbedachte Bemerkung verraten hast.“
„Schluss mit dem Blödsinn!“ Die Pistole zuckte hoch.
„Ich wollte dir nur etwas zu bedenken geben, ehe du weiter in dein Unglück rennst!“, sagte Lohmann. „Alles Dinge, die dir jeder andere Mensch auch sagen kann. Dazu muss man nicht Priester sein.“ Er machte eine Pause. „Willst du wirklich für den Rest deines Lebens mit dieser Angst verbringen?“
„Das werde ich wohl müssen!“, knurrte der Blonde. „Ich habe hier das Geld aus der Sparkasse in Rodenkirchen. Zurückbringen kann ich es ja schlecht!“
Täuschte Lohmann sich, oder war da wirklich so etwas wie Verzagtheit in der Stimme des Jungen, die unter dem Motorradhelm hervordrang. Der Blonde machte sich am Helm zu schaffen, um ihn abzunehmen.
„Nicht“, sagte Lohmann. „Ich möchte dein Gesicht nicht sehen.“
Die Hand des Blonden verharrte.
„Auch ein Diener Gottes muss der Polizei die Wahrheit sagen, wenn man ihn nach etwas fragt. Zum Beispiel danach, wie ein gewisser Besucher ausgesehen hat, der zu einer gewissen Stunde in die Kirche kam.“
Der Blonde nickte und ließ den Helm auf dem Kopf. „Sehr vernünftig, Pater!“, sagte er. „Wirklich rührend, wie Sie sich um mein Wohlergehen sorgen.“
„Ist es nicht unser aller Pflicht, sich um den Nächsten zu kümmern?“, fragte Lohmann. „Ich bin sicher, dass ich etwas arrangieren kann, damit du dir mit dieser … dieser Dummheit nicht dein ganzes Leben zerstörst! Es war doch da erste Mal, dass du ...“
„Ja.“ Die Stimme des Blonden war kaum zu verstehen. „Es sind diese verdammten Schulden, verstehen Sie? Mit achtzehn geheiratet, die Wohnung eingerichtet, alles auf Kredit gekauft …“
Lohmann nickte.
„Und dann kippte auf einmal alles um“, fuhr der Blonde fort. „Wir verstanden uns nicht mehr, meine Frau ich. Die Scheidung. Das alles kostete wieder Geld. Und da waren noch die alten Raten.
„Und keiner, der dir hilft!“, sagte Lohmann.
„Ehe ich meine Eltern auch nur um einen Cent Unterstützung bitte, beiße ich lieber ins Gras!“, murmelte der Blonde.
Lohmann legte die Stirn in Falten. „Hast du dich nicht vielleicht auch einmal gefragt, ob dich deine Eltern nicht auch vermissen?“, wollte er wissen. „Egal, wie tief der Graben zwischen euch ist?“
Der Blonde schwieg.
„Wenn sie dir helfen können, werden sie es bestimmt tun“, fuhr Lohmann fort. Und dann, nach einer Weile: „Und wenn ich mit dem Geld dort zur Sparkasse in Rodenkirchen gehe und sage, dass ich es hier in der Kirche gefunden habe …“
Der Blonde schwieg noch immer. Die Pistole lag in seinem Schloss. Lohmann glaubte ein leises Schluchzen unter dem Motorradhelm hervordringen zu hören.
Behutsam griff er nach der Waffe. Der Blonde ließ sich die Pistole widerstandslos abnehmen.
„So ist es gut!“, sagte Lohmann. „Ich werde mich um alles kümmern. Ein Dummer-Jungen-Streich, wird es heißen. Das verzeiht man eher als einen Überfall.“ Er kontrollierte die Pistole. Es war eine Schreckschusswaffe. Ehe er noch etwas sagen konnte, war der Blonde aufgesprungen und rannte aus der Kirche. Die Gepäcktasche ließ er zurück.
Lohmann wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete zweimal tief durch. Dann beugte er das Knie vor der Madonna und seufzte aus ganzem Herzen: „Danke!“
Anschließend kontrollierte er die Gepäcktasche des Jungen. Es waren wirklich knapp dreißigtausend Euro darin. Lohmann grinste, schulterte die Tasche und war schon auf dem Weg zum Ausgang, als hinter ihm jemand applaudierend in die Hände klatschte. Lohmann fuhr herum. Der Priester war von der Orgelempore heruntergekommen und stand jetzt neben dem Altar.
„An dir ist ja wirklich ein Seelsorger verlorengegangen, Freundchen“, sagte er und kam auf Lohmann zu. „Ich war da oben, habe auf der Lauer gelegen, weil in letzter Zeit hier ein Kirchenräuber aus den Kölner Gotteshäusern wertvolle Madonnen-Statuen stiehlt.“
Lohmann warf der Madonna einen wehmütigen Blick zu.
Der Priester nickte. „Ja, ein sehr wertvolles Stück, frühes 18. Jahrhundert. Der ganze Stolz unserer Gemeinde.“
„Ja“, murmelte Lohmann resignierend. „Ich habe davon gehört.“ Er nahm die Geldtasche des Jungen von der Schulter und reichte sie dem Priester. „Sie haben ja gehört, was ich ihm versprochen habe. Sie erledigen das für mich, ja?“
Dann beugte er noch einmal das Knie vor der Madonna und verließ die Kirche.
ENDE