Kapitel 3
Das Geräusch eines sich im Schloss drehenden Schlüssels weckt Kea. Langsam öffnen sich ihre Augenlieder und sie sieht ein Paar Füße, das direkt vor ihrem Käfig steht. „War wohl ein wenig zu viel gestern, was?“ Keas Blick wandert an den Beinen hinauf, bis sie in ein unbekanntes Gesicht schaut. Ein schlanker Mann mit leicht eingefallenen Wangen schließt ihren Käfig auf und öffnet die Tür. Kühle blaue Augen betrachten Kea, die nichts sagt.
„Na los raus mit dir.“ Nach dieser Aufforderung zögert Kea nicht lange sondern kriecht sofort aus dem Käfig und richtet sich auf. Sie ist etwa einen Kopf kleiner als der Mann.
„Na, bei der Frisur sind wir uns schon mal sehr ähnlich“, sagt er mit einem kleinen Lächeln und streicht sich mit der einen Hand über die Glatze. Kea starrt den Mann unbewegt an. Ihr ist nicht zum Lachen zumute. Die Fröhlichkeit verschwindet aus dem Gesicht des Mannes. Kea sieht ihn stumm an. Eigentlich will sie ihn so vieles fragen, hat aber das Gefühl, dass sie lieber den Mund halten sollte.
„Komm mit. Du ziehst um.“ Der Mann dreht sich um und winkt sie hinter sich her. Zögerlich folgt sie dem Fremden und wirft beim vorbeigehen einen Blick aus dem Fenster, dessen Fensterläden jetzt weit offen stehen und die Sicht auf eine große Wiese freigeben. Kea sieht ein paar Leute umherlaufen. Sie gehen zu verschiedenen Wagons, die über die Wiese verteilt stehen oder kümmern sich um Tiere, die in kleinen Käfigen vor sich hin vegetieren. Unter einer großen Eiche stehen drei angekettete Elefanten die lustlos am Gras rupfen. Der kurze Blick aus dem Fenster hat Keas Vermutungen bestätigt - das hier ist ein Circus.
„Warum bin ich hier?“ Die Frage platzt einfach aus ihr hinaus. Der Mann antwortet, ohne sich umzudrehen: „Um das zu tun, was von dir erwartet wird. Nicht mehr und nicht weniger. Den Rest können dir die anderen erklären, dafür habe ich jetzt keine Zeit.“ In seinen letzten Worten liegt ein kleines bisschen Arroganz. Sie folgt dem Mann durch den kleinen Flur und noch bevor Kea Angst bekommen kann, dass sie wieder in diesen Zwischenraum muss, öffnet der Fremde die Tür, die nach links führt und tritt hinaus. Frische Luft durchfährt die Lungen von Kea, gibt ihr einen Moment lang die Illusion der Freiheit doch dann sieht sie den Zaun - hoch, stabil und mit einer Krone aus Stacheldraht. Unbezwingbar.
Rechts von sich sieht sie das große Zelt - von außen wirkt es unheimlich friedlich. Es steht auf einem Podest und reckt sich in die Höhe wie ein Berg aus Stoff und Leinen. Standhaft hält es gegen den Wind, der mit seinen Böen gegen den straff gespannten Stoff drückt. Der Mann geht von dem Zelt weg, auf drei schmucklose Wagons zu, die noch einmal einen eigenen Zaun haben, wodurch sie eher wie Arrestzellen aussehen.
„Du wirst im Wagon 6 wohnen. Klamotten findest du drin.“ Der Mann schiebt Kea durch die Tür, die er gerade aufgeschlossen hat und direkt hinter ihr wieder verschließt. Kea dreht sich noch einmal um, aber der Mann hat sich schon abgewendet und läuft wieder in Richtung Zelt - sein Gang ist steif und ungelenkig, in etwa so, als würde sich ein großes Insekt bewegen.
Kea betrachtet die drei Wagons, die in einem leichten Bogen angeordnet sind. Im Grunde sind es quaderförmige, auf Reifen stehende Holzkästen, die von einem gebogenem, dunkelgrünen Dach vor Regen geschützt werden. Auf den dunkelroten Türen stehen die Zahlen von sechs bis acht mit Schnörkeln verzieht. Kea steigt die drei Stufen des rechten Wagons hoch und klopft zart an die massive Tür. Nichts ist zu hören. Sie klopft noch einmal - dieses mal lauter. Von drinnen ist ein leises „Herein.“ zu hören. Kea drückt die knarzende Klinke herunter und tritt ein. Im Inneren ist das Licht durch die schweren Vorhängen vor den Fenster gedämpft und in einen zarten Gelbton getränkt. Ein Stockbett steht in der hinteren linken Ecke, an der gegenüberliegenden Wand steht ein einzelnes Bett. Kea zweifelt, ob das Wort Bett hier gerechtfertigt ist. Es sind vielmehr Drahtgestelle mit sehr dünnen Matratzen. Ein kleiner Sessel, der mit Klamotten bedeckt ist und somit vielmehr einer Ablage als einer Sitzgelegenheit ähnelt, steht direkt neben ihr. Auf Regalen liegt alle möglicher Krimskrams herum, der teilweise ganz hübsch aber auch sehr eigenartig ist.
„Du musst die Neue sein.“ Die Stimme kommt von einer Frau mittleren Alters. Anstatt Haaren hat sie nur graubraune Stoppeln. „Komm ruhig rein. Kleidung für dich liegt oben auf dem Bett“, sie deutet mit dem Kopf auf das obere Stockbett. „Ich habe Branko weggeschickt, damit du dich in Ruhe anziehen kannst. Ich bin übrigens Eva.“ Kea starrt Eva einen Moment lang an. Obwohl es unhöflich ist, kann sie ihren Blick nicht abwenden. Im Grunde ist sie eine recht hübsche Frau, auch wenn sich in ihrem Gesicht schon die ein oder andere Falte ihren Weg gebahnt hat. Aber das ist es nicht, was Keas Blick so fesselt.
„Sag bloß du bist erschrocken über mein Aussehen. Gerade du." Eva bewegt sich ein wenig, was jedoch nicht viel bringt.
„Nein... äh, tut mir leid aber ich habe nicht damit gerechnet.“ Kea ist es unangenehm, wie sie reagiert hat. Eigentlich hat Eva vollkommen recht. Die Frau trägt ein schlichtes braunes Oberteil, dessen Ärmel abgeschnitten und zugenäht wurden. Denn an den Stellen, an denen normalerweise die Arme sind ist bei ihr einfach nichts. Noch nicht einmal Stummel sind vorhanden. Es sieht aus, als hätte man ihr die Arme an den Achseln einfach abgenommen. Um ihre Beine steht es auch nicht besser - sie sind schlichtweg nicht vorhanden.
„Tut mir leid“, sagt Kea noch einmal und betritt den Wagon nun so weit, dass sie die Tür hinter sich schließen kann. Vom oberen Bett nimmt sie sich neben Unterwäsche ein schwarzes T-Shirt und eine dunkelgraue Hose. Eva, die auf dem unteren Bett sitzt, beobachtet sie dabei.
„Ich heiße Kea“, sagt sie, während sie sich das T-Shirt überzieht.
„Das ist ein schöner Name“, entgegnet Eva und auf ihre Worte folgt unangenehmes Schweigen.
„Wie ist das passiert?“ Unwillkürlich greift Kea sich an die Arme. Vielleicht ist dies nicht die beste Frage, wenn man sich gerade erst kennengelernt hat, aber Kea will es wirklich wissen. Mit einem traurigen Lächeln schaut Eva an sich hinab. „Das ist keine schöne Geschichte...“, antwortet sie kopfschüttelnd. In diesem Moment öffnet sich die Tür erneut und eine gewaltige Gestalt verdeckt das Sonnenlicht. Der Neuankömmling duckt sich unter dem Türrahmen hindurch und nimmt eine Schulter zurück, um hindurch zu passen.
„Hallo“, sagt Kea sofort und obwohl sie dieses Mal eigentlich nicht glotzen will, tut sie es trotzdem. Branko, wie sein Name sein muss, ist eine wuchtige Gestalt mit einem handflächengroßen Auge mitten auf der Stirn. Sein Kopf ist so deformiert, dass er sich zur Stirn hin zuspitzt, wodurch das Auge noch einmal unangenehm hervorgehoben wird. Wenn Kea ehrlich zu sich ist, jagt sein Aussehen ihr einen Schauder über den Rücken.
„Branko, man starrt eine Dame nicht so an“, ermahnt Eva den Mann. Kea ist gar nicht aufgefallen, dass er gestarrt hat, was natürlich auch daran liegen könnte, dass sie ebenfalls mit starren beschäftigt war.
„Ist es denn eine Dame?“, fragt Branko plötzlich und sein Auge blinzelt Kea ganz offen an.
„Natürlich“, entgegnet Eva empört. „Sie heißt Kea... Und das ist Branko“, setzt Eva mit einem Nicken in Brankos Richtung hinzu.
„Aha.“ Branko lässt sich auf das Gegenüberliegende Bett plumpsen. Unter dem Gewicht des Koloss gibt das Lattenrost ein gequältes Stöhnen von sich, das nichts Gutes verspricht. Kea setzt sich zu Eva auf das Bett. „Also...“, setzt Branko an. Er stützt die Ellenbogen auf seinen Knien ab und lässt die klobigen Hände entspann hängen, während das gelbliche Licht einen Schein über ihn wirft, in dem er auf einmal sehr sanftmütig aussieht. „Was genau bist du?“ Kea sieht ihn unverständlich an. Was meint er damit?
„Also Branko!“, empört sich Eva und wirft ihm einen bösen Blick zu. Kea nimmt ihm die Frage nicht übel, würde ihm auch gerne antworten, aber sie kann es nicht. Nichtssagend zuckt sie mit den Achseln. Branko grunzt bloß und zieht die Beine aufs Bett. „Die anderen sind übrigens schon ganz gespannt darauf, dich kennenzulernen“, murmelt er noch ehe er sich zur Wand dreht und den Kopf in seiner Armbeuge bettet. Die Anderen?
„Sag mal Eva, wie viele sind hier?“
„Naja wir sind mit dir neun, dann gibt es da halt noch die ganzen anderen Circusmitarbeiter.“ Wenn Eva Hände hätte, würde sie damit jetzt bestimmt eine abfällige Geste machen. Kea steht auf und zieht den Vorhang ein kleines Stück beiseite. Ihr Blick fällt erst auf den Wagon, der einige Meter entfernt steht und dann auf eine alte Frau und einen Jungen. Es fällt schnell auf, warum die beiden hier sind. Der alten Frau wächst ein gewaltiges Horn mitten auf dem Kopf und ein weiteres kleines aus der linken Schläfe. Der Junge, der dicht neben ihr steht hat ein von Sommersprossen überzogenes Gesicht mit blauen Augen und verstrubelten blonden Haaren. Ein freches Grinsen spielt auf seinen Lippen, während er erwartungsvoll auf den Fußballen wippt. Er hätte ein ganz normales Kind sein können, wenn ihm nicht aus der Hüfte ein zweites Becken mitsamt Beinen und Füßen wachsen würde. Der zweite Unterleib steht etwas ab und die kleinen Füße berühren den Boden nicht. Die Beine und der Hintern sind von einer alten Hose bedeckt.
Kea lässt den Vorhang sinken. Will sie jetzt wirklich da raus gehen? Hilfesuchend schaut sie zu Eva. „Wer ist da?“, fragt diese.
„Eine alte Frau und ein kleiner Junge“, antwortet Kea und wirft noch einen Blick hinaus.
„Ah, das sind Margarete und Jeffry. Geh ruhig. Die beiden sind ganz nett auch wenn der Junge manchmal ein wenig nervig ist.“ Sie lächelt bei diesem Satz und schickt Kea ein aufmunterndes Nicken zu. Sie atmet noch einmal tief durch, tritt zur Tür und öffnet sie. Wenige Zentimeter vor ihr steht der Junge mit einer zur Faust geballten Hand, so als wöllte er gerade klopfen. Erschreckt macht er einen Schritt zurück, rutscht von der Stufe ab und purzelt die kleine Treppe herunter. Margarete schüttelt den Kopf, so wie alte Leute das nun mal tun, wenn sie sich über die Dummheit der Jüngeren ärgern. Jeffry ist schnell wieder auf den Beinen. „Ist alles in Ordnung?“, fragt er sich selbst und streicht dabei über den Rückenansatz, der aus seiner Hüfte ragt. Mit einem besorgtem Blick begutachtet er noch einmal den Unterkörper, bevor er seinen Blick wieder abwendet. „Entschuldige“, nuschelt Kea, die noch ein wenig verwirrt von der Szene, die sich gerade abgespielt hat, ist.
„Guten Tag.“ Mit ausgestreckter Hand kommt Margarete auf sie zu. Kea umfasst ihre Hand und merkt, dass die alte Frau kaum Kraft zum zudrücken hat.
„Ich bin Margarete und der ungeschickte Bursche da ist Jeffry. Und wie ist dein Name?“
„Kea,“ antwortet sie einsilbig. Jeffry kommt in einem leicht gebeugtem Gang zu ihr und streckt ebenfalls die Hand aus.
„Ich bin schon Zehn“, sagt er stolz, als sich ihre Hände wieder lösen.
„Und das ist also dein erster Tag hier“, Margaretes Stimme ist rau, aber mit einem freundlichen Unterton. „Ich kann mir gut vorstellen, dass das alles ziemlich viel für dich ist.“ Anstatt Kea antworten zu lassen, nickt die alte Frau.
Margaretes Gesicht ist von tiefen Falten durchzogen und ihre Augenlieder hängen tief genug um ihre leicht getrübten Augen halb zu bedecken. Eine Hand voll Haare verteilt sich über ihren Kopf und rund um ihr Horn herum. Sie sieht aus wie jemand, der die Jahrhunderte überlebt hat, zu viel von den Schrecken der Welt sah und nun mit einem entstellendem Horn bestraft wird. „Wenn du magst kannst du gleich mal mitkommen und ich stelle dir die anderen vor“, bietet Margarete an, aber Kea schüttelt entschlossen den Kopf.
„Um ehrlich zu sein, hätte ich lieber einen Moment für mich.“ Die alte Frau schaut sie einige Sekunden prüfend an, dann lächelt sie verständnisvoll.
„Ich verstehe. Komm mit Jeffry.“ Margarete zieht den Jungen an der Hand hinter sich her. Zum Abschied dreht Jeffry sich noch einmal um und winkt Kea kurz zu.
„Können wir was spielen, Maggie?“, fragt er mit erwartungsvollem Blick und wird mit einem „Ja“ belohnt. Als sich die Tür hinter den Beiden schließt atmet Kea tief durch. Sie schlendert hinter ihren Wagon und setzt sich auf den Boden. Mit dem Kopf an der groben Holzwand lehnend lauscht sie den Geräuschen um sich und lässt ihren Blick zur grauen Wolkendecke schweifen. Hier würde sie erstmal niemand stören. Margarete würde Jeffry bei sich halten, Branko schläft und die Wahrscheinlichkeit, dass Eva zu ihr kommt geht gegen Null. In diesem Moment der Ruhe kann sie fast vergessen, wo sie ist. Aber nur fast, denn wenige Meter vor ihr macht ihr der Maschendrahtzaun mit seiner Krone aus Stacheldraht nur allzu sehr bewusst, dass sie eben nicht frei ist. Wenn sie doch nur wüsste, wie sie überhaupt hierhergekommen ist! Ein Schleier legt sich über ihre Augen und als sie ihn wegblinzelt, spürt sie die Tränen über ihre Wangen kullern. Schnell wischt sie sie weg. Kea will jetzt nicht wieder weinen, sie will auch nicht verzweifeln. Mit ein paar tiefen Atemzügen verdrängt sie das leichte Zittern in ihrer Brust und kommt langsam wieder zur Ruhe.
Es dauert lange, bis Kea sich überwinden kann, wieder aufzustehen. Hinter dem Maschendrahtzaun geht die Sonne langsam unter. Sie taucht alles in einen goldgelben Schein, der sich mit dem Muster des Zaunes auch über Kea legt. Sie schaut dem Licht mit leicht zusammengekniffenen Augen entgegen - der vertraute Schimmer gibt ihr ein Gefühl von Sicherheit und Hoffnung. Die wenigen Momente, die es dauert, bis der Tag in die Nacht übergeht, bleibt Kea noch an die Wagonwand gelehnt stehen. Wind greift in ihre Kleidung und schlussendlich wendet Kea dem Zaun den Rücken zu und steigt in ihren Wagon.