- Kapitel 5
Nach einer unruhigen Nacht pocht der Schmerz hinter Keas Schläfen im gleichen Takt wie ihr Herz. Sie stemmt sich auf die Ellenbogen und wirf einen Blick in Richtung Fenster. Ein zaghaftes Schimmern dringt durch die dünnen Vorhänge - nicht genug, um den Raum zu erhellen. Sie verschränkt die Arme hinter dem Kopf und lässt sich wieder auf den Rücken sinken.
Ihre Gedanken hängen sich an den gestrigen Tag und gehen ihn noch einmal durch. Alles was passiert war, erscheint ihr eigenartig fern, so als wäre das alles nie wirklich geschehen. Gleichzeitig machen ihr die harte Matratze und die alte Holzdecke über ihren Augen schmerzlich bewusst, wo sie ist. Kea atmet einmal tief ein und wieder aus. Als die Luft ihren Körper verlässt, schließt sie die Augen und versucht sich an das zu erinnern, was sie vergessen hat - ihr Leben.
Aber es geschah nichts. Ihre ersten Erinnerungen haben mit einem kalten Eisenkäfig zu tun. Sie weiß nicht, wo sie her kommt, wie ihr Leben vor zwei Tagen noch aussah und noch nicht einmal, wie ihre Eltern aussehen. Seltsamerweise bleibt sie unerwartet ruhig bei dieser Erkenntnis. Manchmal ist es vielleicht auch besser, sich nicht mehr zu erinnern. Ihre Augen schlagen wieder auf und mit einem tiefen Luftzug setzt sie sich auf und schwingt die Beine über die Bettkante. So leise wie möglich gleitet sie hinab und schleicht zur Tür, um die anderen nicht zu wecken. Sie hatte erwartet, dass die Tür abgeschlossen ist, aber die Klinke lässt sich problemlos runter drücken und die Tür schwingt auf.
Frische, fast schon kalte Morgenluft umfängt sie. Winzige Tautropfen überziehen den Rasen, wodurch sie ihm ein wundersames Glitzern verleihen. Leise zieht Kea die Tür hinter sich wieder zu und nimmt die wenigen Stufen vom Wagon bis zum Rasen. Fußabdrücke folgen ihr bis zum Zaun, an dem Kea stehen bleibt. Während sie sich streckt und es in ihrem Rücken knacken lässt, streift ihr Blick über das Szenario vor ihr. Einige Menschen, vorwiegend Männer, gehen immer wieder von links nach rechts. Dabei tragen sie Kisten, Stangen oder sonst was mit sich, das sie in den Wagons verstauen, die ziemlich weit entfernt stehen und genauso schmucklos sind wie ihr eigener Wagon.
Eine ganze Weile lang beobachtet Kea das Getümmel, bis das große Zelt wie ein leerer Sack in sich zusammensackt. Sofort machen sich die Umstehenden daran, es zusammenzufalten. Hierbei kann Kea auch das erste Mal zwei Frauen sehen. Ihre Aufmerksamkeit weicht von dem Zelt auf die beiden Männer ab, die geradewegs auf sie zuhalten.
Kea weiß nicht genau wieso, aber sie weicht automatisch einen Schritt zurück. Der eine Mann hat einen dicken Blähbauch und der andere einen extrem ausgeprägten Backenbart, der aussieht, als hätte er ein Eigenleben entwickelt. Blähbauch trägt einen Korb in der linken und eine kleine Kiste in der rechten Hand. Beide sehen aus, als würden sie sich jetzt am liebsten von einem Zug überrollen lassen. Mit zusammengekniffenen Lippen und argwöhnisch zusammengezogenen Augenbrauen bleiben sie vor Kea stehen.
Die beiden müssen ihre Arbeit ja echt lieben.
„Hallo“, sagt Kea und wartet darauf, das ihre Begrüßung erwidert wird. Der Kerl mit dem hässlichen Backenbart rümpft bloß die Nase.
„Du bist also die Neue.“ Es klingt abfällig. Kea zuckt mit den Schultern. Was soll sie auch schon darauf antworten?
„Ist ja nicht so, dass wir schon genug von euch haben.“ Der andere stellt seinen Korb und die Kiste ab und spuckt auf den Boden.
„Von uns?“, hakt Kea nach, in der Hoffnung, die beiden doch noch zu einem Gespräch verleiten zu können um mehr zu erfahren.
„Ja sicher. Von euch Freaks. Schlimm genug, dass ihr in den Vorstellungen auftretet und fast schon ekelhaft, dass ihr die Hauptattraktion seid. Aber solange ihr die Kohle einbringt, wird sich daran nichts ändern...“ Er spuckt noch einmal. „Wahrscheinlich nicht...“, Kea kann die Feindseligkeit spüren, die von den beiden ausgeht aber das hier ist ihre Chane an mehr Informationen zu gelangen.
„Was macht ihr denn in der Manege?“ Die Beiden schauen sich kurz an, als hätte Kea gerade gefragt, wie man atmet. „Wir sind natürlich die Clowns“, antwortet der Backenbart.
Natürlich. Die Clowns. Wie konnte Kea das nur übersehen?
„Und jetzt nimm hier dein Essen und hör auf so viel zu labern.“ Der Backenbart dreht den Schlüssel und öffnet das Tor um ihr den Korb und den Kasten rein zu reichen. Kea nimmt beides entgegen und im selben Moment hört sie hinter sich eine Tür, die sich gerade wieder schließt. Der Blick des Blähbauches richtet sich auf etwas hinter Kea.
„Lass uns abhauen, bevor ich kotzen muss.“ Damit drehen sich beide um und verschwinden schneller, als sie gekommen sind. Mit einem Blick über die Schulter sieht Kea das Mädchen, das auf sie zukommt. Das heißt, es sind im Grunde zwei Mädchen.
„Guten Morgen!“, ruft der linke Kopf.
„Ist das Essen schon gekommen?“, fragt der andere.
Einen Moment braucht Kea, um zu antworten: „Ja...“
„Das ist gut. Ich habe nämlich einen riesen Hunger“, sagt nun wieder der linke Kopf. Und sie klatschen einmal in die Hände.
„Oh, wir kennen uns ja noch gar nicht! Also das ist Alice...“ „Und das ist Celia“, beendet der rechte Kopf den Satz und nickt Celia kurz zu.
„Ich bin Kea, schön euch kennenzulernen...“ Sie streckt die Hand aus und Alice - oder Celia? - erwidert ihren Handdruck.
„Du bist bei Eva und Branko im Wagon, stimmt's? Beide sehr nette Leute“, sagt der rechte Kopf, also Alice.
„Ja, vor allem Eva ist die Nettigkeit in Person. Branko kommt immer etwas grob rüber“, fügt Celia hinzu. Es ist grotesk mit anzusehen, wie sich die beiden teilweise miteinander unterhalten und gleichzeitig Kea in ihre Gespräche einbinden. Aber Kea glaubt auch, schon zu viel gesehen zu haben, als dass sie sich darüber noch wundern sollte.
„Bisher bin ich mit beiden gut ausgekommen.“
„Das ist gut.“ Celia nickt extrem, wobei ihre kinnlangen, braunen Haaren mitschwingen.
„Wisst ihr, warum hier so ein Tumult ist?“
„Du meinst, warum sie alles zusammenpacken?“
„Natürlich meint sie das,“ unterbricht Celia, aber Alice fährt unbeirrt fort: „Das liegt daran, dass wir bald wieder umziehen. Meistens bleiben wir nicht länger als ein paar Tage am selben Ort. Kommt ganz drauf an, wie viele Karten verkauft werden und wie viele Zuschauer dann kommen.“ Die Zeltplane ist gerade richtig zusammengelegt worden und wird nun von drei Leuten weggeschleift. Circus Camelli steht auf einem Banner, das ebenfalls zusammengefaltet wird. Camelli, ein Name, der so unschuldig klingen könnte aber einen bitteren Beigeschmack hat. Kea will nicht länger darüber nachdenken, welche Schrecken sich hinter einem einfachen Namen verbergen können. „... stimmt was nicht.“
„Vielleicht geht's ihr nicht gut.“ Erst jetzt hört Kea, dass die Zwillinge sich über sie unterhalten.
„Nein, alles in Ordnung“, sagt Kea schnell aber die Mädchen schütteln langsam die Köpfe.
„Das kann gar nicht sein“, meint Celia und ehe Kea nachfragen kann, erwidert Alice etwas: „Weil hier nichts und niemand in Ordnung ist...“ Damit drehen sich die siamesischen Zwillinge wieder um und staksen zurück in den Wagon 8.
An diesem Tag gibt es keine Aufführungen - niemand, der noch einmal nach ihnen sieht. Anscheinend sind alle zu beschäftigt damit den Circus für die Reise vorzubereiten. Am Nachmittag kommt Jeffry zu Kea heraus und spielt mit ihr ein paar Runden Schere-Stein-Papier, aber als es zu regnen anfängt, verziehen sich beide wieder in ihre Wagons und warten den restlichen Tag einfach nur ab.