- Kapitel
Erst am nächsten Tag kommt jemand zu ihnen. Eine Person, die Kea bereits kennt. Die schlanke, große Gestalt und die Adleraugen, die nicht ein einziges Gefühl widerspiegeln. Es ist der Mann, der sie vor zwei Tagen aus dem Käfig in den Wagon gebracht hatte. Nun steht er in dem Holzrahmen ihrer Wagontür und lässt seinen Blick über Eva, Branko und Kea schweifen.
„Alles in Ordnung bei euch?“ Ein schmales Lächeln, das nicht bis zu seinen Augen reicht, umspielt seine dünnen Lippen. Niemand antwortete. Die Mine des Mannes verfinstert sich. „Antwortet!“, bellt er mit so einer plötzlichen Aggressivität, dass sie alle zusammenzucken.
„Ja“, brummt Branko mit gesenktem Kopf.
„Oh, das ist ja schön. In ein paar Stunden fahren wir ab. Ihr müsst so lange hier bleiben, wir wollen doch nicht, dass jemand von euch verloren geht.“ Ein eigenartiger Singsang schwingt in seinen Worten, der Kea unangenehm bekannt vorkommt. Als er die Tür hinter sich geschlossen hat, können sie hören, wie ein Schloss nach dem anderen geschlossen wird.
Eingesperrt - wie immer.
Erst jetzt fällt Kea auf, wie angespannt sie während des kurzen Besuches war. Sie bewegt ein wenig die Schultern, um ihre Muskeln zu lockern.
„Wer ist das?“ Kea wendet sich an Eva und Branko gleichermaßen.
„Das weißt du nicht? Er ist der Direktor. Während den Shows ist er allerdings mit weißer und schwarzer Farbe bemahlt, damit es so aussieht, als bestünde er nur aus Knochen. Ihm haben wir all das hier zu verdanken.“ Ihr letzter Satz trieft nur so vor Ironie. Der Direktor ist also auch das Skelett. Ein kalter Schauer läuft Kea den Rücken hinab.
Es dauert ungefähr zwei Stunden, bis sich ihr Wagon in Bewegung setzt. Die Holzräder kommen im nassen Boden nur langsam voran, teilweise hat Kea sogar das Gefühl, dass sie feststecken. Erst als sie die große Wiese verlassen und auf halbwegs festem Untergrund fahren, hört das Geruckel auf und geht in ein gleichmäßiges Rattern über. Die Fensterläden sind verschlossen und lassen nur noch hauchdünne Lichtstreifen ins Innere. Von irgendwo ist das traurige tröten der Elefanten zu hören. Kea sitzt neben Eva auf ihrem Bett und starrt ins Leere. „Wie lange wird die Reise dauern?“, fragt sie, aber Eva zuckt nur mit den Schultern.
„Einen Tag mindestens“, antwortet Branko, der ihnen gegenüber sitzt. „Kommt immer ganz drauf an.“ Er hört sich mutlos an.
Die Reise hat zwei Tage gedauert. Jetzt stehen sie auf einem großen Feld, das kürzlich gepflügt worden war. In nicht allzu großer Entfernung kann Kea eine größere Stadt sehen, die ihr nicht im Geringsten bekannt vorkommt. Der Aufbau des Circus ist wie beim letzten mal. Das große Zelt in der Mitte und die Wagons - etwas weiter entfernt - drum herum. Dabei sind ihre drei Wagons noch einmal extra eingezäunt.
Ein breitgebauter Mann mit blondem Haar führt gerade die Elefanten aus den Wagons. Ihre Füße sinken tief in die matschige Erde ein und ihre Rüssel hinterlassen kleine Furchen. Ein deutlich kleinerer Elefant, vermutlich ein Jungtier, hat Schwierigkeiten, mit den großen Schritt zu halten. Der blonde Mann tritt hinter ihn und holt mit dem Elefantenhacken aus. Kea kann es förmlich spüren, wie sich ein spitzer Metallhacken auch in ihre Haut bohrt. Mit einem erschrockenem Satz, springt das Jungtier von ihm weg.
„Sie machen das nicht freiwillig. Kein Lebewesen würde das tun aber keiner von ihnen hat die Kraft sich zu wehren, obwohl sie so stark sind.“ Margarete steht hinter ihr und beschaut das Geschehen.
„Ja, leider.“ Entgegnet Kea und beobachtet den Elefanten, der schon wieder zurückbleibt und den Mann, der sich ihm wieder nährt.
„Sie werden von klein auf zur Hilflosigkeit erzogen.“ Kea lässt die Worte der alten Frau eine Weile durch ihren Kopf ziehen, bis sie sich umdreht und wieder in den Wagon steigt. Sie kann das nicht weiter mit ansehen.