Tja, und dann staunte ich nicht schlecht, als Jinny mich zu sich nach Hause einlud, zum Schnupperkurs. "Wieso findet der Kurs denn bei dir statt?"
Sie grinste mich an und zog mich rein. "Komm schnell, du bist spät dran, und ich hab' uns doch extra Pizza gebacken."
Meine beste Freundin hat freiwillig gebacken? "Also aller guten Dinge sind drei, sagt man doch, was ist die dritte Überraschung?"
"Warte ab, der Kurs beginnt gleich." Sie zeigte zum Esstisch, auf dem neben zwei Tellern auch ihr Laptop stand.
Also würde der online stattfinden. In mir kroch ein wenig Enttäuschung hoch.
Sie tippte etwas ein. Ein Fenster ging auf, das sie auf Vollbildmodus stellte. 'Warten Sie einen Moment. Der Host beginnt gleich das Meeting' stand da. Tatsäcchlich schafften wir noch zwei Portionen Pizza, bevor es wirklich losging. Zunächst erschien eine dunkelhaarige Frau, vielleicht Mitte 50. 'Anita' laut Schriftzug in der linken unteren Ecke des Monitors. Sie erzählte eine Menge über Hellsinne. Das war ziemlich interessant, aber in der Theorie nicht wirklich neu, nicht mal für mich. Richtig wach wurde ich, als sie ein Fläschchen öffnete und sich daraus zwei Tropfen auf die Hände rieb.
In unserem Zimmer verbreitete sich Limonenduft ...
"Das ist jetzt nicht wahr, oder?" Ich stuppste Jinny mit dem Ellbogen an. "Riechst du das auch?"
Sie grinste mich an. Schenkte sich ein Glas Traubensaft ein und prostete mir zu.
"Vielleicht glauben Sie nicht, dass es funktioniert. Vielleicht glauben Sie an Zufall. Oder an einen Trick... deshalb habe ich noch ein paar mehr Fläschchen dabei." Anita öffnete ein anderes Fläschchen und tröpfelte zwei Tropfen in ihre Hand.
Sofort zog mir ein mintartiger Geruch in die Nase. "Eukalyptus!" Mir blieb der Mund offen stehen.
Anita hielt das Etikett in die Kamera. "Wie Sie sehen, ist der Hauptbestandteil dieses Öls Eukalyptus." Sie stellte das Fläschchen weg und nahm ein drittes in die Hand. "Was immer Sie bisher geglaubt haben - versuchen Sie nun dieses. Lassen Sie mich verraten, dass es eine Mischung ist ..."
Jinny schüttelte den Kopf. "Riechst du es?"
"Hm, etwas modrig, erdig, ziemlich streng. Ich glaub, das kenn ich irgendwoher ..."
"... mit Zedern und Myrrhe. Besser bekannt als Weihrauch."
"Hey, du bist ja richtig gut", frohlockte Jinny.
Nun musste ich grinsen. "Ich fühl mich wie ein Hund ... "
Anita fuhr in ihrem Vortrag fort: "Dies war nur ein kleiner Schnuppertest. Nicht jede ist gleich begabt im Fernriechen oder Hellriechen. Es ist ein Hellsinn, der relativ unbekannt ist und deswegen vielfach vernachlässigt wird. Dabei haben wir noch eine Menge zu lernen, verglichen zum Beispiel mit unseren besten Freunden und Hausgenossen, den Hunden. Was für uns aussieht wie sinnloses Schnuppern, ist für sie eine Fülle komplexer Informationen. Sie erhalten sie in einem vorsprachlichen Bereich des Gehirns. Evolutionär haben wir ihn im Prinzip auch, aber im Laufe des Herauskristallisierens anderer Fertigkeiten wie Denken haben wir unseren Bezug dazu kollektiv verloren. Diese Bereiche des Gehirns können wir uns aber wieder erschließen. Manch einer mehr, mancher weniger. Von den Hellsinnen, die es gibt, sind hellsehen und vielleicht noch hellfühlen am bekanntesten. Es lohnt sich jedoch, alle Hellsinne auszuprobieren und zu aktivieren. Der Lohn besteht in komplexen neuen beziehungsweise uralten Informationswelten."
Jinny stuppste mich an. "Mein Hauptsinn ist Hellhören", sagte sie, "ich schließe dazu die Augen und lausche ganz tief."
"Super. Bei mir scheint das Hellriechen ja ganz gut zu funktionieren." Als die Fragerunde eröffnet wurde, drückte ich ganz spontan auf den Knopf, mit dem man sich melden konnte. Tatsächlich erschien nun mein Gesicht auf dem Bildschirm. Das machte mich erstmal ein bisschen verlegen.
"Hallo, Stephanie", begrüßte mich Anita. "Freut mich, dass du dich traust, als erste zu sprechen."
"Ähm, ich hab gar nicht drüber nachgedacht", murmelte ich. "Was ich wissen wollte: Kann es sein, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Hellriechen und der emotionalen Nähe zu Hunden?"
"Eine gute Frage. Auf jeden Fall kann ich mir vorstellen, dass eine enge Beziehung zu einem Hund, wenn wir uns wirklich auf ihn einlassen, auch unser Verständnis fürs Riechen weckt und wir dadurch lernen. Ja. Meines Wissens gibt es dazu noch keine Forschung."
Ich atmete tief durch. "Kann ich noch was anderes fragen? Ich meine, ohne direkten Bezug zu diesem 'Schnupper-Kurs'."
"Fragen Sie."
"Mich irritiert Ihre Fähigkeit, und die Ihres Kollegen, ne Menge mehr zu wissen oder in meiner Aura zu lesen, oder was immer das ist, wie Sie zu solchen Informationen kommen. Aber ..."
"Das ist eine Fähigkeit, die ebenfalls ganz normal ist. Oft wissen wir auch nichts, sondern sprechen einfach aus, was ausgesprochen werden will."
"Aha." Ich nickte. Merkte, dass ich keine richtige Ahnung hatte, was sie meinte. "Ich meine, kann man die Fähigkeit auch mit Hunden anwenden? Ich meine, dass man sich so richtig mit ihnen austauschen kann? Oder wenigstens mehr als dieses sitzplatzkomm-Reden?"
Nun hatte ich sie wohl einen Moment sprachlos gemacht. Nach einer fühlbaren Pause meinte sie: "Okay, ich musste mich erstmal absprechen. Die Nonverbale Kommunikation mit Tieren ist ein Gebiet, in dem wir auch forschen wollen. Wir könnten noch Menschen gebrauchen, die sich für diesen Bereich besonders engagieren wollen. Also herzlich willkommen, Stephanie-Tara." Sie lächelte mich breit an. "Also, wenn Sie wollen."
Nun war es wieder mein Turn sprachlos zu sein. Eigentlich hatte ich nur diesen Kurs machen wollen. Schließlich hatte ich es versprochen. Aber jetzt?
"Cool, eine Einladung ins Team." In Jinnys Stimme lag eine Menge an Emotionen, freudig, ehrfürchtig - und kein bisschen neidisch.
Diese Reinheit in ihrer Stimme, gab den Ausschlag. Natürlich wollte ich! Mit Menschen zusammen Abenteuer der anderen Art erleben, die sich wirklich aufrichtig mitfreuen können! Meine beste Freundin dabei haben ... "Ja, gerne, ich weiß nur nicht, was ich machen muss..."
"Keine Sorge, wir nehmen wieder Kontalt mit Ihnen auf, sobald wir genaueres sagen können." Dann wandte sie sich den nächsten Fragestellern zu.
Es ging bei den weiteren Fragen um das Wie des Hellriechens. Ein Mann war ziemlich verärgert, weil er nichts gerochen hatte. Es stellte sich heraus, dass er starker Raucher war. Als Anita meinte, etwas Schlimmeres könne er sich kaum antun, wurde er richtig sauer und klickte sich aus der Konferenzschaltung raus. Einige weitere Fragen betrafen Trainingsmöglichkeiten.
"Super, dass du mitkommst", meinte Jinny, "das müssen wir feiern." Nach dem Onlinekurs köpften wir eine Rotweinflasche.