"Die ersten Webcams waren wunderbar - endlich einen Blick riskieren, mit unverfälschten Eindrücken vom potentiellen Urlaubsort. Ein Gag, sich mit der Liebsten zu verabreden, die alleine auf Reisen war und dir zuwinken konnte. Doch was ist daraus geworden? Einzelne Bereiche wurden zur Sicherheit, wie es hieß, mit Kameras ausgerüstet. Bankvorplätze, Flughäfen... dann begannen Privatmenschen, ihre Grundstücke mit Überwachungskameras auszurüsten. Unter dem Etikett Privatsache und Sicherheit wieder ein Stück Land mehr, auf dem das Leben festgehalten wird. Ein Platz nach dem anderen kommt hinzu. So lange nur Menschen, und nur bei Bedarf einer tatsächlichen Straftat diese Filme ausgewertet haben mochte die Argumentation noch angehen. Doch mittlerweile gibt es ausreichend leistungsfähige Computer, die sehr schnell riesige Datenmengen bekommen. Computer, die ziemlich gut in Gesichtserkennung sind. Die Folge: Praktisch aller öffentlicher Raum - und viele private Bereiche - werden jeden Moment erfasst. Die Bewegungen von tausenden, von zehntausenden, von Millionen - von allen Menschen werden ausgewertet. Optimal, um aus Menschen Objekte zu machen, denen Dienstleistungen und Produkte maßgeschneidert angeboten werden können. Optimal, um so genanntes erwünschtes - und das heißt: den bestimmenden Personen genehmes, oportunes - Verhalten anzuregen, um nicht zu sagen: zu erzwingen. Kommen noch mehr Drohnen zum Einsatz, die zum Beispiel schnell herbeifliegen könnten und Botschaften übermitteln - zum Beispiel Strafzettel - wird die Überwachung vollkommen."
Bernsteinauge machte eine Pause und schaute in die Kamera.
Tara war einmal mehr so, als sehe er sie direkt an. Sie bekam das Gefühl einer sehr gegenwärtigen Präsenz. Sie strich sich mit beiden Händen über die Schultern und ließ sie dort schützend liegen. Ihr war, als erkläre ihr gerade jemand, dass sehr wohl auch auf geistigem Wege ein Fern-Beobachten, ja Fern-Kommunizieren möglich sei.
"Das Erschreckende", fuhr Bernsteinauge fort, "ist, wie wenig Interesse die meisten Menschen dieser Entwicklung entgegen bringen. Als gehe es sie nichts an. Mit einer Augen zu und 'wird schon gut gehen'-Haltung konsumieren sie wie die Weltmeister, greifen bei Ratenzahlungen zu, als sei es besser als erst ansparen und dann ausgeben. Und über ihr wahres Kapital, ihr wichtigstes Gut - ihre Freiheit, Gedankenfreiheit, Handlungsfreiheit - ihr LEBEN - machen sie sich keine Gedanken." Er schüttelte den Kopf, als könne er es nicht glauben.
Tara spürte, wie nahe ihm das kollektive Verhalten der Mehrheit ging. Ja, dachte sie und atmete unwillkürlich tief durch, was wir hier versäumen, machte es unseren Kindern nur umso schwerer, sich zurück zu erobern. Sie warf einen Blick in Richtung ihres Kleiderschranks. Im Geiste blitzten ihre Erwerbungen der letzten Jahre auf. Wieder ging ein tieferer Atemzug durch ihren Körper. Viel war es nicht, gemessen an dem, was sich andere leisteten. Aber immerhin ... Doch was sollte sie schon tun?
"Sicher hat jede und jeder, die sich vor den Gefahren der derzeitigen Entwicklung verschließen ihre guten Gründe", fuhr Bernstein fort. "Dennoch braucht es zunächst Interesse für das Thema - Interesse und Aufmerksamkeit. Wenn Sie Ihr Haus verlassen, dann lassen Sie Ihren Herd auch nicht an. Über das Thema Überwachung sachlich (!) zu sprechen. Eigene Empfindungen und Gefühle dazu austauschen. Das sind erste Schritte. Mit anderen Worten: Bewusstsein dafür schaffen, dass hier ein Problem entsteht. Wach sein. Auf der anderen Seite steht wieder die Möglichkeit, sich geistig weiter zu entwickeln. Im Prinzip ist Fernwahrnehmung auch ohne technische Geräte möglich. Das bedeutet: Unter Sicherheitsgesichtspunkten wäre kein Bedarf für all die Kameras, wenn es ein Verfahren gäbe, das gut genug die Richtigkeit der Fernwahrnehmung beweist. Die Fähigkeit würde zumindest ein Stück weit ein ausgeglicheneres Verhältnis zwischen Menschen mit und ohne Macht schaffen.
Natürlich kann die Entwicklung dieser Fähigkeiten keine Lösung des Überwachungsproblems leisten. Es braucht sogar Freiheit, sie zu entwickeln und dann auch zu nutzen.
Leider ist meine traurige Wahrheit, dass ich Ihnen im Moment keine Idee präsentieren kann, wie die wahnsinnige Datensammelei und deren Auswertung, die Degradierung des Menschen zum konsumierenden, Umsatz generierenden Objekt aufzuhalten ist.
Ich kann nur dazu aufrufen, die Augen zu öffnen - und in jedem Moment dazu bewusster zu werden. Und sich auf eine neue Bewusstseinsebene zu entwickeln, aus der dann vielleicht eine Lösung kommt."
Er schaute wieder in die Kamera.
Tara hatte das Gefühl, als suche er etwas, werde weiter, öffne einen Raum, in den sie nur einzutreten brauchte.
"Ich hoffe, wir werden in unserer Generation die Entwicklung des Bewusstseins ausreichend voranbringen, um unseren Kindern eine menschenwürdige Welt zu übergeben. Eine, in der Kooperation herrscht. Es ist eine Wahrheit, dass bewusste Gruppenintelligenz erhöhte Weisheit hervorbringt. Wenn wir es schaffen, uns in Gruppen zusammen zu schließen, die sich gemeinsam ausrichten, dann können wir eine solche Erhöhung des Bewusstseins erreichen. Wir brauchen eine Kultur, in der wir Kompetenzen anerkennen und der höheren Kompetenz, die gerade gefragt ist, die Führung geben. Wir brauchen ein erhöhtes Bewusstsein, wann wir an der Reihe sind, hervorzutreten und uns auf die Bühne zu stellen - und wann wir dazu da sind, anderen Raum zu geben. Sie zu unterstützen."
Tara hatte ihre Hände auf die Tischplatte sinken lassen. Obwohl sie sich hilflos fühlte und keine Ahnung hatte, was sie tun sollte, spürte sie, dass sie unbedingt ein Teil dieses neuen Bewusstseins sein wollte.
"Vielleicht ist es überflüssig, aber ich möchte darauf hinweisen: Schließen Sie sich auch mit Menschen in Ihrer direkten Umgebung zusammen. Menschen, die bereit sind, ihre Intuition zu entwickeln und ihre Wahrnehmung ehrlich zu sagen. Auch wenn sie der Ihren widerspricht. Manchmal klingt Wahrheit hart, aber sie ist in Wahrheit freundlicher als dumm und klein haltendes beruhigendes Geschwafel."
Jetzt klang seine Pause in Taras Ohren, als sei er etwas von dem abgekommen, was er sagen wollte.
"... was ich wirklich sagen möchte, ist: Es gibt Programme, mit denen praktisch alles so dargestellt werden kann, als würde es eine Person sagen. Obwohl sie es nie gesagt hat. Daher brauchen Sie eine Möglichkeit, um die Echtheit von Videos zu überprüfen. Das ist in erster Linie Ihre Intuition - gestützt von einer inhaltlichen Überprüfung, ob so etwas gesagt worden sein kann. Passt der Inhalt zu der Person? Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn Sie jemals etwas von mir hören, das nicht aus Liebe, nicht menschenfreundlich oder im Einklang mit meiner bisherigen Lehre ist, dann ist es eine Fäschung."
Sein Blick war eindringlich, als wolle er das Gesagte tief ins Bewusstsein seiner Zuhörer verankern. Gleichzeitig ging von ihm auch Freude aus. Freude am Leben.