"Was würden Sie tun, wenn Ihr Kind oder Enkel jung sterben muss - es sei denn Sie verzichten auf die Anschaffung eines neuen Autos, einige Urlaubsflüge und neue Smartphones?" Bernstein schaute aufmerksam, aber nicht anklagend oder herausfordernd die hundert Augenpaare an, die zu ihm aufblickten. Im Raum entstand eine erwartungsvolle Stille. Kaum jemand hatte eine Ahnung, worauf er hinaus wollte. "Einige von Ihnen fragen sich, wo ein Zusammenhang besteht. Der wird auch nicht im Einzelfall sichtbar. Aber kollektiv. Er ist vielleicht der Schlüssel zum Leben kommender Generationen. Denn wenn wir uns nicht mit allen diesen Gütern massiv einschränken, werden wir keine sonderlich lebensfreundliche Erde für unsere Kinder und Enkel hinterlassen."
Klimawandel, Umweltbelastungen, Zerstörung von Lebensraum von vielen Tierarten, Plastikpartikel im Wasser, Luftverschmutzung ... Abstrakte Themen, zu denen viele eine Meinung haben, aber wenige sich entsprechend verhalten.
Tara empfand ein unangenehmes Rieseln über den Rücken. In ihrem Bauch rumohrte Protest: Was war mit ihrem Bedürfnis? Sollte sie nicht leben dürfen - und was brachte ihr Verzicht - wenn Millionen weiter ihr Verhalten fortsetzten? Vieles konnte sie sich nicht einmal leisten, wenn sie wollte. Die unverpackten und Bio-Lebensmittel zum Beispiel. Und reisen wollte sie sich auch nicht verbieten lassen. Es war eines ihrer liebsten Lebenselixiere.
"Dass wir reden, reicht nicht. Jeder muss sich bei jeder Entscheidung für Konsum, für Wegwerfen und Neukauf, jedem Flug fragen: Ist das mein Teil von gerechter Teilhabe oder ist das mein Beitrag zum Verletzen und vielleicht sogar töten der heutigen Kinder? Es reicht nicht, mit dem Finger auf Entscheidungsträger zu zeigen und auf Politiker zu schimpfen, die keine globalen Regelungen hinbekommen. Manche vielleicht nicht einmal anstreben. Wir müssen, jede und jeder von uns, unseren Teil der Verantwortung übernehmen. Und das sind unsere Entscheidungen, Handlungen im Alltag. Im Kleinen sogar mehrfach täglich."
Seufzend konzentrierte sich Tara wieder auf Bernstein. Sie bemerkte, dass er unverändert freundlich auf seine Zuhörerschar schaute. Kein Vorwurf, kein Belehren, kein Beschuldigen. Etwas in ihr entspannte sich. Tatsächlich empfand sie die agressive Werbung mancher Konzerne als ausgesprochen lästig bis widerwärtig. Und auf die Konsumtempel mit ihren vielen Aktionen und Überreizungen hatte sie auch schon lange keine Lust.
"Die Überproduktion hat eine kritische Masse angenommen", fuhr Bernstein fort. "Längst gibt es mehr Altkleider als die Bedürftigen auftragen könnten. Mehr Elektroschrott als echte technische Neuerung rechtfertigen würde. Mehr Verpackung als Inhalt. Das, was wir Menschen als Spezies machen, ist keine Fülle, es ist Überfüllung. Wenn in der Natur Überfluss herrscht, dann verfaulen die Früchte, die nicht gegessen werden können, und werden zu neuen Bäumen oder Erde. Wenn unsere Geräte und Plastikverpackungen überzählig sind, ist das kein Überfluss, der in den Kreislauf zurück geht, sondern Verstopfung der Erde. Unsere Kinder und Enkel kommen nicht in eine Welt von Überfluss, sondern von Überdruss. Sie ersticken buchstäblich an dem Erbe, das wir hinterlassen. Es sei denn, sie werden vorher vergiftet oder verbrannt. Auf jeden Fall körperlich zerstört, bevor sie im Leben eine wirkliche Chance hatten, eine Änderung zu bewirken. Wollen wir unseren Kindern wirklich sagen 'sorry, Jungs und Mädels, aber wir hatten nun mal Lust auf Party. Tut uns leid, dass ihr davon krank werdet, aber wir waren zu bequem, uns umzustellen.' Wer will das wirklich sagen, in 50 Jahren?"