Evie
Mein Wecker klingelt an diesem Morgen pünktlich um sechs Uhr morgens und reißt mich aus meinen unruhigen Träumen, die mich seit Tagen plagen. Laut gähnend drehe ich mich in meinem Bett herum und würde diese Entscheidung am liebsten wieder rückgängig machen, denn sofort schießt mir gleißend helles Sonnenlicht vom gegenüberliegenden her Fenster ins Gesicht. Mit geschlossenen Augen taste ich nach dem Wecker, der neben mir auf dem Schreibtisch steht und laut bimmelt. Genervt knurrend, drücke ich auf dem weißen Plastikgehäuse herum, doch meine Versuche sind vergeblich und es klingelt einfach weiter. Seufzend schnippe ich daraufhin einfach mit den Fingern und endlich hört das Piepen auf.
Erleichtert drehe ich mich wieder weg und versuche weiter zu schlafen, doch das Zusammenspiel von Licht und Ton hat mich geweckt und es mir unmöglich gemacht erneut in die Welt der Träume einzutauchen. Frustriert öffne ich die Augen und strample beleidigt meine grün-weiß karierte Decke weg. Wieso muss mir dieses bescheuerte Dingen direkt den Morgen versauen?
Da es jetzt sowieso zu spät ist, setze ich mich auf und taste, nach wie vor im Halbschlaf, auf dem weißen Nachttischen neben meinem großen Boxspringbett herum, bis ich endlich mein Handy finde, dass ich am Abend zuvor direkt neben dem kleinen Wecker positioniert hatte.
Mit noch ziemlich kraftlosen Händen, stecke ich den kleinen, hoch elektronischen Kasten mit dem Apfelsymbol an der Rückseite in meine hintere Hosentasche und tapse mit nackten Füßen zu meinem hölzernen Kleiderschrank.
Generell brauche ich morgens glücklicherweise nicht lange, um zu entscheiden, was ich anziehe, da ich kein Mensch bin, der darauf übermäßig viel wert legt, weshalb ich mich für eine legere, dunkelblaue Jeans und mein Lieblings T-Shirt entscheide. Es besteht aus weichem, hellblauem Stoff, der sich einfach nur wunderbar weich auf der Haut anfühlt. Das ist auch der Grund dafür, warum ich dieses Kleidungsstück nie ausziehen will, wenn ich es einmal angezogen habe.
Mir die, vom Schlafen noch ein wenig trüben, Augen reibend, öffne ich meine helle Zimmertür und trete auf den in Fliedertönen gestrichenen Flur hinaus, wo ich den Lichtschalter betätige, um besser sehen zu können. Der kühle Boden unter meinen Füßen lässt mich leicht erzittern, während ich durch den Flur auf das kleine Badezimmer, das sich am Ende des Ganges befindet, zugehe.
So leise es geht, versuche ich die Tür zu öffnen, doch anstatt leise aufzugehen, schwingt sie mit einem lauten Knarren auf und sorgt dafür, dass ich mir feste die Lippe beiße und einfach hoffe, dass keiner wach geworden ist, denn kein anderes Mitglied meiner Familie wäre froh um sechs Uhr morgens von mir geweckt zu werden, was ich ziemlich gut nachvollziehen kann.
Sofort gehe ich zum Fenster, um die Schalosien hoch zu ziehen. Das morgendliche, gleißend helle Sonnenlicht schießt mir entgegen, woraufhin ich meine Augen schnell mit meiner rechten Hand vor der Sonne zu schützen versuche.
Als ich mich endlich an die plötzliche Veränderung des Lichts um mich herum gewöhnt habe, nehme ich wahr, wie stickig es hier ist und öffne das Fenster vorsichtig.
Automatisch strömt mir die angenehme Augustluft entgegen, die zwar kühle, aber nicht kalt, und angenehm frisch ist. Wie in Trance stütze ich mich mit meinen Ellenbogen auf der Fensterbank ab und betrachte die Dächer Londons, die vor dem Fenster aufragen. Schon immer bin ich total verliebt in diese Stadt gewesen, die für mich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereint. Bereits um diese Zeit sehe ich einige Autos, die schneller als wahrscheinlich erlaubt, über die Straßen schießen und das Wasser aus den vielen Pfützen aufspritzen lassen, die sich während des nächtlichen Gewitters fast überall auf den Straßen und in den Gärten gebildet haben. Das laute Rascheln der grün-gelben Blätter, wenn die Spätsommerluft hindurch fegt, passt hingegen perfekt zum Bild der schlafenden Stadt. Die Lichtstrahlen schießen jetzt, am Morgen nach dem Unwetter, an einigen Stellen durch die aufklarende Wolkendecke, die sich am Tag zuvor so hartnäckig am Himmel gehalten hat.
Am liebsten würde ich hier für immer stehen bleiben und zusehen wie die Stadt wieder zum erwacht, doch schon in weniger als zwei Stunden muss ich schon auf meinem unbequemen, quietschenden Stuhl in der Schule sitzen, also wende ich meinen Blick ab, um mich fertig zu machen.
Aus dem Spiegel heraus blickt mir ein Mädchen mit schulterlangem, dunkelbraunem, beinahe schwarzem Haar aus tiefblauen Augen entgegen. Ihre ebenfalls dunkelbraunen Brauen hat sie noch vor wenigen Tagen mit einer Pinzette in eine ordentliche Form gebracht und mit ihrer hellen Haut, die man jedoch noch nicht als blass bezeichnen kann, und den schmalen Lippen, die ihre, in einem gesunden weiß gefärbten, Zähne verbergen, hat sie starke Ähnlichkeit mit Schneewittchen. Jedenfalls sagen das die Menschen um sie herum, denn sie selbst hat den Disneyfilm noch nie geschaut. Schnell wende ich mich wieder von meinem eigenen Spiegelbild ab, um mich umzuziehen.
Meine Finger streichen sanft über den Stoff meiner Alltagskleidung, in die ich mich gerade eben gekleidet habe und fahre mir durch das offene, leicht gewellte Haar, dass ich bis gerade so akribisch durch gekämmt habe. Dann werfe ich einen kurzen Blick auf mein leuchtendes Handydisplay. Etwa zehn Minuten habe ich gebraucht um mich fertig zu machen, doch es ist fast halb sieben, was bedeutet, dass auch im Rest des Hauses bald die Wecker Sturmklingeln werden.
Nachdem ich auf der Toilette war und meine Schlafsachen in die Wäsche gebracht habe, höre ich bereits den Wecker meiner Eltern durchs Haus schrillen und laufe nun komplett wach und voller Energie die Treppe hinunter. Sofort schlägt mir der frische Geruch von Zitronen entgegen. Beschwingt laufe ich in die helle, einladende Küche, die barrierefrei in das weiß-blaue Wohnzimmer übergeht, um schon mal etwas zu essen zu mich zu machen, bevor es hier vor lärmenden Familienmitgliedern nur so wimmelt. Zwar liebe ich meine Familie wirklich, doch manchmal kann jeder von ihnen auf seine Weise ziemlich laut sein und an meinen Nerven zerren.
Anstatt jedoch weiter darüber nachzudenken, stelle ich den Wasserkocher an, nachdem ich ihn mit Wasser befüllt habe, und stöpsele das Radio ein aus dem wenige Sekunden später "Mr Blue Sky" von "Electric Light Orchestra" ertönt. Automatisch drehe ich die Lautstärke auf u. Wenn ich meine Familie schon wecke, dann sollte es wenigstens durch so schöne Klängen geschehen wie durch diese, oder?
Als der Teekocher endlich mein Wasser fertig aufgewärmt hat, hole ich mir eine Tasse aus einem der hohen Schränke über mir, um das Wasser hinein zu kippen. Dann greife ich nach einem Teebeutel, den ich selbst mit Kräutern befüllt habe, und falte ihn auseinander, um ihn kurz darauf in das kochend heiße Wasser, dessen Dampf aus der Tasse hervor steigt. Sobald der kleine Beutel einige Sekunden in der farblosen Flüssigkeit schwimmt, färbt sich alles innerhalb von kurzer Zeit komplett hellblau und der angenehme Geruch der Kräuter steigt mir in die Nase.
Während der Tee durchzieht, beginne ich schon mal Teller, sowie Gläser, auf den Tisch zu stellen, weil ich genau weiß, dass meine Mom sich freuen wird, wenn sie nach unten kommt. Auch den Aufschnitt hole ich aus dem Kühlschrank, nachdem ich jedem eine Scheibe Brot auf den Teller gelegt habe. Das weiche Roggenbrot, dass meine Mutter gestern selbst gebacken hat, duftet frisch, was dafür sorgt, dass ich am liebsten hineinbeißen würde, doch ich halte mich zurück und setze mich mit meinem, bereit etwas abgekühlten, Tee an den Tisch, um auf meine Familie zu warten.
Gerade als ich meine Tasse an den Mund geführt habe und einen Schleck der lauwarmen Flüssigkeit nehmen will, höre ich das zaghafte Knarren der Stufen und wenige Sekunden später taucht ein verschlafener Rotschopf am Fuß der Treppe auf.
Aufmerksam betrachte ich das zwölfjährige Mädchen, das mit halb geöffneten Augen zu mir in die Küche hinüber tapst. Sie trägt ein blau-weißes Kleid und neonfarbene Socken, die einem gerade so entgegen leuchten. Ihr naturrotes Haar, dass sie zusammen mit ihren giftgrünen Augen mit den dunkelgrünen Sprenkeln darin, ein wenig wie die typische Hexe aus den alten Sagen, aber auch tiefgründig und intelligent, wirken lässt, hat sie mit einem grünen Haargummi zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Körperbau des Kindes ist zierlich und dünn, doch trotzdem ist das Mädchen für ihr Alter nicht klein.
Ein müdes "Guten Morgen" entflieht ihren rosigen, eher schmalen Lippen, gefolgt von einem leisen, zurückhaltenden Gähnen. Ich erwidere ihren Gruß und frage: "Und? Hattest du wieder Albträume?" Still nickt das Sommersprossengesicht. "Wie lange schon?", frage ich nun ein wenig besorgt um meine Schwester. Sie lässt sich auf den Platz am Tisch mir gegenüber fallen: "Mehrere Tage. Vielleicht eine Woche. Wie sieht es bei dir aus?" "Nicht sonderlich besser, also die Träume sind nicht weg, obwohl diese Nacht im Verhältnis zu sonst ziemlich ruhig war", erkläre ich meinen Tee schlürfend. Ich sehe zu, wie sie damit beginnt eine Scheibe Brot zu schmieren und anschließend zu belegen. Genau betrachte ich jede Bewegung, die meine Schwester macht, mit beunruhigender Konzentration, stelle dann aber endlich die Frage, die mir schon seit Tagen auf der Zunge brennt: "Wovon handeln deine Träume?" Unsicher zuckt sie mit den Schultern: "Keine Ahnung. Ich kann mich nach dem Aufstehen nicht mehr daran erinnern." Sobald sie nur ein Wort gesagt hat, weiß ich, dass meine Schwester mich gerade anlügt. Schon als kleines Kind war sie nicht gut darin und eigentlich weiß sie auch, dass ich sie durchschaue, doch trotzdem versucht sie es immer wieder, was ich ihr jedoch nicht verübeln kann.
Anstatt sie jedoch darauf anzusprechen, ziehe ich nur misstrauisch die Augenbrauen in die Höhe, während ich erneut einen Schluck von meinem Tee nehme. Die Flüssigkeit fließt durch meinen Mund, in meinen Rachen und von dort aus durch meine Speiseröhre in meinen Magen hinunter. Der blaue Tee wärmt mich von innen heraus und lässt mich spüren wie die Kräfte, die ich schon seit meiner Geburt in mir trage, gestärkt werden. Beinahe entflieht mir ein freudiges Seufzen, doch ich beherrsche mich und beginne nun auch mein eigenes Essen anzurichten. Dabei stecke ich jedoch tief in den Albträumen, die mich jede Nacht heimsuchen, und grabe in meinen Erinnerungen daran, denn ich kann mich ganz genau an das erinnern, was sich Nacht für Nacht an meinem Verstand kratzt.
"Evie?", plötzlich reißt mich jemand aus meinen Gedanken und holt mich in das Geschehen um mich herum zurück: "Geht es dir gut?" Als die weiche Stimme meiner Mutter Scarlett ertönt, hebe ich den Kopf und sehe ihr tief in die Augen, die, wie Azurit in der Sonne, blaue strahlen. "Ja, alles bestens", antworte ich und fasse mir kurz an den Kopf, denn für wenige Sekunden überkommt mich schwindel, als ich wieder ins hier und jetzt zurückkomme. "Bist du sicher, Schatz?", fragt Mom mit besorgter Stimme und legt eine ihrer warmen Hände an meine rechte Wange. Wiederwillig versuche ich mich aus ihrem Griff zu befreien: "Ja, Mom. Wenn ich sage, dass es mir gut geht, dann geht es mir auch gut." Ich weiß genau, dass ich gerade ein wenig zu hart zu ihr bin und dass sie sich lediglich Sorgen um mich macht, doch sie hat mich aus meinen Träumereien geholt und das ärgert mich. "Sei nicht so hart zu deiner Mom, Ev", ermahnt mich mein Vater, der gerade die Treppe hinuntersteigt, doch in seiner Stimme höre ich, dass er sich freut seine Familie zu sehen. "Tut mir leid, Mom", entschuldige ich mich: "War nicht so gemeint. Ich habe einfach grade nachgedacht." "Schon gut. Ich weiß ja, dass du es nicht so gemeint hast", sagt die junge Blondine verständnisvoll und setzt sich zu uns: "Danke fürs Decken übrigens, Schatz. Das spart mir echt Zeit." "Immer wieder gerne, Mom." Nun ist auch mein Vater Elliot in der Küche angekommen und wirft prüfend einen Blick auf die Uhr: "Ich denke, es ist an der Zeit, dass ihr euch fertig macht, oder?" Stirn runzelnd werfe ich einen Blick auf die Zeitanzeige meines Smartphones. Sofort ist ein Ausdruck der Überraschung auf meinem Gesicht zu erkennen: "Stimmt, ich sollte mich wirklich fertig machen." Tatsächlich ist die Zeit nahezu wie im Flug vergangen und nun ist die perfekte Zeit für meinen Aufbruch zur Schule gekommen, weshalb ich mich stürmisch vom Tisch erhebe. Überraschenderweise ist es sogar schon so viel Zeit vergangen, dass ich mir wirklich Sorgen darum machen muss nicht zu spät zu kommen. Auch für meine Schwester wird es langsam Zeit, weshalb ich auch ihr Bescheid gebe:"Komm schon, Ana. Beeil dich, wenn du nicht zu spät sein willst." Sofort erhebt sie sich und läuft hinter mir her zur Garderobe, wo wir unsere Schulsachen hin verfrachtet haben.
Schnell schnappe ich mir meine Schultasche und schiebe die Tragegurte über meine Schultern, nachdem ich meine Herbstjacke und die etwas dickeren Schuhe angezogen habe. Dann drehe ich mich, mittlerweile doch relativ gehetzt, zu meiner Schwester und helfe ihr mit ihrer Tasche, als ich sehe, dass sie es nicht schafft sich die Träger über die Schultern zu schieben. Dankbar sieht sie mich an und in ihren leuchtenden Augen sehe ich die Liebe, die sie für mich empfindet und die ich nur erwidern kann. Sie ist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben, weshalb ich alles versuche um sie vor den schlimmen Sachen, die einem im Leben geschehen können, zu schützen versuche, obwohl ich aus eigener Erfahrung sagen kann, dass man es besonders als Hexe in einem London voller Streitigkeiten in der magischen Welt manchmal noch schwerer haben kann, als es sowieso schon ist. Schnell wende ich meinen Blick ab und starre stattdessen auf die Uhr, denn wie aus einem Instinkt heraus spüre ich, dass uns nur noch wenig Zeit bleibt: "Komm jetzt, Annabelle. Wir müssen los, sonst gibt's Ärger mit der Schule." Zustimmend nickt sie und öffnet dann mit einer kurzen Handbewegung die Haustür ohne sie tatsächlich zu berühren.
Kurz verabschiede ich mich von meinen Eltern, bevor ich, gemeinsam mit Annabelle, aus der Tür und durch unseren Vorgarten schreite, um mich eilig auf den Weg in die Schule zu machen.