Reese
Gerade will ich die Tür öffnen, da drehe ich mich noch ein letztes Mal im Flur herum und schaue, ob ich wirklich alles habe, da ich in letzter Zeit immer denke, dass ich etwas vergessen habe. Mein Blick wandert durch den kargen Flur des blechernen Wohnwagens. Allerdings erblicke ich nichts, was mir fehlen könnte.
Trotzdem bleibt dieses Gefühl auch, als ich noch einmal in meine Taschen greife und nachprüfe, ob ich auch meinen Schlüssel dort verstaut habe. Schon seit einigen Tagen ist es so. “Ich bin dann weg“, rufe ich meinem Vater zu, bevor ich die Tür schwungvoll aufreiße.
Auf eine Antwort warte ich gar nicht erst, weil ich weiß, dass sowieso keine kommen wird. Wahrscheinlich liegt er sowieso noch im Bett, obwohl ich ihn schon vor einer halben Stunde zu wecken versucht habe. Selbst die Jalousien habe ich geöffnet, sodass ihn das Licht vielleicht wach macht, aber an den Tagen vorher hat das auch nicht funktioniert.
Schnell trete ich aus der Tür und springe augenblicklich in den braunen Matsch, der sich vor dem Eingang unserer alten Bruchbude angesammelt hat. Bevor ich mich allerdings schnell auf den Weg zur Schule machen kann, gehe ich meiner morgendlichen Routine nach und öffne unseren zerknautschten Postkasten. Da ich aus eigener Erfahrung weiß, dass im Schloss sowieso noch der Rest des abgebrochenen Schlüssels steckt, versuche ich erst gar nicht dieses zu betätigen. Stattdessen nutze ich meine Hände und die Kraft, die in mir steckt, um den kleinen Kasten geschickt aufzubrechen. Allerdings zerstöre ich ihn nicht völlig, sondern hebele nur eine Seite heraus, stopfe die Post in meine Schultasche und befestige das herausgenommene Teil wieder am Rest des Gebildes.
Als ich die Tortur endlich beendet habe, werfe ich einen Blick auf meine Uhr. Schon fünf vor acht. Das Zuspätkommen muss mir irgendwie in den Genen liegen.
Nun ziemlich gehetzt, mache ich mich auf den Weg zur Schule. Die Post in meinem Rucksack erleichtert mir den Weg jedoch nicht wirklich. Eins wundert mich aber! Dieses Mal war es viel mehr als das. Normalerweise sind es nur Rechnungen und einige Zeitschriften, doch heute scheint es etwas mehr zu sein. Ich meine sogar meinen Namen auf dem der Umschläge gelesen zu haben.
Etwa auf der Hälfte des Schulwegs siegt meine Neugierde und die Schule gerät in den Hintergrund. Zu spät bin ich ja sowieso schon. Also stelle ich meine Tasche einfach kurz auf einer niedrigen Mauer ab und krame mich durch die Papiere im Inneren. Als ich gerade zu denken anfange, dass ich mich doch getäuscht habe, finde ich den Umschlag, nachdem ich gesucht habe.
Tatsächlich steht mein Name darauf. Normalerweise bekomme ich doch nie Post. Mehrmals drehe ich das Kuvert herum, um nach einem Absender zu suchen, doch zu meiner Verwunderung ist keiner zu finden. Ein wenig verwirrt reiße ich den Brief schnell auf und ziehe das darin verstaute Papier heraus. Wer sollte mir etwas schicken und warum?
Um es nicht kaputt zu machen, falte ich das Papier vorsichtig auseinander und starre auf die blaue Tinte, mit der das ganze Blatt geziert ist.
Ohne mich lange aufzuhalten, lasse ich mich konzentriert neben meinem Rucksack auf die kniehohe Mauer fallen und beginne zu lesen.
Liebe Reese,
ich muss London verlassen. Dafür gibt es viele Gründe, die ich dir allerdings hier leider nicht mitteilen kann, da sie mir selbst noch zum Teil im Verborgenen liegen. Etwas ist geschehen und ich konnte unmöglich bleiben. Wenn alles vorbei ist, werde wieder kommen, aber im Moment ist es besser für uns beide uns voneinander fernzuhalten.
Hoffentlich wartest du auf mich, doch wenn du es nicht tun solltest, werde ich deine Entscheidung akzeptieren und aufhören dich zu belästigen, wenn du das willst. Trotzdem komme ich jedoch nicht darum herum dir zu sagen, dass deine Freundschaft das Beste war, was mir im Leben jemals passieren konnte und es tut mir leid, dass es so viele Dinge gibt, die ich dir verschweigen musste und es wohl immer noch tun muss.
Wenn ich aber zurückkehre, werde ich dir alles erklären. Das verspreche ich hoch und heilig! Dich zu verlassen ist die härteste Entscheidung, die ich jemals treffen musste, aber wenn ich es nicht getan hätte, würde es meine Familie und mich in Gefahr bringen.
Wenn das das Ende unserer Freundschaft sein sollte, will ich noch sagen, dass ich hoffe, dass du eines Tages einen Partner findet, der dir die Liebe gibt, die du verdienst, und einen Freund, der so für dich da ist, wie du es für mich warst.
Ich liebe dich und du wirst für den Rest meines Lebens einen Platz in meinem Herzen haben,
Evie
Am unteren Ende des Blattes sind mehrere runde, nasse Stellen zu erkennen. Diese Erkenntnis treibt mir, ebenso wie Evie als sie den Brief geschrieben hat, die Tränen in die Augen, doch ich versuche mich zu beherrschen, um in der Öffentlichkeit nicht plötzlich zu weinen anzufangen. Evie ist weg! Aber warum nur? Weil ich sie ignoriert habe? Das würde sie doch niemals tun. So ist sie nicht. Noch ein weiteres Mal überfliege ich die Zeilen.
Sie schreibt etwas davon, dass sie und ihre Familie in Gefahr sind und dass dort etwas ist, was sie mir verschwiegen hat. Also hatte ich immer recht! Da ist etwas, was sie mir verschwiegen hat. Doch warum? Ihr Geheimnis kann doch niemals so schlimm sein, dass ich mich von ihr abwenden würde. Schließlich war sie meine beste Freundin. Oder eher ist. Für mich hat unsere Freundschaft nie aufgehört. Zwar habe ich sie in den letzten Tagen absichtlich abblitzen lassen, aber trotzdem hatte ich immer vor mich mit ihr wieder zu vertragen und wieder mit ihr befreundet zu sein. Ich habe doch niemals vorgehabt sie zu verlieren, egal ob sie mir alles aus ihrem Leben erzählt oder nicht.
Als ich die letzten Zeilen erneut lese, treten mir erneut Tränen in die Augen und dieses Mal halte ich sie nicht zurück. Ich lasse die salzige Flüssigkeit einfach meine Wangen hinunterlaufen, während der Schmerz in meinem Herz immer stärker wird. Sie hat mich wirklich verlassen!