Evie
Der Motor unseres Autos gerät ins Stottern und stirbt dann ab, als mein Vater das Gefährt anhält. Verwundert sehe ich ihn an: “Warum fahren wir nicht weiter?“ Dad dreht sich zu mir herum: “Wir sind schon da.“
Skeptisch werfe ich einen Blick aus dem Fenster. Das Einzige, was ich dort draußen erblicken kann, ist ein riesiges Haus. Ein hoher, schwarzer Zaun umrahmt das Gebäude, welches man bald schon als Villa bezeichnen könnte. Etwas Dunkles und Bedrohliches umgibt diesen Ort: “Wem gehört dieses Haus?“
Ich bekomme keine Antwort. Aber was habe ich auch erwartet? Schließlich erklären mir meine Eltern mir ja in letzter Zeit gar nichts mehr. “Setzt bitte eure Kapuze auf, Kinder“, bittet mich meine Mutter stattdessen und setzt sich, genauso wie Molly, ihre eigene Kapuze auf. Erst überlege ich das nicht zu tun, bis ich eine Antwort bekommen habe, doch dann denke ich daran, wie verkrampft meine Mutter in den letzten Tagen war. Wenn ich ihren Bitten jetzt nachgehe, wird sie sich mit Sicherheit entspannen und mir meine Fragen auch beantworten. Also mache ich, was sie sagt und setze auch meiner kleinen Schwester die schwarze Mütze auf.
Ohne ein weiteres Wort öffnen Molly und Scarlett die Türen, um aus dem Auto auszusteigen. Wir folgen ihnen zögerlich. Irgendwie habe ich gar kein gutes Gefühl dabei. Instinktiv greife ich nach der Hand meiner kleinen Schwester. Allerdings nicht, um sie zu leiten oder um ihr Schutz zu bieten. Eher versuche ich mir selbst etwas Halt zu geben, während die Frauen unser Gepäck aus dem Kofferraum holen. “Kommt“, flüstert meine Mutter uns zu und legt ihre Hand auf meinen Rücken, um mich zum Laufen zu bewegen.
Verwundert davon, dass Dad nicht hinter uns ist, drehe ich mich um und kann gerade noch sehen, wie er den Motor wieder startet und weiter fährt. Warum fährt Dad denn weiter und steigt nicht mit uns aus? “Mom? Wohin fährt Dad?“, frage ich mit leicht zitternder Stimme. “Das ist jetzt nicht so wichtig, Schatz. Geh bitte einfach weiter“, sie klingt harsch. Dass sie mir schon wieder nicht antwortet, tut mir weh. Ich bin doch kein kleines Kind mehr. Ich würde mittlerweile verstehen, was los ist, wenn sie es mir endlich sagen würde, aber das tut sie ja nicht. Stattdessen verheimlicht sie mir was. Zwar versuche ich für sie ihren Bitten nachzugehen, um später antworten zu erhalten, doch sie beantwortet mir ja gar keine Fragen. Nicht mal die, die vielleicht nichts mit unserem plötzlichen Aufbruch zu tun haben. Mit Sicherheit würde sie mir nicht mal sagen, was wir heute zu Abend essen, wenn ich sie danach fragen würde.
“Kannst du dich ein wenig beeilen, Molly“, bittet meine Mutter ihre alte Freundin. Fast wirkt sie wie ein gehetztes Tier, dass vor dem Tod zu fliehen versucht. “Das geht nicht“, Molly unterbricht ihre momentane Aktion: “Und das müsstest du eigentlich auch wissen. Schließlich hattest du damit früher genau die gleichen Probleme wie ich.“ Meine Mutter seufzt und schaut der Brünetten weiter zu, wie sie mit den Fingern über die Zaunpfeiler streicht.
Nach wenigen Sekunden lässt sei ihre rechte Hand auf einem der Zaunpfeiler ruhen und ihre Linke auf einem anderen. Dann drückt sie beide hinunter und das Tor, welches den einzigen Durchgang durch den hohen Zaun bietet, öffnet sich wie von Zauberhand. Aus diesem Ritual schließe ich, dass nur die Leute, die diesen Code kennen, passieren können.
Staunend sehe ich zu wie das Tor sich immer weiter bewegt, bis es bald völlig offen ist. Ohne weiter geführt zu werden, passiere ich von selbst die Lücke und husche über den Pfad, der durch den Vorgarten zum Eingang des Hauses führt.
An der großen Eingangstür angekommen, zieht Molly einen kleinen, gebogenen Gegenstand aus ihrer Manteltasche. Es dauert einige Augenblicke, bis ich erkennen kann, dass es ein Schlüssel ist. Die Frau steckt den Schlüssel in das Türschloss und dreht ihn herum. Dann stößt sie das massive Holzstück auf und lässt uns eintreten.
Im Inneren angekommen, stellen beide Frauen die Koffer auf dem schwarzen Boden mit dem langen, roten Teppich ab. Sobald sich die Haustür hinter Annabelle geschlossen hat, atmet meine Mutter entspannt durch und lässt sich lehnt sich gegen die dunkel gestrichene Wand.
“Ich will wirklich nicht unhöflich sein, Mom, aber bitte antworte mir jetzt endlich mal auf meine Fragen“, bestehe ich nun beharrlich darauf endlich Antworten zu bekommen: “Und entweder du sagst mir jetzt endlich mal, was los ist oder ich gehe.“ Meine Worte scheinen sie zu verletzten: “Na gut, was möchtest du wissen?“ “Ich möchte erst mal wissen, wessen Haus, das hier ist“, beharrlich verschränke ich die Arme vor der Brust. Kurz werfen meine Mutter und Molly sich einen Blick zu, bevor meine Mutter sich auf meine Höhe begibt und ihre Hände auf meine Schultern legt: “Willkommen im Haus der Blakemores, Evie!“