Ich laufe über die Ebene, höre neben mir seinen schweren Atem. Auch ich bin schon ziemlich außer Puste, doch ich will nicht zugeben, dass ich nicht mehr kann. Nicht vor ihm. Zumindest nicht, wenn er noch kann.
»Warte mal. Ich kann nicht mehr«, keucht er in seinem dunklen Mantel. Sein Gesicht wird völlig von der Kaputze verdeckt.
Ich bleibe stehen und stütze meine Hände auf meine Oberschenkel.
Wie ein zu schnelles Uhrwerk tönt sein Atem über die Wiese, gleichmäßig aber viel zu schnell. Wahrscheinlich höre ich mich ähnlich an wie er.
Um meinen Atem zu beruhigen, starre ich auf den Boden und fixiere eine Heuschrecke auf der Wiese. Sie ist fast nicht zu sehen, wie sie dort entlang läuft. So majestätisch, obwohl sie so klein und wehrlos ist. So leicht könnte man sie versehentlich zertrampeln und ich frage mich wie viele Tiere ich auf meinem Weg hierher zertrampelt habe. Nicht, dass ich mir Sorgen mache, denn es gibt genug von ihnen und die Art würde trotzdem überleben, da ich nicht gezielt Jagd auf sie mache, aber es ist faszinierend. Jeder von uns ist ein Mörder, wenn auch meist nicht absichtlich. Wir sind alle Mörder.
Jeder von uns lebt auf der Grundlage, dass anderes Leben stirbt. Jeder von uns ist für das Sterben unzähliger Lebewesen verantwortlich.
Meine Gedanken werden durch eine schüchterne Stimme unterbrochen. Doch es war nicht er. Er ist verschwunden, was mir recht ist
Denn er hatte mich die ganze Zeit verfolgt, dabei weiß ich gar nicht wer er überhaupt ist.
»Hallo«
Ich blicke auf und was ich sehe, verschlägt mir den Atem. Vor mir steht ein Mädchen. Doch nicht irgendein Mädchen. Sie sieht genauso aus wie ich, hat eine Haltung die ich auch sehr oft habe, sogar die Gesichtszüge sind die gleichen, sie hat meine Augen.
Das einzige, was sie von mir unterscheidet, ist ihre Kleidung.
Ihre Kleidung ist dreckig und zerrissen. Die Ärmel sind komplett abgerissen.
Auch ihre Haare sind völlig verdeckt.
Langsam kommt sie auf mich zu. Ihre Augen wirken merkwürdig matt. Sie fixieren mich wie ein Jäger seine Beute beobachtet. Mit langsamen, beachtlichen Bewegungen kommt sie näher. Fast hat sie mich erreicht.
Noch ein letzter Schritt. Ich sehe in ihre Augen. Sie sieht in meine Augen. Ich blicke in einen Spiegel. Wie von selbst ziehe ich eine Grimasse, sie zieht auch eine Grimasse. Ich hebe meinen Arm, sie hebt ihren. Ich strecke meinen Arm aus um sie zu berühren. Doch sie streckt ihre dürre Hand nicht aus, sondern schlägt meine Hand weg. Sie sieht mich böse an, plötzlich fängt sie an zu lachen. Was für eine Frechheit. Ich starre sie an. Nichts passiert.
Doch nach kurzer Zeit bewegt sie sich.
Wie ein ausgehungertes Raubtier springt sie mich an. Ihre langen Fingernägel kratzen über meinen Arm und hinterlassen tiefe Wunden.
Aus Reflex schlage ich ihren Arm weg, doch sie weicht nicht zurück.
In ihren Augen ist blanker Hass. Vorsichtig mache ich einen Schritt zurück, doch mein Fuß bleibt hängen, ich verliere das Gleichgewicht, rudere mit den Armen, bekomme etwas zu fassen und halte es fest. Meine Hände rutschen ab, ich spüre wie meine Fingernägel abreißen und falle nach hinten.
Meine Rippen knacken, als sie auf mir landet; ich spüre, wie ich die Realität verlasse.
In weiter Ferne spüre ich ihren Biss in meinem Arm, versuche mich ein letztes Mal zu wehren und liege plötzlich auf ihr. Ich presse meinen Mund zusammen, spüre die plötzliche Wärme, die an meinem Kinn heruntertropft. Alles hat einen roten Schleier. Ein letztes Mal zuckt sie zusammen, dann ist alles still.
Ich versuche aufzustehen, doch ich rutsche in einer Blutlache aus und lande mit einem gedämpften Aufschrei auf ihr. Mein Kopf liegt auf ihrer roten Brust.
Ein letzter Gedanke kommt mir in den Kopf.
Wir sind alle Mörder
**********
Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein. Doch als die Soldaten gerade nicht hinsehen, schlüpfe ich durch die Lücke im Zaun, die schon so lange dort ist. Jeden Tag habe ich mir gewünscht dort hindurch gehen zu können, einmal auf dieser Seite zu sein.
Meine Erwartungen werden nicht enttäuscht. Es riecht einfach fantastisch, die ganzen Geräusche sind einfach wunderbar, die Luft schmeckt einfach unglaublich. Es ist wunderschön hier.
Ich laufe über die unendliche Weite, fühle mich frei wie ein Vogel in der Luft. Es ist unbeschrieblich.
Plötzlich sehe ich in weiter Ferne einen Schatten. Vorsichtig pirsche ich mich näher heran. Ich muss wissen, was es ist.
Endlich kann ich es erkennen. Es ist eine Person, sie sieht genauso aus wie ich. Besser gesagt, so wie ich mir vorstelle auszusehen, wenn ich hier leben würde. Doch meine Kleidung ist zerrissen, meine Haare zerzaust.
Sie sieht einfach perfekt aus.
Ich muss sie kennenlernen.
Vorsichtig schleiche ich mich näher. Sie benimmt sich irgendwie merkwürdig.
Mein Herz schlägt vor Aufregung dreimal so schnell wie es sollte.
Ein leises »Hallo« kommt aus meinem Mund. Das kann sie unmöglich gehört haben.
Trotzdem dreht sie sich zu mir um, ich sehe in ihre Augen. Sie wirken so lebendig. Ich habe noch nie zuvor so schöne und lebendige Augen gesehen. Sonst sind Augen immer so matt, doch bei ihr glänzen sie wirklich.
Ich mache einen Schritt in ihre Richtung. Auf einmal wird ihr Blick so merkwürdig, ich sehe wie sie einen Schritt zurückweicht. Sie macht eine merkwürdige Grimasse, ich mache sie nach. Vielleicht ist es ja ein Zeichen des Respektes. Ich kenne mich in ihrer Kultur gar nicht aus. Auch als sie ihren Arm hebt, mache ich das nach. Doch dann streckt sie ihre Hand aus und will mich berühren.
Aus Reflex schlage ich ihre Hand weg. Wieso will sie mich berühren? Jemanden Fremdes ohne Grund freiwillig anzufassen bringt Unglück. Wusste sie das nicht? Das weiß bei uns jedes Kind!
Ich schaue sie mit einem Blick an, der genau das deutlich machen sollte.
Doch sofort lächele ich sie an. Wie konnte ich nur so dumm sein? Sie weiß es wahrscheinlich gar nicht.
Trotzdem starrt sie mich so merkwürdig an.
Sie weiß es und will mich verarschen.
Das darf nicht sein! Sie ist nicht in der Position dazu!
Ich weiß nicht wie es passiert ist, doch plötzlich liege ich auf ihr, schmecke Blut.
Was habe ich gemacht? Mein Köper wird schwach, ich spüre wie sie auf mich einschlägt, meine Knochen brechen. Doch ich wehre mich nicht. Ich habe es verdient. Ich würde würdig sterben.
Ich hatte eine Chance und die Chance habe ich vermasselt.
Die Schmerzen übermannen mich, doch es ist nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die ich in mir fühle. Der Schmerz darüber, versagt zu haben. Ich bin Schuld, dass sie zu einem Mörder wird.
Ich spüre wie sich meine Seele von meinem Körper löst. Ob es eine Erlösung ist, wird sich noch zeigen, aber es ist ein Neuanfang.