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Eine Ansage nach der anderen halt durch die riesigen Hallen des Flughafens von Chicago. Immer wieder ertönt die gefühllose Stimme und verkündet, dass irgendein x-beliebiger Flug gecancelt wurde. Jedes Mal höre ich genau hin, ob es meiner ist und bete zu einem Gott, an den ich gar nicht wirklich glaube. Noch einen Tag in dieser Stadt mit meinen nervigen Eltern und der unerträglichen Hitze halte ich echt nicht länger aus. Da nehme, ich mir lieber ein Taxi egal wie teuer es ist. Glücklicherweise klingt es jedoch in keiner Weise so, als würde ich darauf verzichten müssen ins Flugzeug zu steigen. Ununterbrochen sehe ich, wie die Schlange hinter mir länger wird, während sie sich doch eigentlich am vorderen Ende verkürzen sollte. Diese Tatsache macht mich schon irgendwie sehr nervös, denn normalerweise sollte der Einlass schon angefangen haben.
In diesem Moment nehme ich das Vibrieren meines Handys wahr, dass ich schon zum wiederholten Mal heute höre. Sogar schon so oft, dass sich dieser Ton beinahe in mein Gehirn eingebracht hat und mich fast denken lässt, dass ich ihn nur in meinem Kopf höre. Ein wenig genervt ziehe ich den kleinen, grauen Kasten mit dem Apfelsymbol auf der Rückseite, aus meiner Jackentasche. Schon wieder eine Nachricht von meiner Mutter. Mein Blick wandert auf die kleine rote Zahl rechts oben neben dem Symbol meines Messengerdienstes. Zwanzig! Meine Mutter hat mir in der letzten halben Stunde ernsthaft zwanzig neue Nachrichten geschrieben. Und sie meint, dass man sie nicht als Stalker bezeichnen soll. Manchmal frage ich mich echt, ob meine Eltern als sie noch jünger waren Hand in Hand die Treppe runtergefallen und auf dem Kopf gelandet sind. Ich meine, ihr Verhalten ist doch nicht mehr normal.
Plötzlich ist die weiche Stimme einer Frau zu hören, die verkündet, dass wir endlich einsteigen können. Mit einem erleichterten Seufzer schalte ich den Flugmodus ein und drehe meiner Mutter somit den Harn zu. Langsam wird die Schlange immer kurzer und ich bewege ich mich Zentimeter um Zentimeter, während hinter mir Kinder brüllen und gestresste, reiche Leute versuchen irgendwie schneller durch ins Flugzeug zu kommen als alle Anderen.
Mit dem Blick auf mein Ticket laufe ich im Schneckentempo hinter den Leuten, die auch auf der Suche nach ihren Plätzen sind. Unter meinen weißen Turnschuhen knirscht es laut, als ich auf einen alten Kartoffelchip, der ganz alleine auf dem grauen Teppich liegt. Bei dem Geräusch beiße ich die Zähne zusammen und hoffe jetzt einfach mal nicht, dass sich alle zu mir umdrehen. Verstohlen hebe ich kurz den Blick ein wenig von dem Papier in meiner Hand und stelle fest, dass die Menschen um mich herum zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, um mich zu beachten, was mir nur recht ist.Nachdem ich endlich den blauen Sitz gefunden habe, den ich für diese Reise mein Eigen nennen darf, stelle ich zufrieden fest, dass es ein Fensterplatz ist. Umständlich zwänge ich mich durch die Sitzreihe, bis ich an meinem Ziel angekommen bin und richte mich direkt gemütlich ein. Schließlich werde ich hier voraussichtlich vier Stunden und zwanzig Minuten verbringen, wenn wir rechtzeitig kommen, und werde höchstens aufstehen, um der stinkenden Bordtoilette einen Besuch abzustatten.
Als sich ein korpulenter Mann im grauen Anzug neben mich in den Sitz zwängt, beginne ich plötzlich ungeahnte Erleichterung zu verspüren, denn innerlich hatte ich schon erwartet, dass das mein Leben mal wieder ein Arschloch ist und dafür sorgen wird, dass ausgerechnet Holden, der kleine Handlanger meiner Mutter, neben mir sitzen wird. Meine Mutter hat mich nämlich oft genug damit voll gequatscht, dass er am selben Tag und zur gleichen Zeit zurückfliegen wird wie ich, also bin ich echt überrascht, dass dieser dicke Mann neben mir sitzt. Ich hätte schon gedacht, dass meine Mutter sich mal wieder einmischen und ihm irgendwie einen Platz neben mir besorgen würde, aber glücklicherweise bin ich wenigstens diesem Klischee entgegen.
Ein Streit am Eingang zieht meine Aufmerksamkeit auf sich und bringt mich dazu mich umdrehen. Da erblicke ich ihn. Mitten in der Tür steht Holden und sieht sich hilflos in der Gegend um, während vor ihm zwei Männer laut zu diskutieren begonnen haben. Merkwürdigerweise tut er mir in dieser Situation ziemlich leid, denn er hat gerade ziemlich große Ähnlichkeit mit einem hilflosen Welpen.
Trotzdem drehe ich mich wieder nach vorne und ziehe das Buch, das ich mir für den Flug gekauft habe, aus meinem Handgepäck. Dann folgen mein Handy und die weiß-blauen Kopfhörer, die ich mir aufsetze. Bevor ich jedoch beginne mich in die komplexe Welt meines Buches zurückzuziehen, mustere ich meinen Sitznachbarn genau. In diesem Moment ist er für mich nahezu ein richtiger Lebensretter, denn einen Flug mit Holden neben mir hätte ich wahrscheinlich nicht überlegt. Schließlich hat dieser mich schon beim ersten Treffen im Club den Rest des Tages voll gelabert, sodass ich nun Unmengen von Dingen über ihn weiß, die ich echt nicht wissen wollte.
Der ältere Mann neben mir trägt neben seinem eleganten Anzug noch schwarze Schuhe, die ich als Oxforder erkennen kann. Geld hat er also! Sein schwarzes Haar ist, an vielen Stellen, von grauen Strähnen durchzogen, doch es scheint nicht so, als würde er versuchen dies zu verstecken, was irgendwie cool ist. Auf seinen Wangen sind vereinzelt Bartstoppeln zu erkennen, die ebenfalls grau sind. Gerade zieht er eine königsblaue Brille seiner rechten Anzugtasche, die unerwartet modern wirkt, und setzt sie sich auf die Nase. Interessiert mustert er die Zeitung, in seinem Handgepäck für eine Weile, zieht diese dann heraus, um sie lesen zu können.
Als ich merke, dass ich starre, lenke ich meinen Blick schnell wieder auf das Buch und starte meine Playlist. Sofort ertönt Michael Jacksons “Billie Jean“. Entspannt lasse ich mich in die Musik fallen und lausche den wunderbaren Klängen, während ich das Buch vorsichtig aufschlage, weil ich es hasse, wenn das Buch nach einer Reise in einem schlechten Zustand ist.
Obwohl ich versuche mich vollkommen auf das Schriftstück in meinen Händen zu konzentrieren, folge ich Holden mit meinem Blick, als er an meiner Sitzreihe vorbeischlendert. Selbst während er versucht sein Gepäck in der Reihe vor mir zu verstauen, beobachte ich ihn wie ein Tiger seine Beute. Ach, ernsthaft? Er sitzt vor mir? Da hat mir das Leben ja mal wieder richtig in den Arsch getreten! Automatisch verdrehe ich die Augen, als er sich schräg vor mir in den Sitz setzt. Grinsend dreht er sich zu mir um: “Hey, Leyla. Cool, dass du auch mitfliegst.“ “Ja, super toll“, ich klinge kühler als gewollt, aber die Tatsache, dass er so tut, als hätte er das nicht gewusst, ist echt nervig. Die Wahrscheinlichkeit, dass meine Mutter ihm nicht gesagt hat, dass auch ich um diese Zeit fliege, ist ziemlich klein. Fast mikroskopisch!
Er merkt scheinbar sofort, dass mir gerade nicht danach ist mit ihm zu reden. Also dreht er sich wieder still nach vorne, doch aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er wie ein kleines Kind schmollt. Trotzdem kann ich es nicht lassen den Mann durch die Lücke zwischen den Sitzen zu beobachten. Hätten wir uns unter anderen Umständen kennengelernt, wäre er vielleicht ganz süß, aber dadurch, dass meine Eltern ihn auf mich angesetzt zu haben scheinen, bringt ihm selbst das keine Punkte bei mir ein. Da kann, er schmollen wie er will!
Wahrscheinlich bekommen seine Eltern dadurch auch noch einen Deal mit meinen oder bezahlen in dafür und so einen arroganten Typen kann ich in meinem Leben echt nicht gebrauchen. Ich selbst bin schließlich auch kein ausnahmslos freundlicher Mensch.
Zwar tue ich meistens so, wenn ich tagsüber Zeit in der Öffentlichkeit verbringe und bin zu Leute, die ich gern hab wirklich freundlich und herzlich, verlasse aber nachts dafür umso lieber die Rolle des braven Mädchens und tue Dinge, die meine Eltern auf keinen Fall gutheißen würden.
Wenn sie wüssten, welchen Job ich habe, würden sie mich wahrscheinlich enterben oder leugnen, dass ich ihre Tochter bin. Das ist auch der Grund, warum ich keinen Mann will. Er würde auf keinen Fall mit meinen zwei so unterschiedlichen Leben klar kommen und versuchen sie zu einem zu verbinden oder verlangen, dass ich mich für eins entscheide, aber das werde ich unter keinen Umständen tun. Dieses Doppelleben ist ein Teil von mir und müsste ich mich für eins entscheiden, würde ich auch ein Stück von mir selbst einfach wegwerfen.