Er
Ziemlich gestresst hetze ich durch die Flure der University of Washington und werfe alle drei Sekunden einen kurzen Blick auf das Schild neben jeder der Türen, auf dem die Raumnummer zu finden ist. Mein Atem geht schnell und fast kann ich hören, wie mein Herz gegen meinen Brustkorb hämmert. Fast kann ich spüren, wie die Wirkung meines Deos durch die Hitze an Kraft verliert. Wo ist nur dieser verdammte Raum einhundert sechs. Ich kann es mir wirklich nicht leisten zu spät zu meinem Vortrag zu kommen. Das macht doch sofort einen total schlechten Eindruck bei allen, die gerade auf mich warten und unorganisiert wirke ich auch. Aber Dad musste mich ja unbedingt an eine Uni schicken, in die ich noch nie zuvor einen Fuß gesetzt habe. Teilweise bin ich aber auch selbst schuld. Innerlich muss ich mir nämlich eingestehen, dass ich auch einfach eher hätte losgehen können, aber heute Morgen bin ich einfach nicht aus dem Bett gekommen. Nur wenige Stunden habe ich geschlafen und könnte mich jetzt auf der Stelle wieder ins Bett fallen lassen.
Glücklicherweise erblicke ich just in diesem Moment einen Mann in Uniform, der einen, mit Putzeimern und sämtlichen Chemikalien übersäten, Wagen vor sich her schiebt. Auf dem Kopf trägt er eine Mütze, die genau in demselben blau gefärbt ist, wie der Rest seiner Uniform. Schnell hebe ich die Hand, bevor er sich in den nächsten Raum bewegen kann: “Entschuldigung, Sir?“ Der Mann, mit dem bereits etwas schütterem Haar hebt den Kopf und sieht mich mit einem freundlichen Lächeln auf den schmalen, gesprungenen Lippen an. Sobald meine Worte an seine Ohren dringen, ist er stehen geblieben, sodass ich nun schnell auf ihn zu eilen kann. Wenn jemand mir helfen kann, dann mit Sicherheit er. “Ja?“, er klingt freundlich, was sofort mein Selbstvertrauen stärkt.
Bei ihm angekommen, ziehe ich die Hände aus den Hosentaschen und strecke ihm meine Rechte entgegen: “Guten Tag, ich bin wirklich froh Sie zu treffen. Können Sie mir vielleicht sagen, wo sich Raum einhundert sechs befindet? Ich kann ihn einfach nicht finden.“ “Da kann ich Ihnen helfen“, er schenkt mir ein warmherziges, schützendes Lächeln: “Sie müssen einfach nur weiter den Gang entlang, dann beim nächsten Treppenhaus ins Stockwerk über uns. Wenn Sie raus kommen, schauen sie direkt schon auf ihr Ziel.“ “Vielen vielen Dank“, bekunde ich ausgiebig meinen Dank und spüre, wie sich die Erleichterung in mir breit macht. Glücklicherweise trifft man immer wieder auf wirklich freundliche, hilfsbereite Leute, die einem gerne helfen, wenn man in der Klemme steckt. Der Mann winkt jedoch nur ab: “Kein Ding, ich helfe doch gerne.“
Nachdem ich mich trotzdem noch einmal überschwänglich für seine selbstlose Hilfe bedankt habe, setze ich meinen Weg fort und folge dieses Mal den Anweisungen des Mannes. Tatsächlich ist der Raum nicht wirklich schwer zu finden, wenn man einmal eine gute Beschreibung hat.
Sobald ich die Glastür aufgestoßen habe, erblicke ich den gesuchten Raum. Schnell husche ich in den Flur hinein und bleibe vor der Tür des Saals stehen. Feste klopfe ich gegen das schwere Holz und öffne das Holzgebilde dann.
Kaum habe ich einen Fuß in den Saal gesetzt, wird alles still um mich herum. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sich alle Blicke auf mich gerichtet habe, doch darauf versuche ich nicht zu achten. Stattdessen laufe ich selbstbewusst auf den Professor zu, der noch vor der Tafel steht und reichte ihm kurz die Hand: “Guten Tag, Mister Morrison, aber ich hab den Raum nicht gefunden. Tut mir wirklich leid.“ Am liebsten würde ich gerade im Boden versinken, denn mein Verhalten ist mehr als unprofessionell, obwohl ich äußerlich wohl wie selbstbewusst wirke. “Dann fangen sie jetzt lieber schnell an“, wispert er leise und verlässt das Podium, um sich auf einen Plastikstuhl in der ersten Reihe fallen zu lassen.
“Guten Tag, meine Damen und Herren. Für die Verspätung möchte ich mich gerne entschuldigen“, entschuldige ich mich ehrlich, während mein Blick durch die Reihen aus Studenten wandern: “Leider hat mich …“ Mein Blick bleibt plötzlich bei einer Person hängen und meine Stimme verklingt. Schnell räuspere ich mich und versuche weiter zu sprechen, doch innerlich liegt mein Fokus auf etwas ganz anderem: “Leider hat mich etwas auf dem Weg hierher aufgehalten. Nun bin ich aber da, weshalb wir schnell anfangen sollten.“
Am Rande fällt mir allerdings auf wie abwegig meine Worte klingen, wenn ich dazu so langsam spreche. Darauf nehme ich aber gerade keine Rücksicht, denn dort sitzt die. Die Frau, die mich die ganze Nacht wach gehalten hat, sitzt mitten in dem Hörsaal, in dem ich heute meinen Vortrag halten soll. Wenn das mal kein Schicksal ist!
Für einen kurzen Moment wirkt es so, als wäre mein ganzer Körper vor Schreck eingefroren. Selbst hier ist sie wunderschön, obwohl sich ihre Schönheit dieses Mal auf eine andere Weise ausdruckt.
Ihr dunkles Haar, das am Tag zuvor noch völlig seidig wirkte, hat sie heute zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, an dem ich nur zu gerne ziehen würde. Trotzdem fehlt ihr aber heute etwas. Die Aura, die sie noch vor einigen Stunden umgeben hat, ist verschwunden und es ist mir nicht mehr möglich durch ihre Augen in ihre Seele zu sehen wie beim ersten Mal, als ich sie gesehen habe. Nun wirkt es so, als hätte sich eine Schranke davor gelegt, die mir diesen Zugang verwehrt. Die Leidenschaft, die in ihren Augen gefunkelt hat, und auch der Spaß, den sie hatte, sobald die ersten Töne der Musik erklungen sind, fehlen ihr gerade vollkommen.
Stattdessen kann ich zusehen wie sich ihre Wangen unter meinem Blick rosa färben. Das lässt sie zwar süß wirken und am liebsten würde ich sie in den Arm nehmen und ihr sagen, dass sie sich für nichts zu schämen braucht, doch trotzdem bin ich völlig irritiert. Sie wirkt wie ein ganz anderer Mensch, obwohl das doch gar nicht sein kann. Eine Person kann sich nicht so weit verstellen, dass man sie gar nicht mehr erkennt. Aber woher soll ich überhaupt wissen, wer sie wirklich ich? Vielleicht war die Stripperin nur ein Bild, was sie mir vorgegaukelt hat, doch das kann und will ich einfach nicht glauben. Niemand kann diese Ausgelassenheit schauspielern und keiner kann in meinem Kopf so einen Eindruck hinterlassen, wenn er mir nicht sein wirklich selbst zeigt.
Eins steht für mich genau in dem Moment fest, als ihr Blick ein wenig aufklart. Ich muss unbedingt mehr über diese perfekte Frau wissen und herausfinden, wer sie wirklich ist.