»Ich bin der Philosoph. Oder besser gesagt: Die Philosophin. Falls du dich gefragt hast, wer ich bin.«
Langsam nähert sie sich ihm, doch er macht einen Schritt nach hinten, stolpert und fällt auf einen der vielen Sitze. Es sind ziemlich viele Sitze. Alle bunt, übertrieben bunt. Wer kam auf die Idee, die Sitze in so schrecklichen Farben herzustellen? Das muss denen doch auch aufgefallen sein!
Aber anstatt sich aufzurichten, bleibt er auf dem gepolsterten Sitz sitzen. Immerhin sind die Sitze gepolstert. Hätte schlimmer kommen.
»Keinesfalls frage ich mich, wer du bist.«
Er deutet auf die Sitzreihe vor sich. Nach kurzem Zögern setzt sie sich und starrt ihn an. Ihre Füße scheinen sich beinahe zu berühren; es könnte fast ein friedliches Gespräch zwischen zwei Bekannten in der U-Bahn sein, wenn nicht...halt! Das wollte ich doch noch gar nicht verraten. Das sollte doch das Rätsel sein! Ich kann doch nicht alles gleich am Anfang verraten! Reicht doch, dass ich die U-Bahn erwähne, da muss ich doch nicht auch noch erzählen, dass die U-Bahn zur Hälfte über dem Abgrund schwebt. Das ist doch wirklich überflüssig! Wen interessiert das schon?
Vielleicht weil das Meer dort unten wirklich schön aussieht. Verdammt schön. Wer kann da schon widerstehen?
Das es eigentlich gar nicht möglich ist, ist doch unwichtig. Das Meer als Wunder reicht doch.
Der Rest ist doch egal.
»Die Realität ist bloß ein Märchen«, erklärt er der Philosophin gerade. Was haben wir verpasst? Egal. Der Satz passt doch gut. Wenn man sich so das Meer anschaut...Es erinnert doch eher an ein Märchen, als an die Realität. Verdammt schlau dieser Junge. Könnte fast ein Philosoph werden. Oh, ich habe wohl vergessen, dass die Philosophin ihm gegenüber sitzt. Passiert, wenn man abgelenkt ist.
»Das mag stimmen«, sie beugt sich zu ihm nach vorne, als wolle sie ihm ein Geheimnis anvertrauen, »Die Realität ist bloß ein Märchen.«
Ich würde am liebsten meinen Kopf schütteln, doch das ist in meiner aktuellen Form etwas schwierig. Und es geht ja auch nicht um mich. Ich bin hier unwichtig. Nur ein einfacher Erzähler. Völlig unnötig. Ersetzbar. Die Geschichte funktioniert auch ohne mich. Ich tue ja nichts. Ich habe damit ja nichts zu tun. Es interessiert mich ja auch nicht. Warum auch? Ist doch wirklich langweilig. Es gäbe so viele interessante Geschichten, die ich stattdessen erzählen könnte.
Doch er nickt! Er nickt! Ich könnte mich aufregen. Ich hätte mehr von ihm erwartet. Ich meine, sie hat ihn doch bloß wiederholt. Und dann nickt er einfach?
Er rührt sich nicht einmal. Nicht einen Zentimeter! Im Gegensatz zur U-Bahn. Sie bewegt sich unmerklich immer weiter auf den Abgrund zu. Langsam aber sicher, bis die ganze U-Bahn in den Wellen versinkt, wenn der Wettbewerb...Oh. War das jetzt zu viel gesagt? Aber immerhin weißt du noch nicht, um welchen Wettbewerb es geht. Puh. Immerhin das.
Aber ich wollte die Geschichte nicht spoilern. Wirklich nicht! Das muss du mir glauben! Ich kann nicht anders. Dabei geht es doch gar nicht um mich. Und nicht um die U-Bahn.
Doch dann, dann bewegt sich sein Mund. Sein Mund bewegt sich! Er spricht! Er spricht!
»Diese Worte sind wirklich speziell. Die machen mich wirklich sprachlos. So eine exzellente Weisheit hätte ich dir gar nicht zugetraut. Keineswegs. Dieser Satz: ›Die Realität ist bloß ein Märchen.‹ Grandios. Er hätte von mir stammen können.«
Ich möchte ihm zulächeln. Doch ich bin nur der Erzähler. Ich kann ihm nicht zulächeln. Das geht doch nicht! Sowas ruiniert doch die ganze Geschichte! Ein Erzähler soll die Geschichte erzählen und sich ansonsten raus halten. Ein Erzähler kann sich doch nicht die ganze Zeit einmischen. Nein, das wäre doch wirklich nicht zu ertragen! Wer interessiert sich dann noch für die Geschichte? Am schlimmsten wäre es doch, wenn der Autor das Ende der Geschichte verraten würde. Wenn ich jetzt sagen würde, dass die beiden Charaktere bald sterben werden. Nein! Das geht doch absolut nicht! Es gibt doch gewisse Regeln, an die man sich halten muss! Das wäre nur noch zu toppen, indem man einen Wettbewerb mit sich selbst anfängt...und dann verliert.
»Wie wäre es mit einem kleinen Rätsel«, schlägt sie vor.
Am liebsten würde ich jetzt auf sie zustürmen und sie eigenhändig erwür...vielleicht lassen wir das lieber. Gibt wichtigeres zu tun.
»Ein Wettbewerb mit mir selbst?«, fragt er.
Sie schüttelt den Kopf. »Nein«. Puh. Wenigstens das nicht. »Obwohl, doch ja. So kann man es nennen.«
Ich versuche meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen....doch dort ist keine Wand. Ich habe nicht einmal einen Körper. Somit auch keinen Kopf. Schau mich nicht so an, du kannst mich nicht sehen.
Und jetzt auch nicht sehen, wie ich mit den Schultern zucke, die ich gar nicht besitze.
Aber was dachtest du denn? Ich bin bloß eine Stimme. Mehr brauche ich nicht. Wenn ich einen Körper hätte, wäre es doch viel zu umständlich! Dann wüsste ich gar nicht, was als nächstes passiert. Dann könnte ich euch nicht verraten, dass er diesen Wettbewerb gar nicht gewinnen kann, da er vorher im Meer versinkt. Und sie auch. Vielleicht haben sie Glück und sie können schwimmen, aber wenn ich mir so die Wellen anschaue...Da bin ich doch froh, dass ich keinen Körper habe. So kann ich wenigstens nicht ertrinken. Tut mir ja auch leid für die beiden, doch was soll ich machen? Sie interessiert es ja nicht, was ich erzähle. Wobei ich mich gerade frage, warum du mir noch immer zuhörst.Du willst sie sterben sehen oder? Du willst sie verreckte sehen? Mit der U-Bahn im Meer absaufen? Du willst sie leiden sehen oder? Sonst würdest du mir ja niemals so lange zuhören! Ich kann nichts mehr tun, als dich ein letztes Mal zu warnen. Sie werden sterben! Verrecken. Tief im Meer versinken. Von den Haien und Fischen gefressen, bis nichts mehr übrig bleibt.
Und du willst das alles von mir hören? Ekelhaft! Wirklich abstoßend!
»Ich wäre nicht abgeneigt«, antwortet er. Ganz im Gegensatz zu der U-Bahn. Denn die ist mittlerweile schon ziemlich stark geneigt. Ich sage doch: Nicht mehr lange. Doch sie kümmern sich nicht darum. Sie interessiert es nicht, was passieren wird. Mich auch nicht, um ehrlich zu sein. Doch es gibt einen Unterschied: Ich weiß, was passieren wird. Und du...aus reiner Sensationslust hier. Hier gibt es nichts zu sehen. Habe ich das nicht bereits lange genug deutlich gemacht?
»Das ist wirklich gut. Dann lass uns mit dem ersten Rätsel starten«. Die Philosophin steht von ihrem schrecklich bunten Sitz auf und hat Mühe gerade zu stehen; beinahe rutscht sie die U-Bahn herunter, doch sie kann sich noch festhalten.
Sie haben wirklich nichts wichtiges zu tun. Ich habe sie oft genug gewarnt. Doch sie wollten nicht hören. Nicht einmal er. Einfach ausgelacht hat er mich. Obwohl...konnte er mich überhaupt hören. Egal. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sich darüber Gedanken zu machen.
»Was ist das erste Rätsel?«, fragt er.
»Das ist die schwerste Aufgabe.«
Ich würde lachen, wenn die Aufgabe darin besteht, die nächsten 5 Minuten zu überleben.
»Überleb die nächsten 5 Minuten.«
Ok, ich gebe es zu. Bisschen langweilig, wenn man die Geschichte bereits auswendig kann. Aber das muss ich ja! Sonst könnte ich die Geschichte doch gar nicht erzählen. Oder siehst du Zettel, von denen ich ablese?
»Aber das ist doch kein Rätsel«, stellt er fest. Eines muss ich ihm lassen: Schlau ist er ja, der Junge. Aber es wird ihm wohl nichts bringen. Leider. Gleich ist es so weit. Ich habe dich ja gewarnt. Oft genug! Du solltest dir jetzt wohl besser die Augen und Ohren zuhalten. Bitte.
»Denn es ist viel zu einfach«. Was?!
Langsam steht er auf, ohne sich festzuhalten. Läuft den nun beinahe senkrechten Zug hinauf. Unmöglich, ich weiß.
Doch da ruft er laut: »Die Realität ist bloß ein Märchen. Und in einem Märchen ist alles möglich«. An die nächsten Sekunden kann ich mich leider nicht genau erinnern. Doch als die U-Bahn mit einem Knall im Wasser versank, standen beide in dem dunklen Loch an der Klippe und starrten herunter. Ich glaube sogar gesehen zu haben, dass sie dort Hand in Hand standen, bevor sie sich in Luft auflösten.
Die Realität ist bloß ein Märchen.