Die eisige Nachtluft weht durch die Straßen von Budapest und bringt den jungen Agenten zum Frösteln. Schon seit Stunden hockt er auf dem Dach irgendeiner Wohnung hier in der Stadt und wartet darauf sein Ziel zu töten, um sich dann endlich einen heißen Kaffee vom Stand an der Ecke holen, bevor er zurück nach New York fliegt. Er haucht seine Hände an und reibt sie schnell aneinander, um sich wenigstens leicht aufzuwärmen. Mit den Augen verfolgt er die Menschen auf der Straße immer weiter wie ein Adler seine Beute, da geschieht etwas, woran er schon gar nicht mehr gedacht hatte.
Eine junge Frau setze sich just in diesem Moment auf die Bank auf der anderen Straßenseite fallen. In behandschuhten Händen hält sie einen Becher mit einer Flüssigkeit darin, die er von seinem Platz aus nicht erkennen kann. Ihre langen, roten Locken hat sie unter einer schlichten Wollmütze, die sie bis über die Ohren gezogen hat, teilweise verborgen. Sie ist in einen, der eisigen Jahreszeit angemessenen, Mantel gehüllt, unter dem sie eine Jeans mit einem Oberteil trägt, das er nicht erkennen kann, da sie ihre Jacke bis oben zugeknöpft hat. Zu seiner Verwunderung wirkt sie im ersten Augenblick ganz und gar nicht wie eine feindliche Spionin, die auf den Befehl hin jeden umbringt, der ihre Agentur hintergeht, sondern eher wie eine normale Russin, die sich für einen Urlaub in Ungarn entschieden hat. Er lässt seinen Blick jedoch weiter über sie schweifen und erblickt die Waffe, die in ihrem Stiefel zu stecken scheint.
Obwohl ihn normalerweise das Wissen, dass sie seine Gegnerin ist, davon abhalten seine Waffen zu senken, doch bei ihr ist es ganz anders. Sie wirkt gar nicht kalt und brutal, sondern einfach nur wie eine Frau, die gerade von der Arbeit gekommen ist und ihren Feierabend nun mit einem gemütlichen Winterspaziergang einläutet.
Als sie sich nach kurzer Zeit allerdings erhebt und zum nächsten Mülleimer schlendert, um ihren mittlerweile leeren Becher wegzuwerfen, schleicht er weiter über das Dach, um sie weiter im Blick behalten zu können. Irgendwie beeindruckt sie ihn. Im weißen, kalten Schnee wirkt sie wie eine Tänzerin, die mit eleganten Bewegungen umher tänzelt und mit dem schönen Bild, das sie bietet, den Schnee tauen lässt.
Sie biegt um eine Ecke und läuft geradewegs in eine dunkle, enge Gasse hinein. Das ist seine Chance! Er nimmt einen seiner Aufsätze für den Pfeil, der dafür sorgen wird, dass er sich nicht beide Beine bricht, macht ihn auf dem Dach fest und springt dann vom Dach hinunter genau auf sie drauf. Der Aufsatz gräbt sich fest in die Dachpfannen und hält so das Seil fest, mit dem er sich nun sanft auf die Straße hinab seilt.
Die Spionin stürzt zu Boden, als er sich auf sie stürzt. Mit einem Fuß tritt er sie fest in die Magengrube, bevor er das Seil loslässt. Sie keucht erschrocken auf und stutzt für einige Sekunden, während ihre Hände zu der Stelle wandern, an der er sie getroffen hat.
Dann scheint sie sich allerdings wieder beruhigt zu haben und hebt den Kopf. Ihre Augen scheinen vor Wut zu leuchten und eher er sich’s versieht, zischt ein Messer an ihm vorbei. Das harte Metall glänzt, als das Licht auf ihn fällt und Clint wird bewusst, dass er einen Fehler gemacht hat. Er hätte diese gefährliche Frau sofort umbringen sollen, als sie sich auf der Straße hat blicken lassen.
Instinktiv zückt er seinen Bogen und spannt einen Pfeil ein, als wäre es ein Kinderspiel. Er richtet die Waffe auf sie, bevor sie ein weiteres Messer ziehen kann und lässt die Sehne los. Der Pfeil braust mit voller Wucht auf sie zu, doch kurz vor ihrem Herzen fängt sie ihn einfach nur entspannt auf und wirft ihm zu ihm zurück.
Sein Herz schlägt fest gegen seinen Brustkorb. Sie muss wirklich ein erstklassiges Training genossen haben. Die kalte Luft in seinen Lungen lässt seinen Verstand wieder aufklaren und veranlasst ihn dazu mehrere Geschosse folgen zu lassen. Überrumpelt von seiner plötzlichen Stärke weicht sie zurück und muss immer wieder Schläge und Tritte von seiner Seite einstecken.
Aus irgendeinem Grund versucht er sie aber nicht zu treffen, sondern schießt immer wieder links und rechts neben ihm. Mit einem Pfeil, den er dann doch auf ihren Oberschenkel schießt, bringt er sie zu Fall.
Den rechten Fuß stellt er so auf ihren rechten Oberarm, dass sie nicht im Stand ist ihn weg zu bewegen, und drückt ein Knie auf ihren linken Unterarm. Die Art wie sie sich unter ihm bewegt lässt ihn kurz erstarren. Selbst so wehrlos wirkt sie nach wie vor anmutig. Wie ein Panther. Schön und tödlich zu gleich.
Ihre Augen wirken hart und kalt, doch das alles ist nur eine Maske. Dahinter befindet sich viel mehr. Eine Mischung aus Angst und der Akzeptanz ihres Todes, den er in wenigen Sekunden herbeiführen wird, doch da ist etwas, was ihm davor abhält einen Pfeil direkt durch ihr Herz zu schießen. Etwas, was ihn von innen heraus erwärmt und ihm gleichzeitig eine Gänsehaut beschert.
Als er seine Stimme hebt, um etwas zu sagen, klingt sie leise und kratzig: “Ich will dich nicht umbringen, egal was du getan hast.“ Am liebsten würde er sich für diese Worte in den Hintern beißen, doch er lässt in diesem Moment seinen Gedanken freien Lauf. Während er unsicher und gebrochen klingt, ist ihre Stimme stark und unerschrocken: “Warum nicht? Ein Agent sollte immer seine Aufträge ausführen.“ “Das weiß ich“, faucht er und versucht damit den Schmerz zu überdecken, den ihre Worte in seiner Seele verursachen. Noch nie hatte er einen Menschen getroffen, der so erpicht darauf war endlich dem Tod ins Auge zu blicken. “Warum handelst du dann nicht?“, fragt sie unerschrocken weiter und wirft ihn fast ganz aus der Bahn.
Kurz überlegt er, ob sein Handeln wirklich richtig ist, doch dann schaltet er seinen Kopf aus: “Ich möchte dir ein Gegenangebot machen.“ Beinahe erschreckt er sich, als er das neuerwachte Leuchten in ihren schönen, grünen Augen leuchten sieht: “Das nenne ich mal Luxus.“ Er beginnt sich langsam wirklich zu fragen, wie sie diese Situation mit so viel Humor nehmen kann? Wusste sie etwa schon, dass er sie nicht töten wird, als er sich abgeseilt hat?
“Komm mit zu S.H.I.E.L.D. und starte neu“, unterbreitet er ihr seinen Vorschlag schnell und leise: “Mach das wieder gut, was in deinem Leben falsch gelaufen ist. Ich bin sicher, dass du nicht so böse bist wie man immer erzählt. Niemand wird böse geboren.“ Er sieht zu, wie sie den Mund erst öffnet, um etwas, wahrscheinlich ziemlich spöttisches, zu sagen, diesen dann aber wieder schließt und einfach nur wortlos nickt. “Ist das ein ‘Ja‘?“, prüft er noch einmal ihre Antwort, um sicher zu sein, dass sie ihn nicht ersticht, sobald er Druck von ihrem Armen fällt. Obwohl er sich selbst bei einem ‘Ja‘ von ihrer Seite da auch nicht sicher sein kann. Schließlich ist sie nicht nur eine Mörderin, sondern auch eine Frau, und er hat im Laufe der Zeit gelernt, dass man Kombinationen aus beidem nicht unbedingt blauäugig vertrauen sollte, aber was soll er sonst machen. “Ja“, antwortet sie, doch ihre Stimme hat ihre ganze Ausdrucksstärke verloren.
Genau in diesem Moment beginnt der Schnee wieder zu fallen und sich in ihrem roten Haar zu verfangen, als wäre es ein Zeichen. Ein Zeichen von Hoffnung.