Gewidmet Rosamunde Pilcher. 22. Sept. 1924 bis 6. Feb. 2019. R.I.P.
Als Tochter eines Konditors teilte Rebekka Männer schon von jeher in drei Kategorien ein: Schnitten, Schnittchen und Verschnitt.
Dieser Kerl allerdings, bewegte sich konkurrenzlos außerhalb jeder Norm.
Wie er da stand, mit diesem, ihm garantiert bereits angeborenen, realistisch-pessimistischen Gesichtsausdruck. Die eine Hand in die Hüfte gestemmt, an der anderen A king`s dream am Zügel. Der Gaul war vor Rebekka her zum Stall getrabt. Gleich nachdem er ihr hinten am Waldrand fliegen gelernt hatte.
Einen Augenblick davor war sie noch sicher gewesen, die Situation unter Kontrolle zu haben. Es war ja nicht so, dass sie Derartiges nicht schon erlebt hätte. In all den Jahren. Sie hätte dem Wallach nur den Schwung nehmen müssen. Seinen Fluchtinstinkt ausschalten.
Sie hatte ihr Gewicht nach hinten verlagert und King das rechte Knie in die Rippen gedrückt, um ihn in eine Kurve zu zwingen. Aber sie hatte es offensichtlich weder schnell, noch überzeugend genug getan.
Ein zweiter ohrenbetäubender Knall, wieder unbekannten Ursprungs, hatte ihn endgültig den Kopf verlieren lassen. In ihm waren alle Dämme gebrochen. Mit aller Kraft und bis zum Äußersten angespannt, hatte er, nur für eine Sekunde oder sogar weniger, die Beine in den Boden gestemmt, hatte mit gesenktem Kopf einen gewaltigen Satz zur Seite gemacht, war direkt aus dieser unmöglichen Bewegung nach vorne geschossen und in einem Wahnsinns-Tempo quer über ein Feld und eine Wiese gerast.
Äste von beinahe kahlen Haselnuss- und Brombeerstauden waren ihr schneidend ins Gesicht geklatscht. Einen unbestimmbaren Zeitraum lang war ihr rasendes Herz im Gleichklang mit dem hämmernden Hufschlag des Rappen gewesen, während der scharfe Herbstwind ihr Tränen in die Augen getrieben hatte.
Bekka war nichts anderes mehr übrig geblieben, als die Zügel locker zu lassen, damit er laufen konnte, wie er wollte. Ihre Wünsche und Bedürfnisse hatten sich auf ein Minimum reduziert, nämlich einzig darauf, im Sattel zu bleiben. Aber unmittelbar vor dem Wald hatte das Tier einen heftigen Sprung nach links gemacht, den sie nie und nimmer hätte kommen sehen, und der Sattel war nicht mehr unter ihr gewesen.
Noch im Fallen hatte sie abgeklärt versucht, ungefähr die Härte des Bodens einzuschätzen auf den sie prallen würde, war dann aber doch nicht auf die ungeheure Wucht des Aufschlags gefasst gewesen, von dem ihr im wahrsten Sinne des Wortes Hören und Sehen vergangen war.
Rebekka hatte im kurzen, nassen Gras gelegen, schwer zu sagen wie lange, und in den grauen Himmel gesehen. Sie hatte das Pferd davontrotten sehen.
Weil ihr jedes Urteilsvermögen abhanden gekommen war, war sie aufgesprungen. Der Schmerz, der vom Haaransatz bis zu den Zehenspitzen durch ihren Körper gezuckt war, hatte sie erneut atemlos zurück nach unten geknüppelt. Zuerst auf die Knie, dann mit der Stirn auf die Erde. Die Erde bewegte sich.
Wieder war ein nicht näher zu bestimmender Zeitraum verstrichen, bevor sie sich hatte übergeben müssen.
Einfach liegen zu bleiben, neben ihrem Mittagessen, war ihr als die schlechteste aller Optionen erschienen. Wie in Zeitlupe hatte sie sich aufgerappelt, war wieder gestürzt, hatte sich noch mal aufgerappelt, hatte sich noch mal übergeben. Hatte versucht immer einen Fuß vor den anderen zu setzen. Langsam. Ein Schritt, zwei Atemzüge. Ein Schritt, zwei schmerzende Atemzüge. Ein Schritt, zwei unmöglich schmerzende Atemzüge, aber es war dann doch vergeblich gewesen.
A king`s dream hatte wenige Meter vor ihr gegrast. Gelegentlich hatte er sich umgesehen, gewartet bis sie beinahe an ihn heran gekommen war, und war dann wieder ein paar federnde Schritte in Richtung Stall getrabt. Hatte wieder gewartet, war wieder los gelaufen. Rebekka hätte sowieso nicht mehr aufsitzen können.
Sie hätte sich mehr Humor gewünscht. Die Szene wäre sicher komisch gewesen!
Die Zahnfee musterte Rebekka also mit seinem beschissenen realistisch-pessimistischen Gesichtsausdruck von oben bis unten. "Ich würde Ihnen empfehlen, über die Anschaffung eines Hamsters nachzudenken, mein liebes Fräulein. Dieses Tier scheint mir nicht das Richtige für Sie zu sein."
Falscher Tag. Dieser arrogante Schnösel, der selbst nur aus reiner Bosheit ein Pferd besaß, seit er sich vor einem halben Jahr geweigert hatte es nach der Scheidung seiner Frau zu überlassen, hatte sie am falschen Tag, im falschen Leben erwischt!
Sie sah ihre Schwester aus den Augenwinkeln eine Heugabel wegwerfen und auf sich zu laufen, sie hörte, "Oh mein Gott! Bekka!", während sie tief Luft in ihre Lungen sog. Die würde sie gleich brauchen, um dem Kerl endlich ihre Meinung zu sagen, ihm vors Gesicht zu knallen, was sie von ihm und seiner ganzen unmöglichen, unsensiblen, menschenfeindlichen Art hielt!
Die kalte Luft erreichte die Lungen. Und das Hirn, die Blutgefäße, die Finger- und Zehenspitzen. Und dann wurde es stockfinster.
Sie meinte, Gesprächsfetzen zu hören.
"Eine Kreuzfahrt? Also das wäre nichts für mich! Dieses ewige Geschaukel die ganze Zeit! Hin und her, rauf und runter, rauf und runter. Da wird einem ja schlecht!"
"Ja, und dazu kommt noch die Bewegung des Schiffes!"
Rebekka schlief wieder ein.
So wie die Augen eines Menschen, der jahrelang in absoluter Dunkelheit gefangen gehalten wurde sich wieder an die Sonne gewöhnen müssen, so muss sich eine Frau nach einer Show der Chippendales erst wieder an den Anblick ihres Ehemannes gewöhnen.
Steffi hatte das nicht bedacht, als sie letzten Samstag nach Hause gekommen war. Das Licht des offenen Kühlschranks hatte spärlich ihre Küche erhellt. Davor war Jürgen gestanden, hatte offensichtlich nach etwas Essbarem gesucht und sich dabei durch seine Feinripp-Unterhose den Hintern gekratzt.
Jedenfalls hatte die Szene für Stefanie etwas so schockierend Reales, dass sie sich in diesem Augenblick entschieden hatte, das Licht lieber aus zu lassen und sich wieder umwandte um zurück zu ihrem Auto zu gehen. Gott weiß, warum. Es war nur so eine Idee gewesen.
Es war eine blöde Idee gewesen. Eines der Spielzeugautos ihrer Kinder war ihr kurz vor der Haustür zum Verhängnis geworden. Sie hatte in der Dunkelheit keine Chance mehr gehabt, sich irgendwo festzuhalten nachdem sie erst einmal darauf getreten war.
Die Folgen dieses Sturzes wären aber nicht so schlimm gewesen. Jedenfalls nicht schlimm genug, um einen fast einwöchigen Aufenthalt im Krankenhaus zu rechtfertigen.
Im Grunde war das gar nicht so übel hier! Von den Schmerzen einmal abgesehen. Sie fand das Krankenhaus ruhig und entspannend. Gegen daheim. Und dabei hatte sie erst gar nicht her gewollt.
Nachdem sie auf die Bodenfliesen geknallt war und den ersten Tropfen Blut auf ihrer Zunge geschmeckt hatte, war das Licht angegangen. Jürgen hatte mit dem Spielzeugauto in seiner Hand entsetzt über ihr gestanden. Da war er schon kreidebleich gewesen. Jürgen konnte kein Blut sehen. Er hatte das Gleichgewicht verloren und im Fallen den Schuhschrank umgerissen. Steffi hatte ihren Mann sicher hundert mal darum gebeten, das Ding endlich mal vernünftig an die Wand zu schrauben. Aber nein, ...
Der Schuhschrank hatte Steffi begraben. Zumindest Jürgen war von dem Krachen wieder zu sich gekommen. Er hatte gebrüllt, "Ich rufe den Notarzt!"
"Nein!", hatte Steffi unter dem Möbel zurück gebrüllt. Sie hätte nicht gewusst, ob sie lachen oder weinen sollte. Es wäre egal gewesen, sie hätte beides nicht gekonnt. Der Schmerz hatte ihr sofort die Luft geraubt. "Was soll ich dem sagen?", hatte sie ihn, Blut und Tränen spuckend, mit letzter Kraft gefragt, während er entsetzt das schwere Teil über ihr hoch stemmte. "Nein, mein Mann ist nicht gewalttätig, nur blöd?! Da geh ich lieber drauf!"
Rebekka hoffte, die Augen auf zu bekommen.
"Ach, so ein kleiner Spaziergang durch die Geriatrie ist immer wieder nett."
"Wieso machst du das?"
"Aus Barmherzigkeit. Die Alten freuen sich so, wenn sie noch einmal einer schönen Frau nachstieren können, bevor sie den Löffel abgeben."
"Hm." Das klang nachdenklich. "Sie würden sich sicher noch mehr freuen, wenn sie noch wüssten, warum sie es tun!"
Nein, das war noch nichts. Ein Schläfchen noch.
Vivienne verdankte ihr Krankenbett einem ganz normalen Autounfall. Sie war sicher gewesen, sie hätte Vorfahrt gehabt! Und auch wenn nicht. Sie hatte einen nagelneuen Sportwagen gefahren und schon alleine deswegen hätte ihr die Vorfahrt ja wohl zugestanden.
"Hallo? Können Sie mich hören?", hatte der Notarzt sie gefragt. "Wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?" Er hatte ihr mit einer kleinen Lampe in die Pupille geleuchtet. "Wir müssen Sie in den OP bringen, verstehen Sie?"
"Oh nein," hatte Vivienne entsetzt geflüstert, und instinktiv mit den Händen ihr Gesicht abgetastet. "Wie schlimm ist es?!"
"Nein, nein! Sie haben mit hoher Wahrscheinlichkeit innere Verletzungen."
"Gott sei Dank!"
Sie bezahlte Unsummen in eine private Zusatzversicherung. Aber als sie eingeliefert worden war, war kein Einzelzimmer mehr frei gewesen. Nicht dass sie davon überrascht gewesen wäre. Das Gesundheitssystem ließ ja wohl schon seit Jahren deutlich zu wünschen übrig! Zwei Tage später wollte man ihr eines geben, aber ...
Hatte sie Anfangs keine andere Wahl gehabt, als sich mit der jungen Frau im Nebenbett zu arrangieren, musste sie inzwischen zugeben, dass diese Sache hier ganz nett war.
Früher hatte sie mal Freundinnen gehabt. Wie ihre beiden Ehemänner waren sie ihr im Laufe der Zeit abhanden gekommen.
Da war ein Flüstern. "Ist sie wach?"
"Bin mir nicht sicher."
Rebekka blinzelte ins Halbdunkel eines Krankenzimmers. Links und rechts ihres Bettes blickte jeweils ein interessiertes Gesicht auf sie herunter. "Praline?", fragte das mit dem riesigen Pflaster über der Nase.
Bekka konnte sich so spontan zu keiner Entscheidung durchringen. Die Gesichter wandten sich kurz einander zu und sahen sie dann wieder besorgt an.
"Scheiß Tag, was?!", sagte das Geschminkte.
"Keine Sorge. Alles wird gut", meinte das jüngere mit dem Pflaster in mütterlichem Tonfall und die dazugehörige Hand drückte ihr eine Trüffelpraline zwischen die Zähne. "Und? Wer ist der heiße Typ, der hier gesessen hat, bis die Nachtschwester ihn hinaus geschmissen hat?"
"Ja! Wir wollen alle prickelnden Details, Schätzchen!"