Das Netz! Es zieht sich um mich. Wir werden alle fallen.
- Angeblich die letzten Worte von Hohepriester Fatohriz, als er von einer namenlosen Priesterin der Lorisath ermordet wurde, deren Schwester er töten ließ –
„Haltet inne.“ Anasah hob die Hand, „Es genügt.“
Der ihr gegenüberstehende Hanieg, Antirehms Schatzmeister, hielt in seiner Aufzählung inne und schluckte nervös. Er war ein kleiner dünner Mann mit sorgfältig gestutztem Bart und Haar, dessen Augen jeder ihrer Bewegungen folgten – und Antirehms Schatzmeister. Soeben hatte er ihr die Todeszahlen des Anschlags überbracht. Erst wenige Stunden war es her. Es galt schnell zu sein, wenn sie herausfinden wollte, wer dahinter steckte.
„Wie lange dient Ihr bereits unter Antirehm?“ Sie stieß sich von der Wand ab, an der sie gelehnt hatte und begann, um ihn herum zu gehen.
„Dreizehn Schattentage“, antwortete er, ihrem Blick ausweichend und die Wand anstarrend.
„Eine lange Zeit“, beurteilte Anasah, sagte aber nichts weiter.
Bisher hatte Hanieg nichts getan, was ihr Unwohlsein erregt hätte, sondern nur seine Aufgaben erledigt. Doch wer konnte ihr schon sagen, ob er sich immer noch loyal dem Tempel gegenüber verhalten würde, wenn sie nicht mehr da war? Und was war mit den anderen? Antirehms Beamten, seinem Rat? Wie sollte sie sicherstellen, dass die mächtige Stadt nach dem Willen der Götter regiert wurde? Wie sollte sie nur all das erreichen, was die Götter von ihr verlangten? Sie war doch nur eine einfache Frau. Und doch von ihnen auserwählt, um so Großes zu vollbringen.
Vor ihren Untergebenen ließ sie sich diese Gedanken freilich nicht ansehen.
„Ich danke Euch für Euren Bericht“, bedankte sie sich höflich, „Ich werde wieder nach Euch schicken lassen, damit Ihr mir die Finanzen der Stadt darlegen könnt.“
Hanieg neigte den Kopf. „Es ist mir eine Ehre, Demütigste.“
Stumm blieb er stehen, bis sie ihm nach einigen Augenblicken das Zeichen gab, dass er sich entfernen durfte. Rückwärts bewegte er sich bis zur Tür, wo eine von Anasahs Wachen ihm die Tür öffnete. Es war eine neue Wache. Eraz hatte sie ihr vorgeschlagen und sie wusste nicht, was sie von seiner neuen Fürsorge halten sollte. Den Namen hatte sie sich noch nicht gemerkt.
Der Mann räusperte sich.
Erst jetzt bemerkte Anasah, dass sie noch in der Mitte des Raumes stand, völlig starr und in sich verloren. Sie zuckte zusammen.
„Der Priester, nach dem ihr geschickt habt, wartet draußen“, bemerkte er, wobei er mit ‚draußen’ das Vorzimmer meinte. Anasah hatte sich die Gemächer irgendeines von Antirehms Verwaltern, dessen Namen sie sich nicht gemerkt hatte, in einem Turm mit unaussprechlichen Namen erwählt. Ihr gefiel der Gedanke, dass die Menschen, die etwas von ihr wollten, schon außer Atem waren, wenn sie ihre Gemächer erreichten. Außerdem waren die Zugänge gut kontrollierbar.
„Lasst ihn ein.“
Anasah richtete sich auf. Die Meinung dieses Mannes war ihr wichtig – vorbereitet war sie dennoch nicht.
Jahre war es her, dass sie den nun hineinschreitenden Suchenden Priester zuletzt gesehen hatte. Und aus einem Jungen war ein Mann geworden. Gut sah er aus. Seinem Vater war er ähnlicher als ihr, fand er. Er war sein Ebenbild, als Eraz und sie jung gewesen waren.
„Havina“, begrüßte sie ihn. Ihren Sohn. Sie überlegte. Waren es wirklich schon achtzehn Schattentage, seitdem sie ihn geboren hatte? Es schien ihr wie gestern zu sein.
Er zögerte. „Demütige“, begrüßte er sie schließlich.
„Setze dich, Havina.“ Sie winkte nach einem Diener, damit dieser einen kleinen Sitzteppich für ihren Sohn bereitlegte. Mit einem Handzeichen bedeutete sie ihm, dass er sich zuerst setzen durfte. Dann tat sie es ihm nach.
„Erzähle mir aus deinem Leben, Havina“, bedeutete sie dem jungen Mann, der sich in ihrer Gegenwart sichtlich unwohl fühlte und ihrem Blick auswich.
Doch während er von seiner Ausbildung berichtete, seinem Dienst im Tempel und den Lehren, die er erhielt, wurde er sicherer. Selbst seine Handbewegungen waren ihr ähnlich. Sie genoss es, ihm zuzuhören, während er aus seinem Leben teilte.
„Sag Havina“, unterbrach sie ihn schließlich, „Was sagen deine Lehrer, wann du deine Prüfung ablegen kannst?“
Er blickte sie an. „Alle Lehrer sagen, dass ich herausragende Fähigkeiten in meiner Altersklasse besitze, aber es gibt noch so viel zu lernen, bevor ich selbst dazu bereit sein werde, den Göttern so zu dienen, wie sie es verdienen.“
Mit einem Lächeln belohnte sie seine Antwort.
„Nun denn, Havina, was hast du herausgefunden?“
Sogleich schwand der beschwingte Gesichtsausdruck und wich einer angestrengten eifrik wirkenden Mimik.
„Der Anschlag scheint nicht aus dem Inneren der Stadt zu stammen, Demütige“, berichtete er, „Dazu konnte ich keinerlei Anzeichen entdecken und meine Kontaktpersonen konnten mir nichts dergleichen bestätigen. Es scheint jemand von außerhalb gewesen zu sein, der versucht hat, so zu wirken, als ob der Anschlag durch Kantigarker begangen worden ist.“
„Und mit welchem Motiv?“
Er zögerte. „Dazu konnten mir meine Quellen keine Informationen geben.“
Seine Mutter beugte sich ein wenig vor. „Und was denkst du?“
„Ich denke“, begann er, „dass diese Personengruppe Antirehm nicht befreien wollte.“
Überrascht sah sie ihn an. „Aber weshalb dann?“
„Sie wollten Chaos säen“, entgegnete Havina, „Chaos und Angst unter der Stadtbevölkerung. Das glaube ich.“
Anasah lehnte sich ein Stück zurück. „Danke für deine Einschätzung.“
Sie blickte auf das Sandglas, das auf dem Schreibpult stand. Sie hatte nicht darauf geachtet, wie oft die Diener es umgedreht hatten. Nun, es wurde Zeit.
„Havina.“ Anasah prägte sich seine Gesichtszüge ein, die geschwungenen Lippen, die langen Wimpern, die Stirn, die der von Eraz so ähnlich war. „Pass auf dich auf.“
„Das werde ich…, Mutter.“ Die Hohepriesterin stellte fest, dass sie mit diesem Gespräch zufrieden war, was sie selbst nicht erwartet hatte. Natürlich hatte ihr Sohn noch viel zu lernen. Andererseits hatte er die Kunst des Argumentierens gelernt und bewiesen, dass es richtig war, ihn ohne dass sein Umfeld wusste, wer er war, in den Jinuv-Tempel nach Kantigark zu entsenden. Gewiss konnte sie noch viel mit ihm anfangen.
Dem Recht der Älteren folgend erhob sich Anasah und vollführte den Gruß.
„Ich werde dich bald wieder rufen lassen“, meinte sie leise, „Halte dich bereit.“
Sie brauchte ihren Sohn. Nun, wo ihr der Vater immer mehr entglitt, mehr denn je.
Stumm sah sie ihm zu, wie er sie verließ und fühlte sich stolz und elendig zu gleich.
Ein einziges Seufzen gestattete sie sich, nachdem die Tür sich hinter ihrem Sohn geschlossen hatte. Dann winkte sie nach ihren Sklaven, damit diese sie für die nun folgende Ratssitzung einkleiden konnten.
Eine Stunde später verließ Anasah begleitet von ihren Soldaten ihre Gemächer. Erstaunlicherweise waren die Wege, die sie beschritt, stets wie ausgestorben. Soldaten standen vor verschlossenen Türen und Korridoren, aber das sonstige Gesindel, das dieses Haus bevölkerte, ließ sich nicht blicken. Nun, dann gab es immerhin weniger, über die sie sich ärgern konnte.
„Demütige!“ Laut hallten die Schritte eines Soldaten des Götterschildes durch den Korridor. Sein Gesicht war kreidebleich.
„Was ist passiert?“, fragte Anasah.
„Man hat einen Priester gefunden“, keuchte der Mann, „Er wurde ermordet.“
Entsetzt blieb Anasah stehen. Wie konnte dieses blasphemische Gesindel es nur wagen? Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß sie hervor. „Findet den Mörder. Durchkämmt die ganze Stadt, verdreifacht die Präsenz der Soldaten. Dieses Verbrechen kann und darf nicht ungesühnt bleiben.“
Der Soldat nickte. „Ja Demütige. So wird es geschehen.“
„Überbringt die Befehle.“
Wenn diese Biester es wagten, einen Priester zu töten, wie konnte sie dann noch sicher sein? Wie konnte Havina, ihr Sohn, sicher sein? Die Götter hatten Recht mit ihrer Warnung gehabt. Die Zeiten änderten sich und es oblag dem Tempel, das Rad zurückzudrehen und das Recht der Götter zu erneuern.
Anasah richtete den Blick nach vorne und setzte ihren Weg fort.
Die Fürsten hatten sich versammelt. Anasah genoss es, wie sie zu ihr aufsahen, sowie sie den Raum betrat. Sie schritt an Kialrehm, dem Jüngsten der Runde, vorbei. Ein Lächeln schenkte er ihr, fast wirkte es, als ob sie einen gemeinsamen Pakt geschlossen hätten. Einbilden konnte der Junge sich Dinge gut. Fürst Osirehm blickte zu ihr auf, sah sie kurz an und starrte dann demonstrativ die Wand an. War er immer noch beleidigt aufgrund von Eraz’ Triumphzug? Sie hatte ihm die Ehre überlassen, Ifurehms Leiche zu verbrennen, aber offensichtlich hatte das nicht genügt. Beerehm schließlich nickte ihr zu, ohne erkennen zu lassen, was er dachte. Neben Eraz ließ Anasah sich nieder. Dies waren also die Männer, die über die Zukunft Kantigarks entscheiden würden. Es machte sie stolz, dass sie – eine Frau – sich einen Platz in dieser Runde erkämpft hatte. Und doch waren es so wenige…Neun Fürsten zählte das Land Eletak und nur drei von ihnen befanden sich nun hier. Dirasrehm und Antirehm waren vorerst abgesetzt und Hokrehm mit ihrer Erlaubnis in sein Fürstentum zurückgekehrt – auch wenn sie ihm nicht die Männer gewährt hatte, die er sich von ihr erhofft hatte, um seiner Probleme mit den Räuberbanden Herr zu werden. Doch die übrigen drei waren ihrem Ruf nicht gefolgt. Es wurde Zeit, dass sie dem abgelegenen Gebieten mehr Aufmerksamkeit schenkte, sobald die Angelegenheit mit Kantigark geklärt war.
Kantigark.
Anasah seufzte tief, hob den Blick und bedeutete Eraz, die Versammlung zu eröffnen.
Es war Kialrehm, der als Erster das Wort ergriff.
„Konntest du herausfinden, wer den Anschlag begangen hat?“, fragte der junge Fürst. Es war eine Frage, die sie alle beschäftigte. Sie sah die Furcht in den Augen der Männer. Auch sie fürchtete sich. Aber nicht davor.
„Das Ziel der Angreifer lag erkennbar darin, Fürst Antirehm zu befreien und ihn der rechtmäßigen Strafe zu entziehen“, begann sie, „Hierbei gingen sie rücksichtslos vor und wandten sich selbst gegen die Zivilgesellschaft. Nicht wenige von ihnen kamen ums Leben. Die Götter beweinen die Toten und es ist unser höchstes Ziel herauszufinden, was dort geschehen ist.“ Anasah hielt inne. Bis hierhin waren sie ihr gefolgt, stimmten mit ihren Worten überein und hatten durch kein Wort erkennen lassen, dass ihnen dies missfiel. „Wenn eine Personengruppe mit solcher Gewalt und Entschlossenheit vorgeht, müssen wir davon ausgehen, dass sie sich nicht scheuen werden, erneut anzugreifen. Deshalb habe ich mich mit seiner Höchsten Demütigkeit entschieden, Fürst Antirehm sobald wie möglich mit einer ausreichend großen Geleitmacht zum Hohen Gericht zu entsenden.“
„Wann?“ Eine Frage mit nur einem Wort zu stellen, zeugte von großer Respektlosigkeit. Osirehm schien dies nicht zu stören.
Sie ging darüber hinweg.
„Wenn Eandelath sich erneut erhebt“, erwiderte sie.
„Was ist mit seinen Männern, seinen loyalen Anhängern?“, wollte Kialrehm wissen.
„Das Heer wird nicht für die Entscheidungen ihrer Befehlshaber, Antirehm zu folgen, belangt werden. Was die Männer seines Rates und der Armeeführung betrifft, so werden wir weise Entscheidungen treffen mögen.“
„Dat is Morjen“, meldete Beerehm sich zu Wort, „Dat is bald. Wer sagt denn, dat nich noch mehr Aufstände aotbrechen? De Fürst war beliebt. Wer soll Kantigark regieren nu?“
Der Fürst schob einen seiner Hunde beiseite, der sich vor seinen Füßen niedergelassen hatte, sodass er sich ihr besser zuwenden konnte. „Wer soll Kantigark regieren nu?“, wiederholte er. Dieser Frage wegen waren sie versammelt. Der Aufstand interessierte sie alle nicht, nicht wirklich.
„Wie Ihr richtig sagtet, Fürst Beerehm“, entgegnete Anasah höflich, „müssen wir davon ausgehen, dass weitere Aufstände ausbrechen können. Um dem entgegenzuwirken, haben wir uns entschlossen, dass der Prinz Nisirehm seinen Vater begleiten wird. Unmöglich können wir einen vollljährigen Prinzen unter einheimischen Ratgebern die Regierung überlassen. Dieselben Kräfte, die Antirehm haben befreien wollen, würden versuchen, Einfluss auf Nisirehm zu nehmen.“
Ihnen zu sagen, dass sie Nisirehm verloren hatte, war unmöglich. Eine solche Niederlage konnte sie nach Mechans Flucht unmöglich zugeben. Sie würde ihre Männer aussenden. Sie würden Nisirehm finden, bevor seine Flucht bekannt geworden wurde.
„Nisirehm is de rechtmäßije Erbe seenes Vaters“, wandte Beerehm wie erwartet ein.
„Gewiss und so das Gericht entscheidet, soll er das Erbe seines Vaters antreten, wie es seit jeher Tradition ist, doch für den Moment müssen wir einen längeren steinigeren Weg beschreiten, wenn wir den Frieden in Kantigark wahren wollen.“
„Und wer soll dann uff de Thron sitzen?“
Anasah spürte Kialrehms Blick auf sich ruhen. Mit Eraz hatte sie gesprochen, aber die Fürsten wussten nicht, wie ihre Entscheidung lauten würde. Fünf. Sie brauchte nur einen, der ihr zustimmte, dann war die Mehrheit gewiss.
„Fürst Nisirehm hat einen jüngeren Bruder, Prinz Lisarehm. Er ist der zweite Thronerbe und somit soll ihm in der Abwesenheit seines Vaters die Krone zufallen. So verlangt es das Recht.“
Kialrehm öffnete seinen Mund und schloss ihn wieder. Osirehm geruhte sich nicht, eine Reaktion zu zeigen.
„Wie alt is de Jung?“
Anasah hatte mit Lisarehm gesprochen. Er war nur ein kleiner Junge, schwächlich und angewiesen auf den Rat von Älteren.
„Sieben Schattentage.“
„Dann brauch er eein Rat.“ Beerehm reagierte schnell.
„So ist es. Ein unmündiges Kind kann und darf nicht alleine regieren.“
„Der Junge wird genauso mit Antirehms Denken vergiftet sein“, bemerkte Kialrehm, „Noch mag er ein Kind sein, aber bald wird er sich gegen den Tempel wenden, so wie es sein Vater tat.“ Er sah zu Osirehm. „Wir müssen den rechten Glauben schützen.“
Dieser hob den Blick. Er wirkte müde. „Die Götter haben die Dynastie der Leveler eingesetzt. Es liegt nicht in unseren Händen, sondern in denen der Götter es ihnen auch wieder zu nehmen. Wenn das Hohe Gericht so entscheidet, dann beuge ich mich diesem Urteil, noch obliegt die Herrschaft über Kantigark dem Geschlecht Antirehms.“ Diese Ansprache kam unerwartet. Hatte Osirehm gerade Antirehm verteidigt? Oder doch nur ihrer Entscheidung zugestimmt?
„Das Gleichgewicht muss gewahrt werden, Fürst Kialrehm. So wollen es die Götter.“ Und nun wusste Anasah, worum es Osirehm ging. Seine einzige Intention war es, dass nicht Kialrehms Sohn den Thron erbte, dessen Mutter Antirehms Tochter war. Deshalb unterstützte er Lisarehms Anspruch.
„So wolljen es de Götter“, stimmte auch Beerehm zu.
Und Anasah dankte den Göttern. Ihr Plan war aufgegangen. Niemand hatte nach Nisirehm gefragt. Bei der Einsetzung des fürstlichen Rates würde sie Zugeständnisse an die Fürsten machen müssen, doch der erste Schritt war getan. Antirehms zweiter Sohn würde den Thron besteigen, sodass ihr niemand eine Absetzung der Dynastie der Leveler vorwerfen konnte.
Der Rest war reine Feilscherei.
Und Anasah feilschte gut.