Fürstenhof Kantigarks, der erste Mintasathstag des sechsten Lichttages des 11. Schattentages des Eraz’, MAE
Es ist der göttliche Atem, der den schönsten Geschöpfen dieser Erde – den Pferden – eingehaucht wurde und ihnen ihre Schnelligkeit verleiht. Des Menschen Ehre ist es, diese göttliche Kraft nutzen zu dürfen.
- Sprichwort aus Nisorat -
Unauffällig versuchte Nisirehm seine Position so zu verändern, dass niemand etwas bemerkte.
Und es waren viele Augen, die diese unschickliche Handlung beobachten konnten.
Da waren die Bittsteller, die von seinem Vater Gerechtigkeit erwarteten, die Ratgeber, die hinter und neben ihm saßen, die Wachen, und nicht zu vergessen die vielen Diener, die an den Wänden standen, bereit jeden Wunsch zu erfüllen.
Zum Glück übertönte der momentane Bitter das Knarren, das Nisirehm dem alten Stuhl auf höchst unziemliche Weise entlockte.
Endlich hatte er eine einigermaßen bequeme Haltung gefunden und fokussierte sich wieder auf die nun ausgebrochene Diskussion.
Es warf einen kurzen Blick zu seinem Vater und fragte sich zum erneuten Mal wie Fürst Antirehm so ruhig sitzen konnte, denn die alten Holzstühle waren unbequem.
Doch im Gesicht seines Vaters zuckte kein Muskel, während er den Disputanten ruhig zuhörte und schließlich ein Urteil fällte.
Wie jede Entscheidung, die Antirehm traf, kam Nisirehm auch diese ausgesprochen weise vor. Schon oft hatte er sich gewundert, warum sein Vater obwohl er in Jalinivs Licht geboren war, scheinbar so von Hicurath mit einem gutes Urteilsvermögen und weisen Entscheidungen gesegnet worden war.
Doch auf diese Frage hatte Antirehm nur mild gelächelt und ausnahmsweise keine gute Erklärung vorlegen können.
Dennoch bewunderte Nisirehm seinen Vater uneingeschränkt und seit Jahren war sein Gebet an alle Götter, dass sie ihn so wie seinen Vater werden mögen lassen.
Als Fürst über Kantigark regierte er eine der größten Städte Eletaks, welche zugleich die größten Salzminen des Kontinents besaß.
Dies war auch seiner ganzen Erscheinung anzusehen. Die Art wie er mit Stolz das Zeichen des Adels – das offene Haar mit dem geflochtenem Zopf – trug, seine Männer befehligte und dennoch schier jeden Diener beim Namen nennen konnte, ließ ihn verbunden mit seiner Größe, den strengen Gesichtszügen und den erwünschten Schönheitsidealen vom silberblonden Haar und hellblauen Augen zu einer beeindruckenden Persönlichkeit werden.
Antirehm brauchte keinen Schmuck oder Prunk, um sich als Fürst auszuzeichnen, denn seine Ausstrahlung genügte, um den Menschen zu sagen, wer er war.
Und dies war die Macht, nach der auch sein Sohn strebte. Macht gebaut auf Gerechtigkeit gepaart mit Strenge und Autorität, sowie Ehrfurcht den Göttern gegenüber.
Einst würde er seinem Vater auf den Fürstenthron folgen und er plante ein guter Fürst zu werden und bis dahin noch viel von seinem Vater zu lernen.
Die plötzlich einbrechende Stille lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Die Menge spaltete sich, da jedoch allein die linke Seite, die der Männer, sich teilte, mussten auch die Bittsteller männlichen Geschlechtes an.
Neugierig starrte Nisirehm die Fremden an, die nicht einmal das schwarze Band im Haar hätten tragen müssen, um zu offenbaren, dass sie kein Teil seines Volkes waren.
Ihre Kleidung war einfach und schmucklos gehalten und verblasste neben der Kleidung in strahlenden Blau und Grüntönen, welche die Kantigarker zu tragen pflegten. Ebenfalls hatten sie ihre Haare an den Seiten geschoren, bis nur eine einzelne Strähne am Hinterkopf verblieb, was auf den Fürstensohn reichlich befremdlich wirkte.
Ihre schweren Stiefel hallten in der Stille und obwohl sie deutlich kleiner als sein Volk waren, schien es ihnen als Selbstbewusstsein nicht zu mangeln.
Die vier Männer bauten sich vor den Stufen auf, die zu den Plätzen des Fürsten und seiner Begleiter führten, und Nisirehm erschauderte als einer ihn mit seinen dunklen Augen anblickte. In den Geschichten waren dunkle Augen immer ein Zeichen für Verrat.
„Wir grüßen Euch, Fürst Antirehm“, meinte der, in dessen Bart Edelsteine geflochten waren.
Sein Vater hob die linke Hand an seine Stirn zum traditionellen Gruß und erklärte: „Und ich heiße Euch in meinen Hallen willkommen, Männer vom Volk der Visoniker“
Das also waren Visoniker! Er hatte schon viel von diesem sagenhaftem Volk gehört und war ein wenig enttäuscht, dass sie bis auf die Größe und ihre ungewöhnliche Haarpflege ganz normal aussahen. So wie die Geschichtenerzähler sie schilderten, waren es vielmehr blutrünstige Krieger, die mit Vorliebe Säuglinge auf ihren steinernen Altären opferten. Davon waren diese vier Gestalten jedoch weit entfernt.
„Wir bitten um die Erlaubnis zur Durchreise Eures Landes durch den Pass von Djachu zur Inthronisierung unseres neuen Königs an der heiligen Quelle.“
Obwohl der Visoniker mit einem starken und harten Akzent sprach, konnte Nisirehm ihn gut genug verstehen, um sich zu fragen, warum er noch nie von dieser heiligen Quelle gehört hatte.
„Selbstverständlich wird Euch die Bitte gewährt“, erklärte Antirehm, „Solange ihr euch an die geltenden Gesetze haltet, wird es an meinem Einverständnis nicht mangeln. Richtet Itar-Sach-Elochas meine Glückwünsche aus und die Wünsche, dass er die Größe seines Vaters tausendfach übertreffen wird.“
Was für ein komplizierter Name! Nisirehm fragte sich, ob alle dieses Volkes solche Namen trugen oder nur ihr König.
Die Visoniker versicherten, sich an die Gesetze zu halten und nach ein paar kurzen Ehrerbietungen von beiden Seiten verschwanden die Fremden wieder und die gewöhnlichen Bittsteller traten erneut vor.
Normalerweise fand Nisirehm die verschiedenen Geschichten und geschilderten Tatbestände durchaus interessant, aber heute…Heute hatte ihn eine tiefe Unruhe ergriffen, die der Tatsache geschuldet war, das Mintasathstag der ersten Woche des sechsten Lichttages war, was bedeutete, dass sein Vater morgen nach Asinat aufbrechen würde.
Er verstand nicht, wieso es ausgerechnet diese Reise war, die ihn so sehr beunruhigte, wo der Fürst schon so oft Männer in den Kampf geführt hatte, doch diese Unruhe war da und ließ ihn nicht los. Wenn er mit seinen Sorgen zu einem Priester gehen würde, wäre dessen Antwort, dass er die Sehnsucht nach einem eigenen Kampf verspürte, wo sein vierzehnter Tag doch so kurz bevorstand, doch Nisirehm wusste, dass dem nicht so war.
Er versuchte sich abzulenken, indem er sich wieder auf die Gerechtigkeit des Fürsten konzentrierte.
Am Interessantesten waren ohne Zweifel die Verhandlungen, bei denen Viaras sich zunächst räusperte und sich dann zu seinem Vater beugte.
Wenn es einen Menschen am Fürstenhof gab, von dem Nisirehm behaupten konnte, dass er ihn wirklich verabscheute, dann war es Viaras.
Er war froh darüber, dass sein Vater den Tempeln das Recht der Gerichtsbarkeit entnommen hatte und selbst im Namen der Gerechtigkeit sprach und handelte. Da jedoch allein die Götter vollkommene Gerechtigkeit geben konnten, hatte Antirehm akzeptieren müssen, dass ihm die Hochtempel einen Viandav-Priester als Ratgeber an die Seite stellten, der im Namen der Götter sprach.
Teilweise mischte er sich sogar bei einfachen Fällen von beschuldigtem Diebstahl zwischen Nachbarn ein und verlangte die Hinrichtung des Diebes. Seine Ratschläge trugen keineswegs zur Beschwichtigung des Volkes bei, sondern beinhalteten höchst kreative Umschreibungen eines Todesurteils. Nisirehm hasste ihn und er war sicher, dass sein Vater ebenso empfand.
„Gotteslästerung!“, brüllte er auf einmal, „Tiakar dürfen keine Gerechtigkeit von einem Fürsten erwarten, der den wahren Göttern dient.“
Nisirehm verdrehte die Augen, selbst Viaras kannte die Frau, die nun an der Seite eines jungen Mannes vor dem Thron des Fürsten stand.
Der Priester allein hatte anscheinend ein Problem damit, dass die Haut der Frau dunkel statt hell war und sie ihr Haar weder nach der üblichen Frisur flocht noch einheimische Kleidung trug.
„Was habt Ihr mir zu zeigen?“, fragte Antirehm mit bewundernswerter Gelassenheit.
Der Begleiter der Tiakar fasste unter den Byeros, den typischen Überwurf, der bis zu der Mitte des Oberarms reichte, und hielt den funkelnden Edelstein empor.
Für einen winzigen Moment flackerte Begierde über Antirehms Gesicht, doch war der Eindruck schnell vergangen.
„Ich bin sicher, dass ihr viel Mühe auf euch genommen habt, um ihn zu erlangen“, erklärte er freundlich, „Lasst euch von meinem Schatzmeister für die Mühen entschädigen.“
Antirehm winkte einem Diener, der den Stein entgegennahm und ihn dem Fürsten reichte.
„Ein wunderbares Exemplar.“ Er neigte den Kopf. „Nehmt meinen Dank entgegen.“
Die beiden verneigten sich und wurden von einem Diener hinausgeleitet.
Ein wenig gedankenverloren blickte der Fürst den Überbringern des Steines hinterher, als sie verschwunden waren, warf er einen kurzen Blick zu den Soldaten, die daraufhin begannen die übrigen Bittsteller hinaus zu bringen.
Antirehm wartete bis die Tore sich schlossen, dann erlaubte er auch den Ratgebern, Diener und Soldaten sich zu entfernen.
„Sinijar“, befahl er einem Soldaten um die dreißig, der zuvor still an der Seite gewartet hatte „Geleitet Nisirehm zu den Gemächern seines Bruders.“
Bereitwillig stand der Sohn des Fürsten auf und folgte Sinijar durch ein Seitentor auf den Hof. Genießend sog er die kühle Nachtluft ein und blickte zum Himmel, wo Eandelath eben in den Ländern jenseits des Himmels verschwand, um ihrer Schwester Oandath Platz am Himmelszelt zu machen.
Für einen Moment mischten sich weißes und rotes Licht, bevor das rot über das weiß obsiegte und die ältere Schwester die jüngere vertrieb.
„Kommt, mein Prinz“, meinte Sinijar, „Wir wollen Euren Vater doch nicht verärgern.“
Am Liebsten wäre Nisirehm stehen geblieben und hätte nach den Stiften gegriffen, um diesen Moment für die Ewigkeit festzuhalten, doch mochte er den Soldaten und wollte nicht, dass er seinetwegen Ärger bekam.
Einen Moment schaffte es der junge Prinz tatsächlich, der Wache zu folgen, doch dann entdeckte er seinen Bruder.
Asarak, der schon einundzwanzig Schattentage zählte, beobachtete seinen Hengst, Asarovs Sturm, der soeben von einem Stalljungen über den Hof geführt wurde.
Aufgeregt rannte Nisirehm zu ihm.
„Wird er heute gewinnen?“, fragte er.
„Natürlich“, entgegnete sein Halbbruder in einem Ton, als ob allein die Frage eine Zumutung wäre.
Dann beugte er sich zu seinem jüngeren Bruder und zerzauste ihm das Haar.
„Du wirst sehen, er wird seinem Namen alle Ehre machen.“
Nisirehm stimmte ihm zu. Ein Pferd, das den Namen des Siegesgottes trug, konnte einfach nur gewinnen.
„War es schön in der Halle?“, fragte Asarak, während er sich hinabbeugte und kritisch die Schritte seines Hengstes beobachtete.
„Vier Visoniker waren da“, berichtete er, „Aber ansonsten war es langweilig.“
Genau genommen war dies eine Lüge, doch liebte er seinen Bruder und fürchtete, dass dieser neidisch sein würde, weil Vater ihn noch nie in der Halle an seiner Seite hatte sitzen lassen.
Nur Lisarehm war mehrmals dabei gewesen, sofern seine Krankheit dies zugelassen hatte, aber Asarak war dies verboten und seinen Schwestern sowieso.
Dies lag daran, dass Asarak zwar der Sohn Antirehms, jedoch nicht von der verstorbenen Fürstin Koratchan geboren worden war. Er war das, was die Priester einen Bastard nannten und wurde im Geschlechterverzeichnis zwar als Sohn Antirehms jedoch nicht als Erbe geführt, da er nicht die Namensendung der Adeligen annehmen durfte, sondern den Stand seiner Mutter führte.
Dennoch lebte er im Palast und ihr Vater behandelte ihn außerhalb der Formalitäten nicht anders als seine übrigen Kinder, worüber Nisirehm sehr froh war, denn bewunderte und liebte er seinen Bruder.
Asarak nickte nur, bevor er leicht amüsiert bemerkte: „Ich glaube, du solltest mit deiner Wache mitgehen.“
Nisirehm sah zu Sinijar, der sichtlich ungeduldig aussah.
Unwillig nickte er.
„Wir sehen uns beim Rennen“, meinte sein älterer Halbbruder zum Abschied.
Nisirehm ging einige Schritte, dann wandte er sich noch einmal um und betrachtete seinen Halbbruder.
Er stand bei seinem Rapphengst und redete auf das Tier ein. Selbst aus der Entfernung sah Nisirehm das Leuchten in den Augen Asaraks. Es war ein Leuchten, das allein seine Pferde erhielten. Ebenso wie das wahre Lächeln, wie der Erbe Antirehms es getauft hatte, ein überschwängliches Lächeln, das nur beim Reiten auf dem Gesicht seines Bruders zu sehen war.
Er hatte es nie gewagt, ihn zu fragen, ob Asarak Pferde so liebte, weil Nisirehms Mutter an den Folgen eines Reitunfalls gestorben war.
Die Räumlichkeiten seines Bruders lagen im ersten Stock des nördlichsten Gebäude des Palastes, ebenso wie die Gemächer seines Vaters, seine eigenen und die seiner Schwester in den nördlichen Gebäuden lagen.
Das lag daran, dass diese Gebäude direkt an den Berg gebaut worden waren und somit vor Angreifern von einer Seite unerreichbar waren.
Die Gebäude war aus glattem, weißem Stein erbaut worden, der nach vielen Jahren von Schmutz und Staub jedoch eher grau anmutete.
Vor jeder Tür stand ein Soldat und auch auf den Flachdächern, die alle einen Zugang ins Haus hatten, wachten Bewaffnete.
Ab und an waren Mauern auf den Dächern gezogen worden, die einen gewissen Schutz für die Verteidiger bieten sollten. Früher hatte Nisirehm dort mit seiner Schwester mit Vorliebe verstecken oder Hicuraths-Wege gespielt. In wilden Jagden waren sie von Dach zu Dach gesprungen und hatten lachend auf dem Hof gebalgt. Dies hatte nun ein Ende gefunden, denn von Nisirehm wurde erwartet, dass er seine Kräfte an den Waffen und nicht länger im Spiel erprobte. Der Kontakt zum anderen Geschlecht hatte gering gehalten zu werden, selbst wenn Isachan seine Schwester war. Die Minuten, die er mit ihr allein verbrachte, waren an einer Hand abzuzählen.
Nisirehm seufzte leise und ging ins Innere des Gebäudes, während Sinijar im folgte.
Nur ein Rechteck aus Tageslicht verblieb hinter ihnen, dass bald verblasste, je weiter sie schritten.
Kienspannhalter waren in die Wände eingelassen und in mit Erde gefüllten Steintrögen wurden Steinblüter und andere Klettergewächse herangezogen, die in der Nacht ihre Blüten öffnete und die Welt in blaues Licht hüllten.
Doch momentan brannten allein die Kienspannhalter, so dass der schwere Duft der Flammsteine in den Gängen hing.
Diener kamen ihnen entgegen, sie senkten respektvoll den Blick und wandten sich ab, wenn sie ihren Prinzen erkannten.
„Was für eine heilige Quelle meinten die Visoniker heute?“, fragte er seinen Begleiter, „Mir war nicht bewusst, dass eine jenseits des Passes von Djachu existiert.“
„Ich weiß auch nicht, welche sie meinten“, erklärte der Soldat, „Und ich glaube auch nicht, dass jenseits des Passes eine für uns heilige Quelle liegt, doch für die Visoniker mag dies so sein. Ihre Götter werden anders als die unseren sein und vielleicht in der Natur und nicht in Häusern aus Stein angebetet.“
„Sie haben andere Götter?“, fragte Nisirehm überrascht, „Sie beten nicht Viandav und seine Schwestern an?“
Als Sinijar nur nickte, meinte er nur: „Bei Mintasath! Mir scheint, als muss ich noch viel lernen.“
Ihm war nicht bewusst gewesen, dass so etwas möglich war. Er hatte immer angenommen, dass auch die Visoniker seine Götter anbeteten, wenn auch auf eine Art und Weise, die nicht dem Hochtempel unterstand und diesem deshalb auch nicht gefiel.
„Und welchen Göttern dienen sie dann?“, wollte er neugierig wissen.
„Das weiß ich nicht“, entgegnete sein Gesprächspartner rasch, aber Nisirehm spürte, dass es eine Lüge war. Doch lag es ihm fern, die Wache wegen einer interessanten, jedoch eigentlich irrelevanten Frage zu bedrängen und so forschte er nicht weiter nach der Antwort.
„Was ist ein König?“, hakte er also rasch nach, „Welche Bedeutung hat er?“
„Nun“, begann Sinijar, „In den zwei Schattentagen, die ich bisher für Euren Vater arbeitete, bin ich noch nie in die Länder der Visoniker gelangt, aber soweit ich weiß, ist der König die höchste Instanz, der Herrscher über ihr Volk.“
„Ihr Tempel regiert nicht?“
Er hatte oft genug mitbekommen, wie sein Vater sich über den Befehlen des Hochtempels die Haare gerauft hatte und es war auch nicht das erste Mal, das Antirehm für ihn in den Kampf zog. Das Jemand anders als der Tempel diese Befehle gab, war schier unglaublich. Wie sollte sonst auch der Wille der Götter ausgeführt werden?
„Nein“, antwortete der Untergebene. „Ihr König regiert allein.“
„Jas-Arsib muss dieses Volk wahrlich lieben“, meinte Nisirehm zweifelnd, „Sie sind wahrlich fremd!“
Die Ankunft an den Gemächern von seinem Bruder, nahmen ihm die Zeit weitere Fragen zu stellen, doch beschloss der Fürstensohn später seinen Vater und seinen Lehrer zu den Visonikern und ihrem Leben zu befragen.
Sinijar betrachtete ihn einen Moment nachdenklich, dann wandte er sich den beiden Wachen zu, die vor Lisarehms Gemächern Wache standen und besprach leise etwas.
Schließlich nickte er Nisirehm zu, einer der Wachen schob den kostbaren, gewebten Teppich bei Seite, der vor dem Eingang hing und sie traten ein.
Lange Schatten flackerten an den Wänden, doch im Gegensatz zu den Fluren rührten sie dieses Mal von zwei Feuerkörben her, die an den Enden des Raumes standen. Der Geruch von Flammstein vermischte sich mit dem Geruch von Soray-Olivenöl und anderen Kräutern, die Nisirehm nicht zu identifizieren vermochte, sowie mit dem alles überlagernden Duft verbrannter Herzsteine.
Während Sinijar mit ausdrucksloser Miene neben der Tür stehen blieb, betrachtete sein Schützling seinen Bruder, der mit seiner Schwester Isachan auf dem Boden hockte und sich über ein Spielbrett beugte.
Verwundert sah der Prinz sich nun um und entdeckte schließlich auch Etiyachan, die Schwester seines Vaters, die zusammengesunken in einer Ecke des Zimmers schnarchte. Nach dem Tod seiner Ehefrau bei Lisarehms Geburt, die durch einen Sturz vom Pferd zu früh vonstatten gegangen war, hatte der Fürst seine mehrfach verwitwete Schwester an den Hof geholt, damit diese die Erziehung seiner beiden Töchter übernahm. Nun, wo Akalachan verheiratet war, erhielt allein Isachan den zweifelhaften Genuss der Aufmerksamkeit ihrer Tante.
Nisirehm war froh, dass sie schlief, denn wäre allein das Spiel, welches die beiden spielten, in ihren Augen Gotteslästerung.
„Lasst das bloß nicht Vater sehen.“
Seine Schwester fuhr herum, entspannte sich jedoch, als sie ihn entdeckte und meinte nur: „Ach, du bist’s“
Er beharrte nicht auf seinem Protest, er wusste allein der Versuch, sie überzeugen zu wollen, war schon im Ansatz verloren. Stattdessen ließ er sich neben sie auf dem Teppich nieder, empfing ein freundliches Lächeln von seinem Bruder und blickte auf das Spiel.
Isachan runzelte die Stirn und tippte auf das Spielfeld.
„Siehst du seine Sklavin hier? Sie ist an sich keine starke Person, doch hat er sie siebenfach mit Apisariths Segen ausgestattet. Sie steht mir jedoch im Weg, wenn ich seinen Hohepriester angreifen will.“
Nisirehm blickte konzentriert auf die verschieden angeordneten Figuren und die um diese in Einbuchtungen liegenden Kügelchen, bevor er einen Blick auf die von ihr gewürfelte Zahl warf.
Es war eine ungewöhnliche von Lisarehm gewählte Kombination, doch es war solch eine starke, dass er sich fragte, wie so er sie bisher selbst nicht genutzt hatte. Wahrscheinlich weil nur sein Bruder auf die Idee kam, die schwächste Person zur Stärksten zu machen, indem er sie unter den Schutz der Liebesgöttin stellte.
„Generell würde ich gegen Apisariths Segen, den von Lorisath setzen, doch da du bisher keine deiner Personen mit Lorisaths Segen ausgestattest hast und du eine niedrige Zahl gewürfelt hast, kannst du ihn nicht überbieten. Tut mir leid.“
Er zuckte mit den Schultern, auch wenn es ihn um das Verlieren seiner Schwester nicht wirklich Leid tat.
Ihr schien dies nicht sonderlich viel auszumachen, denn es lag ein Lächeln auf ihrem Gesicht, als sie beobachtete wie Lisarehm ihren Fürsten mit seiner Sklavin besiegte und schließlich auch ihren Hohepriester ausspielte.
Anschließend verstaute sie das Spielfeld, die Figuren, Kugeln und Würfel in einem der vielen Kisten und ließ sich erneut auf dem Teppich nieder.
„Wann war dein letzter…?“, fragte Nisirehm seinen Bruder leise, nachdem er sich zu ihm hinüber gebeugt hatte.
„Vor vier Tagen“, entgegnete dieser nicht minder leise.
Keiner aus ihrer Familie sprach gerne über die Krankheit, an der Lisarehm schon seit der Geburt litt und die es verhinderte, dass er wie seine Geschwister in der Öffentlichkeit spielte und auftrat.
Der jüngste Sohn des Fürsten war zu einem Leben in seinen Gemächern verbannt, denn wenn die Priester von den Anfällen erfuhren, bei denen er jegliche Kontrolle über sich selbst verlor, würden sie ihn als von den Göttern verflucht erachten. Es war etwas, was keiner von ihnen wollte.
In diesem Moment trat ihr Vater ein.
Antirehm sah müde sein, aber als er die jüngsten seiner fünf Kinder erblickte, lächelte er und ließ sich an der Seite seiner Kinder nieder. Dabei saß er im Schneidersitz mit einer geraden, aufrechten Haltung. Auch wenn er in diesem Moment als ihr Vater da war, so war er zugleich ein Fürst. Beides vermischte sich und manchmal war es schwer, die beiden Personen voneinander zu trennen.
„Sieh, was ich dir mitgebracht habe.“ Unter seinem Überwurf holte er den Herzstein hervor und reichte ihn Lisarehm.
Erleichterung huschte über das Gesicht des Jungen, denn auch wenn die Heiler ihnen den Grund nicht nennen konnten, war der Duft verbrannter Herzsteine das Einzige, was bei seinen Anfällen half.
„Edersam!“, rief Lisarehm mit seiner kräftigen, rauen Stimme.
Der Vorhang einer der Nachtbarräume wurde bei Seite geschlagen und der junge Mann erschien. Er trug nicht das Wappen Hasimivs, dem Gott der Heilkunst, doch verstand er sich hervorragend darauf, Lisarehm die Anfälle erträglicher zu machen.
Edersam verneigte sich vor dem Fürsten und seinen Kindern, bevor er vor seinem Schützling verharrte.
Lisarehm reichte ihm den Stein und erklärte: „Verwahrt diesen Herzstein bei den Anderen. Bewahrt ihn gut“
Der Heiler nickte knapp, wartete bis sein Herr ihn mit einer knappen Handbewegung entließ und verschwand erneut in einem der Nebenräume.
„Es tut mir leid, dass ich an deinem Tag nicht da sein werde“, meinte Antirehm zu seiner Tochter.
Erneut wurde Nisirehm bewusst wie besonders sein Vater war. Die Tage der Söhne mochten bedacht werden, doch ein Vater erinnerte sich nur an ihrer Hochzeit an den Tag seiner Tochter und das nur, weil sie mindestens dreizehn Jahre alt sein musste, um heiraten zu dürfen. Denn Söhne führten das Erbe der Familie weiter, während Töchter Söhne für den Erhalt der Familie ihres Mannes gebaren. Indem Antirehm den Tag seiner Tochter gedachte, ehrte er sie auf besondere Weise, ungeachtet der Tatsache, dass Töchter keine Ehre erhielten.
Antirehm bat seinen ältesten Sohn mit einer Geste sich zu erheben und führte ihn in einen leeren und unbenutzten Nachtbarraum. Die kahlen Wände schienen jene Unsicherheit und Verwirrtheit widerzuspiegeln, die Nisirehm auch in seinem Inneren verspürte. Ein zusammengerollter Teppich lag vergessen und verstaubt in einer Ecke, die einst strahlenden und kunstvoll verwebten Farbtöne waren verblasst und unter einer Schmutzschicht verdeckt. Dieselbe Leere, dieselbe Getrübtheit. Längst waren die strahlenden, unbedarften Farben seiner Kindheit unter der Unsicherheit verdeckt, die die Träume der letzten Zeit in ihm hervorriefen. Träume, von denen er niemandem erzählte, selbst seinem Vater nicht, weil all sein Wissen über ihre eigentliche Bedeutungslosigkeit neben ihrer Eindrücklichkeit bedeutungslos wurde.
Es würde der letzte Moment sein, den sie beide unbeobachtet verbringen würden, das wusste Nisirehm, aber dennoch zögerte er.
„Mein Sohn“, begann Antirehm und in diesem Moment war er Vater und Fürst zugleich, „Solange ich die Kriege des Tempels fechte, wird es deine Aufgabe sein, den Frieden in Kantigark zu wahren. Ich war nur wenig älter, als mein Vater starb und ich weiß wie einsam man sich in jenen Momenten fühlt. Wie lautet unser Wahlspruch?“
„Gemeinsam halten wir stand“, flüsterte er leise.
Sein Vater nickte.
„Erinnere dich an dieses, denn wir sind immer ein Teil von einander, egal was geschehen mag.“
„Du machst dir mehr Sorgen als sonst“, erkannte Nisirehm und die Sorge, die er in den Augen seines Vaters las, erschreckte ihn.
„Ja. Fürst Dirasrehm war mein Freund und es liefen Verhandlungen, seine Tochter mit dir zu verheiraten. Doch die Wahrheit ist, das ich dem Tempel etwas verwehrt habe, was er zu wünschen besitzt und dass die Tatsache, dass mich Freundschaft mit Dirasrehm verband, mir zur Last gelegt werden kann. Merke dir: Der Tempel setzt nicht den Willen der Götter, sondern den der Hohepriester durch. Sei wachsam und traue niemandem außerhalb unserer Familie, denn sie allein vertreten dieselben Interessen wie du. Verschiebe wichtige Termine, die Viaras und andere dir aufzuzwingen versuchen und warte auf meine Wiederkehr.
Sei mutig und stark, denn du bist mein Sohn.“
Antirehm musterte seinen Sohn, dann nahm er dessen Hand zwischen die seine, was ein ungewöhnliches Zugeständnis an Nähe war.
„Mein Sohn.“ Seines Vaters Stimme wurde sanft. „Erzähl mir etwas über deinen Namensvetter Nisirehm, den Zweiten seines Namens. Wie wurde er genannt?“
„Der Herrliche“, murmelte der jüngere Nisirehm, nicht wissend, auf was sein Vater hinauswollte. Wenig schien er mit dem großen Fürsten zu tun haben, der die jüngere Linie und heutige Herrscherfamilie begründet hatte, nachdem mit Fürst Afisrehm die direkte männliche Linie ausgestorben war.
Sein Vater nickte. „So wird er in den Liedern besungen und in den Worten der Dichter geschmückt. Doch wurde er in Asinat lange Zeit mit einem anderen Namen bedacht. Weißt du auch, wie dieser lautet?“
„Nein“, erklärte Nisirehm und blickte seinen Vater an, „Ich weiß nur, dass Asinat zu seiner Zeit begann, ein unabhängiges Fürstentum zu werden“
„Auch das stimmt. In Asinat besaß er einen weitaus weniger schmeichelhaften Namen: der Ehrenlose. Und was sagt uns das?“
„Das es immer mehre Wahrnehmungen und Vorstellungen gibt?“
„Und mehrere Wahrheiten.“ Die Stimme Antirehms wurde härter, strenger, auch wenn sein Erbe das Gefühl hatte, dass dies weniger mit ihm, denn mit dem Feldzug zu tun hatte.
„Wir sehen nur die Bauwerke, die er errichtet hat, die Ländereien, die er Kantigark hinzugetan hat, den politischen Einfluss, den er als wichtigster Unterstützer des Viandav-Hohepriesters ausgeübt hat. Weniger jedoch, dass er seinen älteren Halbbruder Lisarehm, den Thronerben, davon jagte und dessen Söhne als Geiseln nahm. Es gibt keine Lieder, über die Anschläge, die er auf seinen Bruder ausübte und keine Fragen über den rätselhaften Tod seines Neffen, sondern nur Lobgesang. Sicherlich war er ein mächtiger Herrscher, der das durch des Säuglings Rache gespaltene Fürstentum einte, Frieden stiftete und durch neue Erntemethoden und kluge Gesetze das hungrige Volk sättigte, doch zugleich war er unerbittlich. Sein Oheim, der ihm widersprach, wurde seiner Ämter beraubt, verbannt und starb unter mysteriösen Umständen, Untertanen, die seine Gesetze nicht mittragen wollten, wurden hingerichtet oder verbannt.“ Für einen Moment stockte er, sah seinen Sohn an, als wolle er gucken, ob dieser ihm auch folgen könne. Seine Stimme wurde noch lauter und eindringlicher. „Verstehst du? Es gibt einen Unterschied zwischen Darstellung und Wahrheit, Spiel und Realität.“ Sein Vater hob die Hand, legte sie unter das Kinn Nisirehms und hob es an. „Ich sehe die Stärke in deinen Augen, all das zu tragen. Lass dir die Wahrheit nicht von anderen bringen, sondern suche sie selbst und nur auf der Basis eigener Erkenntnisse treffe deine Entscheidungen. Vertraue auf dich selbst.“
Ein blickloser Schädel auf einem Spieß, Krähen zerrten an den Fleischfetzen, der unausweichliche Geruch der Verwesung. Nein, das würde Nisirehm nie wieder geschehen, das schwor er sich.
Fast ruckartig ließ Antirehm, Fürst von Kantigark, seine Hand sinken. Ein feines Lächeln strich über sein Gesicht, kaum wahrnehmbar, wenn man ihn nicht kannte.
„Ich denke, dass die Zeit gekommen ist, deinen Bruder reiten zu sehen.“
„Ja“, stimmte Nisirehm ihm zu, „Ich denke auch.“ Für einen Moment öffnete er den Mund wieder, um etwas zu sagen, die Gedanken, die ihn quälten, seinem Vater anzuvertrauen. Doch dieser hatte sich bereits umgewandt und verließ den Raum mit schnellen Schritten, ohne seinen Sohn weiter zu beachten.
Einen Augenblick blieb Nisirehm stehen, doch das folgte er seinem Vater aus dem verlassenen Raum, bis zu dem Ort, wo seine Geschwister auf ihn warteten und ihn mit Liebe empfingen.
Das Rennen fand außerhalb der Stadt, aber innerhalb der Mauer statt, die Kantigark und die direkt dazu gehörigen Gebiete umgab. Einst war sie errichtet werden, um wachsende Räuberbanden zu vertreiben, die die Wüste bevölkert hatten und deren Namen nun vergessen waren. Nur die Mauer stand noch und war bis zum heutigen Tag von Soldaten bemannt, wenn auch in weitaus geringerer Anzahl.
Menschenmassen strömten vor die Tore des Ortes, der ihnen zugleich Zuflucht aber auch Gefängnis war und die der gewöhnliche Bürger nur zu besonderen Ereignissen wie dieses verließ.
Sie sammelten sich an der durch Seile abgeteilten Bahn, die Männer auf der einen und die Frauen und Kinder auf der anderen Seite. Schwatzend ließen sich die Frauen auf mitgebrachten Decken nieder und tauschten Essen mit benachbarten Familien, während die Männer sich angeregt über das Spektakel unterhielten und untereinander Wetten schlossen.
Nisirehm saß neben seinem Vater auf einen Teppich, der das Wappen seiner Familie zeigte.
Dieser war auf einer natürlichen Erhebung aus rotem Sandstein ausgelegt und bot zusätzlich Platz für einflussreiche Männer des Hofes.
So saß Truchsess Besiur hinter ihnen ein, ein älterer, pragmatischer und verantwortungsvoller, wenn auch eitler, Mann. Neben ihm hatte sich Darijar-Si niedergelassen, der Oberbefehlshaber über die fürstlichen Truppen, der Nisirehms Vater auch nach Asinat begleiten würde. Einige weitere Männer der Verwaltung und höher gestellte Offiziere hatten ebenfalls die Einladung des Fürsten wahrgenommen, an seiner Seite das Rennen zu beobachten.
Zu Nisirehms Erleichterung beehrte der oberste Priester Viaras sie nicht mit seiner Gegenwart, doch war Hayiur, der beste Freund Asaraks und sein Schwager, erschienen, den Nisirehm fast noch weniger leiden konnte.
Im Gegensatz zu Hayiur war seine Schwester Isanau ein scheues und ängstliches, wenn auch schönes Geschöpf. Sie saß auf der Frauenseite der Rennbahn zwischen Isachan und Etiyachan und wirkte eher wie ein Vogeljunges, denn wie die Frau eines Fürstensohnes.
Nisirehm verstand wirklich nicht, wieso sein Halbbruder sie hatte heiraten können.
Er blickte auf die Bahn hinunter, wo die knapp zwei Dutzend Pferde sich eben aufstellten.
Asarovs Sturm war leicht zu erkennen. Der schwarze Junghengst tänzelte nervös auf der Innenbahn und ließ sich nur schwer beruhigen. Es war eine zähe, kleine Kämpfernatur, der das Feld mit Vorliebe von Beginn an anführte.
Doch hatte er einige gute Gegner. Jägerin der Lorisath war von den Münzsteinen aus angereist und galt dort als Wundertier. Zeorahs und Sohn des Bareslav stammten ebenfalls aus Kantigark, waren jedoch noch nie gegen Asarovs Sturm gelaufen. Krieger und Terab waren ebenfalls sehr gute Tiere und waren jeweils nur knapp von Asaraks Hengst geschlagen worden. Ein weiteres Tier, von dem man insbesondere in der Arbeiterschicht viel schwärmte, war die Schimmelstute Aevra, doch war es ihr erstes großes Rennen.
Es gab Pferde aus dem Umland, die Nisirehm unbekannt waren und andere Tiere, von denen jeder wusste, dass sie das Schlusslicht bilden würden.
Fürst Antirehm stand auf und gab das Zeichen, das Rennen zu beginnen.
Staub wirbelte auf, als die Pferde los preschten und verbarg für einen Moment das Geschehen.
Als Nisirehm wieder etwas erkennen konnte, führte Asarovs Sturm.
Der Rappe galoppierte mit großen Sprüngen davon, dicht gefolgt von Jägerin der Lorisath und Zeorahs.
Zwei Pferde hatten sich geweigert, zu laufen und die Reiter standen nun plaudernd mit den Zuschauern am Zaun, bis zwei Soldaten sie und die Pferde davon führten.
Das Spitzenfeld verschwand um eine Kurve und damit aus seiner Sicht.
„Euer Bruder reitet gut“, bemerkte Darijar-Si, „Doch fürchte ich, dass er sein Pferd zu schnell auslaugt.“
„Seid Ihr früher auch geritten?“, wechselte Nisirehm das Thema.
„Ja, das bin ich, auch wenn es Schattentage her ist.“
Antirehm beugte sich zu ihnen.
„Er hat ein Rennen nach dem anderen auf Schatten gewonnen. Ein großartiger Hengst.“
Verschwörerisch senkte er den Kopf und zwinkerte seinem Sohn zu.
„Eigentlich habe ich ihn nur wegen dem Tier in meine Dienste genommen.“
Nisirehm lächelte höflich, auch wenn er wusste, dass Darijar-Si und sein Vater schon als Kinder befreundet gewesen waren und dies somit eine Übertreibung war, und blickte wieder auf das Rennfeld.
Asarak führte immer noch, während Zeorahs zurückgefallen war und Jägerin der Lorisath und Krieger sich ein Kopf an Kopfrennen um die zweite Position lieferten.
Die Pferde liefen jetzt direkt unter ihnen und der Erbe des Fürsten konnte das schweißnasse Fell und den verbissenen Gesichtsausdruck seines Bruders genau erkennen.
Hufgetrommel mischte sich mit den aufgeregten Schreien der Zuschauer, als zwei Pferde des Schlussfeldes zusammen stießen.
Asarovs Sturm setzte sich noch ein Stück weiter ab, während die letzte Runde begann, auch wenn die braune Stute der Münzsteine sich langsam annäherte.
Auf einmal wurden Schreie laut und Darijar-Si war nicht der Einzige des Fürstenteppichs, der sich aufrichtete.
„Sieh dir das an“, meinte er, „Was für ein fantastisches Tier.“
Mit raumgreifenden Sprüngen holte Aevra auf der Außenbahn auf. Terab und Sohn des Bareslav fielen hinter der Schimmelstute zurück und scheinbar mühelos schloss sie zu Krieger auf.
Der Junghengst schüttelte unwillig den Kopf, doch so sehr er das Tempo auch steigerte, konnte er nicht mit den großen Sprüngen der Stute mithalten. Diese näherte sich nun Jägerin der Lorisath an und die braune Stute hatte der weißen scheinbar nichts mehr entgegen zu setzen.
Langsam schob sich Aevra nun an Asarovs Sturm heran und kämpfte sich Länge um Länge heran. Staub wurde von den Hufen aufgewirbelt und Schaum stand vor den Mäulern der Tiere. Zunächst führte die Schimmelstute nur mit einer Nasenlänge, doch dann preschte sie dem Rapphengst davon und lief unter dem lautem Getöse der Zuschauer mit vier Längen Vorsprung ins Ziel ein.
„Was für eine überraschende Wendung“, erklärte Darijar-Si und lächelte zufrieden, „Ich denke, dass ich mir diese Stute mal ansehen sollte.“
Zusammen mit Antirehm, Nisirehm und einem Teil der übrigen Aristokraten und Beamten erhob er sich und schritt auf die Rennbahn zu.
Die Menge öffnete sich bereitwillig für ihren Fürsten, der sich dennoch so selbstverständlich unter ihnen bewegte.
Nisirehm entdeckte seinen Bruder, der mit zornigem Blick neben seinem Hengst stand und die Zügel einem Stalljungen überlassen hatte.
Auch Aevras Reiter stand neben seinem Tier, doch rieb er dieses mit einem Tuch persönlich ab, während er die Glückwünsche der anderen Teilnehmer entgegennahm. Ein alter Mann, dessen Gesicht von Viandavs Blick zerfressen war, klopfte ihm gerade zufrieden auf die Schulter. Ebenfalls entdeckte der Fürstensohn die Tiakar und ihren Begleiter vom heutigen Vormittag. Selbstbewusst bewegte die junge Frau sich unter den Rennteilnehmern und ignorierte gekonnt, dass sie bisher die einzige Frau auf der Rennstrecke war.
Nisirehm bewunderte sie unwillkürlich für die Stärke, gegen die Bräuche und den Glauben eines ganzen Volkes anzustehen.
Sein Vater beugte sich zu ihm hinunter.
„Du wirst das Preisgeld übergeben“, meinte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete und nickte einem Diener zu, der ihm fünf Beutel reichte.
Nisirehms zitternde Finger ertasteten das fein gemahlene Salz. Es war ein kostbarer Schatz, den Fürst Antirehm stiftete.
„Los jetzt“, zischte sein fürstlicher Vater ungeduldig.
Sein Sohn stolperte vorwärts und blieb vor dem jungen Gewinner stehen.
„Meinen Glückwunsch zu ihrem Sieg“, stieß er hinaus und überreichte das Geld an den Reiter, der vielleicht fünf, sechs Schattentage älter als er selbst war.
Dieser lächelte ihn freundlich an.
„Ich danke für die Ehre, in einem Rennen des Fürsten reiten zu dürfen“, entgegnete dieser in dem harten Akzent der Unterschicht.
„Es ist eine Ehre des Fürsten, ein solch fantastisches Pferd in dem Rennen begrüßen zu dürfen.“
Sie tauschten ein letztes Lächeln, dann wandte Nisirehm sich seinem Bruder zu, überreichte ihm die drei Salzbeutel und dem Reiter von Jägerin der Lorisath einen.
Währenddessen hatte Darijar-Si den Sieger in ein Gespräch über seine Stute verwickelt und diskutierte angeregt mit ihm.
Antirehm trat hinter ihn.
„Gut gemacht“, erklärte er, „Du musst dem Volk zeigen, dass du ihre Sorgen teilst und ihnen zuhörst, sie aber auch an deinem Reichtum teil haben lassen.“
Nisirehm beneidete seinen Vater um diese Gabe, die er so meisterhaft beherrschte.
Der Fürst lächelte.
„Du musst deine Angst nicht vertreiben, du musst sie überwinden und mit ihr leben. Sie ist ein Teil von dir und von allen, die leben. Wenn du deine Furcht verlierst, verlierst du auch einen Teil deiner Menschlichkeit, der dich warnt und beschützt.“
Der Oberbefehlshaber des fürstlichen Heeres trat neben sie und meinte leise: „Es ist Zeit“
Antirehm nickte, doch während die Menschen um sie herum die Rennstrecke verließen, blieb er stehen und betrachtete seinen Sohn.
„Denke an meine Ratschläge“, erklärte er schließlich. Für einen Moment blickte Nisirehm seinen Vater an und hatte das Gefühl, dass dieser seinen Blick entgegnete und seinen Sohn sah. Halb hatte Antirehm die Hand erhoben, als wolle er seinen Sohn berühren, ihm ein Zeichen seiner Liebe schenken, doch dann ließ er sie wieder sinken. Stattdessen griff er nach den Zügeln seiner Stute, die ein Reitknecht herangeführt hatte und schwang sich in den Sattel. Vorher waren sie für einen kostbaren Augenblick auf Augenhöhe, gleichberechtigt, gewesen, doch jetzt blickte sein Vater auf ihn herab und war wieder ganz der Fürst. Schon jetzt war sein Blick in die Ferne gerichtet, blind seinem lebenden, atmenden Sohn gerichtet, nur konzentriert auf jene Dinge, die in der Zukunft lagen und ihn mehr beschäftigten als sein Fleisch und Blut.
Noch einmal beugte er sich zu Nisirehm herab und meinte: „Spätestens an deinem Tag werde ich wieder da sein“ Es gab soviel, dass gesagt und ausgesprochen werden müsste, um die Ängste zu zerstreuen, die Nisirehm quälten und beunruhigten. Doch es blieb bei diesen wenigen, dürren Worten, die nichts klärten.
„Möge Hicurath euren Weg leiten, Jinuv seine Hände über euch halten und Asarov euch ein ständiger Begleiter sein“, wünschte Nisirehm noch. Doch es war Darijar-Si, der antwortete, und nicht sein Vater.
„Und dir ebenso“, erklärte Antirehms Oberbefehlshaber freundlich aus dem Sattel seines Falbhengstes.
„Auf Wiedersehen“, meinte auch Asarak, der ihren Vater auf den Feldzug begleiten würde. Er lehnte sich von seinem Tier und zerzauste seinem Halbbruder freundlich das Haar.
„Wenn ich zurückkomme, werde ich dir die Waffen der Getöteten zu Füßen legen, kleiner Bruder.“
Mit einem letzten Gruß trieb er sein Pferd an und folgte im schnellen Ritt seinem Freund Hayiur in Richtung Stadt.
Fürst Antirehm und Darijar-Si schenkten Nisirehm ein letztes freundliches Lächeln, wobei das seines Vaters abwesend blieb und einen schalen Beigeschmack hinterließ, dann trieben auch sie ihre Tiere an und ließen ihn zurück.
Nisirehm hob die Hand zur Stirn und blickte seinem Vater hinterher. Sein Tag war in knappen drei Wochen und zu seinem Glück war Asinat nicht weit entfernt – und dennoch gab es dort eine Angst in Nisirehm, die er nicht in Worte fassen, nicht beschreiben, konnte. Obwohl er wusste, dass der Gedanke, dass sein Vater nicht zurückkehren würde, lächerlich und mehr als unwahrscheinlich war, hatte er seine Gedanken längst erfasst und umspann gleich einem Spinnennetz sein Wesen und Denken.
Erst am morgigen Tag würden die Soldaten beim ersten Strahl von Eandelaths Licht aufbrechen, doch sehen würde er sie erst wieder bei ihrer Rückkehr, denn mussten Rituale und Gebete durchgeführt werden, bei denen er nicht anwesend sein durfte.
Jemand tippte ihn an.
Nisirehm sah auf und erblickte Isachan und die Soldaten und Diener, die seinetwegen gewartet hatten.
„Lass uns nach Hause gehen“, bat seine Schwester und drückte verstohlen seine Hand.
„Ja.“
Und gemeinsam kehrten die Geschwister in den Palast zurück, der ohne ihren Vater seltsam leer erschien.