Himmelsfels, Hochtempel der Eandelath, der zweite Jinuvstag des sechsten Lichttages des 11. Schattentages des Eraz’, MAE
Das Wesen eins Priesters ist das eines Dieners und eine Priesterin ist im höchsten Maße der Demut verschrieben.
- Sprichwort der Taksori –
Am heutigen Tag schwieg Eandelath. Die Lebensgöttin verweigerte Shio eine Antwort auf die Fragen und ließ sie unbewegt und ratlos zurück.
Müde öffnete die junge Priesterin die Augen und blickte die Statue der Göttin an, während sie sich fragte, warum ihre oberste Herrin schwieg.
Der Künstler hatte meisterhaft gearbeitet. Das freundliche Lächeln schien ebenso echt wie die offenen, langen Haare, die den Rücken der Statue einem Teppich gleich bedeckten. Ein einfaches, weißes Kleid verhüllte den Körper der Göttin, auch wenn ihre Arme unbedeckt waren.
Der Schössling, den sie in ihrer linken Hand trug, war echt und eine einzelne Blüte verstrahlte ein sanftes, blaues Licht. Die rechte Hand dagegen reichte sie dem Beobachter entgegen, als wollte sie den Betenden Trost und Zuversicht schenken.
Shio erhob sich, strich ihr Kleid glatt und tunkte den kleinen Finger ihrer rechten Hand in das heilige Wasser, welches das Abbild der Göttin umgab, damit kein Sterblicher sich ihr unvorbereitet näherte.
Zur letzten Ehrerbietung berührte sie ihre Stirn mit dem feuchten Finger und schrieb die Zeichen der Göttin nach.
Dann verneigte sie sich ein letztes Mal und wandte sich von der Statue, die den zentralen Punkt des Gartens der Eandelath bildete, ab.
Ihre nackten Füße trugen sie sicher über die mit weißem Kies bestreuten Wege, während ihre Hände über Blütenkelche fuhren und das sanfte weiße und blaue Licht umfingen.
Von all den Orten des Hochtempels der Eandelath war der Tempelgarten auf dem Tempeldach ihr liebster und der Ort, an dem sie die Gegenwart der Göttin, der sie zu dienen verpflichtet war, normalerweise am Stärksten spürte.
Etwas Wichtiges musste Eandelath beschäftigen, wenn ihr die Zeit fehlte, die Gebete ihrer demütigsten Dienerinnen zu beantwortet.
„Shio?“
Die junge Frau wandte sich ab und erblickte zwei Priesterinnen am Ende des Weges. Die weiße Kordel an ihrem Gürtel wies sie als direkte Untergebene der Hohepriesterin aus.
„Mirvuh hat dich zu sich befohlen“, erklärte die jüngere der Beiden.
Shio straffte sich und versuchte ihre Haare etwas zu glätten, um es kurz darauf wieder aufzugeben.
Mit einem leisen Seufzen und einem klopfendem Herzen folgte sie den Priesterinnen in das Innere des Tempels.
Der Garten der Göttin mit all seinen Farben verschwand hinter ihnen, während sie die Treppe hinab stiegen. Steinblüter rankten sich in einer wilden Schönheit um die steinernen Säulen, doch weil Eandelath eine Herrin des Lebens und die Göttin des Beginns war, wagte es niemand sie zu zähmen.
Normalerweise genoss Shio die leuchtenden Farben und das sanfte Licht der Ranken, aber heute…Heute war sie viel zu sehr von ihren eigenen Gedanken eingenommen, um die Schönheit der Pflanzen angemessen zu würdigen.
Seit Wochen wartete sie auf den Tag, an dem Hohepriesterin Mirvuh sie zu sich befehlen würde, doch jetzt wünschte sie sich, der Tag wäre nicht gekommen. Sie fühlte sich nackt in ihrem dünnen, weißen Kleid und fror an ihren nackten Armen und Schultern.
Die Priesterinnen geleiteten sie durch Säulengänge und hohe Säle, durch kleine Gärten und schmucklose Räume. Die entgegen kommenden Priesterinnen und Novizinnen wichen stumm an die Wände und Shio verstand, dass sich nach dem heutigen Tag alles ändern würde. Ob Jinuv, dem dieser Tag geweiht war, seine schützenden Hände auch über sie halten würde? Es schadete sicher nicht, ihn zu fragen.
Als sie ihr stilles Gebet zu Jinuv beendet hatte, waren sie bei den Gemächern der Hohepriesterin angelangt.
In einem bestimmten Rhythmus klopften ihre Begleiterinnen an die Tür, die kurz darauf von einer weiteren Priesterin geöffnet wurde.
Mit einer weiten Geste erlaubte sie Shio den Eintritt, während die beiden Priesterinnen zurückblieben.
Auch sie trug die weiße Kordel, doch verrieten die beiden versilberten Kreuzfibeln, die ihr Kleid an den Schultern zusammenhielten, dass sie zudem eine Beraterin der Hohepriesterin war. Ihre hellblonden Locken umrahmten ihr schmales Gesicht und ließen es jünger wirken, als es vermutlich war. Das Lächeln, das sie Shio schenkte, war echt, das spürte die junge Frau.
„Mein Name ist Tarvet-Sul, Shio. Ebenso wie es auch meine Aufgabe ist, wirst du ihrer höchsten Demütigkeit an diesem Tag dienen und alles erfüllen, was sie wünscht. Nach dem Gelingen deiner Arbeit wird sie über dein weiteres Schicksal als Priesterin der Eandelath entscheiden.“
„Ja, Herrin.“, entgegnete Shio leise. Sie fragte sich, was für Dienste Mirvuh wohl fordern würde, wenn diese als Prüfung dienen sollten. Bisher hatte sie die Hohepriesterin nur zu offiziellen Anlässen gesehen und wusste kaum wie sie diese einschätzen sollte. Und da diejenigen, welche die Prüfung beendet hatten, danach nicht wieder zu den anderen suchenden Priesterinnen zurückkehrten, wusste niemand, was einen erwartete.
„Bist du bereit?“, fragte Tarvet-Sul und schenkte ihr erneut ein warmes, herzliches Lächeln.
Als ihr Gegenüber nickte, schlug sie den Vorhang beiseite, der den Vorraum von den restlichen Gemächern trennte und Shio trat ein.
Es war ein warmer, freundlicher Raum, der von Steinblütern und Feuerschalen erhellt wurde. Bunte Vorhänge trennten weitere Räume ab, doch verblichen sie hinter den Rauchschwaden, die von dem Wasserbecken aufstiegen, das die Mitte des Raumes ausfüllte. Bis auf die Kissen, die an den Wänden lagen, war der Raum nicht mit Möbeln und Ziergegenständen beschenkt. Was Shio jedoch viel mehr verwunderte, war das Fehlen der Götterbilder. Das Einzige, was darauf schließen ließ, das dies die Gemächer einer Priesterin waren, war der große Wandteppich, den sie einen Moment betrachtete. Ein roter Fluss, an dessen Ufer zwei Frauen standen. Die Ältere streckte einen Säugling über das tosende Rot, während die Jüngere ihr tröstend die Hand auf die Schulter legte. Der Künstler hatte die Gefühle der Frauen meisterhaft eingefangen, so dass Shio Erdes Verzweiflung förmlich spürte, als sie ihren zweitgeborenen Sohn Jas-Arsib, der nicht sein durfte, dem Todesfeuer übergab, während ihre Tochter Eandelath Mitleid und Trauer zeigte.
Es war ungewöhnlich, das die Hohepriesterin eine Szene ausgewählt hatte, die doch Erdes und Eandelaths größte Schande offenbarte.
Sie selbst saß tief in sich versunken mit geschlossenen Augen an den Rand gelehnt im Wasser.
Shio hatte es nie für möglich gehalten, dass Mirvuh so verletzlich aussah. All die Stärke, die sie bei öffentlichen Auftritten, vorzeigte, war verschwunden und was übrig blieb, war eine alte, müde Frau.
Früher musste sie sehr schön gewesen sein, doch die Blüte ihrer Jahre war lange überschritten und über sechzig Schattentage hatten Spuren hinterlassen. Ihr ganzer Körper war hager, eingesunken, von Falten überzogen und langes, weißes Haar bedeckte ihren Rücken.
Shio blieb geduldig am Rand gegenüber der Hohepriesterin stehen, denn Gebete zu unterbrechen, war ein Frevel.
Die Zeit nutzte sie, um selber zu beten. Sie bat um Hicuraths Segen, auf das sie Shiot die richtigen Entscheidungen zeigen würde, flehte Mintasath und Jinuv an, damit sie ihr Weisheit und Schutz schenkten. Doch am meisten betete sie zu Eandelath, der sie diente und die als Lebensgöttin neben ihren beiden Schwestern Miandath und Oandath zu den drei mächtigsten Göttinnen zählte.
Dann schlug Mirvuh nach einer Weile die Augen auf und musterte die Fremde in ihren Räumen. Shio vergaß alles, was sie zuvor über die Hohepriesterin gedacht hatte. All die Schwäche des menschlichen Körpers war vergessen, als sie ihr in die Augen blickte. Noch nie hatte sie so ein strahlendes Blau gesehen wie das, welches sie nun durchbohrte und nackt zurückließ.
„Hinter dem Vorhang liegt ein Buch. Bleibe dort und beginne bei Kapitel vier.“
Das war alles? Ein Test ihrer Lesefähigkeiten?
Dennoch ging sie widerstandslos zu dem hinteren Teil des Raumes und trat hinter den Vorhang, wo sie auf dem Teppich das besagte Buch fand.
Einen Moment wurde ihr Blick von dem herrlichen, gewebten Bild Eandelaths eingenommen und innerlich bat sie die Göttin um Verzeihung, als sie den Teppich betrat.
Neben Eandelaths Kopf ließ sie sich nieder und schlug das kostbare, in rotes Leder gebundene Buch auf
Forias stand in feiner Handschrift auf der ersten Seite. Nur mühsam konnte Shio ein Stöhnen unterdrücken, denn zum Vorlesen waren Forias’ Werke wahrlich schrecklich. Schrieb er doch im alten Daerai und hatte zugunsten des durchgängigen Metrums den Satzbau durcheinander gewirbelt und schrieb mit Vorliebe einen Satz über mehrere Seiten, sodass man erst nach mehrmaligem Lesen überhaupt seine Intention verstand.
Langsam und behutsam formte sie die Silben, fuhr mit dem Finger am Text entlang und ließ die Wörter ihrem Mund entschlüpfen.
Silben formten sich vor ihren Augen zu Wörtern, Wörter zu Sätzen und Sätze zu einer Bedeutung, die ein Priester vor mehr als einhundert Jahren niedergeschrieben hatte.
„Die beiden letzten Wörter verschmelzen miteinander, sonst passt es mit dem Metrum nicht.“
Die junge Priesterin fuhr zusammen und blickte verschreckt zu der Älteren, die auf einmal neben ihr stand. Ein einfacher, schlichter Überwurf bedeckte nun die Blöße der Hohepriesterin. Dennoch konnte Shio die Verletzlichkeit, die sie zuvor erblickt hatte, nicht vergessen. Noch immer schien sie vorhanden, verborgen unter dem Überwurf, aber noch vorhanden.
„Ich bitte um Verzeihung“, bat sie, noch immer fassungslos, dass ihr ein solch gravierender Fehler unterlaufen war.
„Wer war der Vorgänger von Hohepriester Eraz?“, fuhr sie, ohne darauf einzugehen, fort.
„Gasaz, Herrin“, antwortete Shio.
„Welche Festungen bewachen das Tor nach Sandele?“
„Der Bronzestachel und der etwas weiter nordwestlich liegende Silberdorn“, entgegnete die junge Frau verwirrt.
„Wer sind Asaths Eltern?“
„Je nach Betrachtungsweise kann diese Frage unterschiedlich betrachtet werden“, begann sie vorsichtig, „Sicher ist, dass die Göttin nicht auf natürliche Weise gezeugt worden ist. Ihr Vater ist Viandav, denn ist überliefert, dass sein Samen auf die Erde fällt. Ob Erde hier jedoch als die Erde oder einfache Erde gemeint ist, ist umstritten. Man könnte also meinen, dass Asath eine Tochter von Viandav und dessen Mutter Erde ist. Zugleich wird jedoch beschrieben, dass Körperteile von Dunkel am Ort seiner Niederlage verblieben. Somit kann die Naturgöttin auch als Tochter von Viandav und Dunkel gelten. Ebenfalls an der Zeugung beteiligt sein, könnte jedoch auch Oandath, deren Blut im Kampf gegen Dunkel auf die Erde tropft. Die richtige Antwort wissen jedoch die Götter allein.“
„Aus welcher Stadt entstammt Fürst Kialrehms Mutter?“
„Ich weiß es nicht.“
„Welche Historiker hast du behandelt?“
„Gischas, Oudras, Navires, Zarit und Tuvous habe ich ausführlich durchgenommen.“
„Was ist mit Erasat, Iarat, Haviradas und Adih?“ Verwirrt hielt sie inne, als die ersten beiden Namen ihr nicht das Geringste sagten.
„Von Adih habe ich die „Lykischen Gesänge“ privat gelesen, aber im Unterricht haben wir sie kaum erwähnt und die anderen überhaupt nicht“, gestand sie und fühlte sich schrecklich unwissend.
„Hast du „Gesammelte Volksmärchen und Heldenlieder“ gelesen?“
„Ich denke, dass ich den Großteil der Geschichten vom Hörensagen kenne, doch habe ich sie nie gelesen.“
Mittlerweile fragte sie, warum Mirvuh die Befragung weiterhin durchführte, wo sie doch schon so viele Fehler gemacht hatte.
Doch unbeirrt fuhr sie fort: „Welchen Schattentag zählen die Tiakar?“
„Wie bitte?“
„Die Tiakar haben eine andere Zeitrechnung als wir. Welchen Schattentag zählen sie?“, führte sie ungeduldig aus.
„Ich weiß es nicht“, entgegnete Shio beschämt.
„Es ist das Jahr 125 ihrer Rechnung“, erklärte sie und es war das erste Mal, dass Mirvuh eine ihrer Fragen selbst beantwortete, „Schildere die Regierung von Hohepriester Foarez.“
„Kurz nach Foarez’ Regierungsantritt wird Fürst Kialrehm von Hasuhar in der Wüste von Tiakarn ermordet. Um weitere Verbrechen zu verhindern, erlässt der Hohepriester Gesetze, nach denen Tiakar nicht länger in Städten übernachten dürfen. Zwei Schattentage später unterbrechen die Tiakar, den Handel mit unserem Volk und überfallen mehrere Dörfer. Im Jahr 7 des Foarez eskaliert die Gewalt vollends und die tiakarische Widerstandsgruppe „Reshonir“ zerstört den Mintasath- Tempel in Nisorat und ermordet die Priesterinnen. Bevor Foarez darauf reagieren kann, stirbt er unter bisher ungeklärten Umständen.
Allerdings muss man anmerken, dass Foarez’ schon vor seinem Regierungsantritt und vor dem Tod von Fürst Kialrehm gegen die Tiakar gehandelt hat.“
„Mit dem letzten Satz hast du dich gerettet“, meinte Mirvuh, „Was hast du dabei vergessen?“
Shio erschreckte unter dem kalten Blick der Hohepriesterin und auf einmal wurde ihr bewusst, dass Mirvuh damals schon Priesterin hier auf dem Himmelfels gewesen war.
„Das dies die offizielle Version des Hochtempels ist, sich jedoch kaum kritische Stimmen gegen diese finden. Das bedeutet entweder, dass es tatsächlich die richtige Version ist, oder aber, dass kritische Stimmen nicht zugelassen worden ist.“
Doch so verzweifelt sie überlegte, fielen ihr keine historischen Beispiele ein, die ihre These hätten untermauern können.
„Zuerst hast du vergessen, dass die Ermordung Fürst Kialrehms durch Tiakar nie bewiesen werden konnte, dann hast du vergessen, dass Foarez schon im Jahr 3 den Befehl gab, tiakarische Heilerinnen hinzurichten. Drittens hast du das Massaker von Nisorat an tiakarischen Frauen im Jahr 4 nicht erwähnt, weswegen Tiakar vor den Hochtempel zogen und erst nachdem sie keine Gerechtigkeit erhielten und mehrere Nomadenzüge überfallen wurden, gründete sich die Widerstandsgruppe „Reshonir““
Shio schwirrte der Kopf. Wie konnte es sein, dass sie noch nie von diesen Ereignissen gehört hatte, obwohl sie im Unterricht immer aufmerksam gewesen war und Dutzende von Büchern verschlungen hatte? Was für eine Schande!
„Ich bitte um Verzeihung.“ Tief brannte die Scham in ihr.
„Beantworte die nächsten Fragen richtig, dann werden wir weitersehen.“
Und dann überschüttete sie Shio mit allen möglichen Fragen von Mythologie bis zu Geschichte, Geographie und Literatur.
All das angesammelte Wissen, auf das sie so stolz gewesen war, schien wertlos neben den Antworten, die Mirvuh von ihr forderte. Weder musste sie Gesänge rezitieren, noch sich mit Diskussionen über Mythologie auseinandersetzen. Sie fand nicht das richtige Wort dafür, aber erschien es ihr, als ob die Hohepriesterin alles wusste und das auch von ihr verlangte.
Endlich meinte sie: „Es ist genug. Ich weiß von dir, was ich für eine Entscheidung benötige. Sie wird dir bald mitgeteilt werden. Du darfst gehen.“
Mit steifen Beinen erhob sich die junge Priesterin von dem Teppich, den sie nun nicht länger bewundern konnte, verneigte sich höflich vor der Vertreterin der Lebensgöttin auf der Welt und ging dann zum Vorhang.
„Ein letztes noch.“
Shio wandte sich um.
„Du hast einen Antrag auf Versetzung nach Kantigark gestellt. Warum?“
All ihre Selbstbeherrschung, die sich zuvor besessen hatte, fiel in sich zusammen.
„Ich bin dort geboren“, antwortete sie mit zitternder Stimme, obwohl sie sich sicher war, dass Mirvuh das schon längst wusste.
„Warum?“, wiederholte diese nur und auf einmal hatte Shio das Gefühl, das diese Frage wichtiger war als alle zuvor und das sie in diesem, einen Moment einen Schmerz teilten, für dass es keine Worte gab.
„Ich hoffe, meine Familie wieder zu sehen“, wisperte sie ihren tiefsten Herzenswunsch.
„Wie alt warst du, als du in den Tempel kamst?“.
„Acht.“
„Vergleichsweise spät“, urteilte Mirvuh, „Ich war vier und dennoch war es auch mein größter Wunsch, mich überzeugen, ob das wenige, an das ich mich von meiner Familie erinnerte, auch der Wirklichkeit entsprach. Nach allzu vielen Jahren vergeblicher Hoffnungen habe ich es aufgeben.“
Shio wusste nicht, was sie von diesen Worten halten sollte. Zuvor war Mirvuh eine mächtige, entfernte Person gewesen, die ein unglaubliches Wissen besaß und jetzt stellte sie auf einmal fest, dass derselbe Schatten sie geprägt hatte. Sie beide waren von ihren Vätern gegen ihren eigenen Willen in den Tempel gegeben worden, um den Göttern ein Tribut zu entrichten und Ehre zu erweisen. Sie beide hatten Heimat und Familie aufgeben müssen für den Stolz der Männer, die sie ihre Väter genannt hatten. Nun war da etwas, was sie verband und Mirvuh war nicht mehr, als ein Mensch wie sie selbst.
„Ich habe zwei jüngere Geschwister, einen Bruder und eine Schwester, und meine Mutter war erneut schwanger, als ich ging“, hörte sie sich selbst wie aus weiter Ferne sagen. „Mein Bruder müsste – wenn er jetzt noch lebt – vierundzwanzig sein, meine Schwester einundzwanzig. Ich weiß nichts aus ihrem Leben, nicht, ob sie verheiratet sind und vielleicht schon eigene Kinder haben. Vielleicht habe ich weitere Geschwister, deren Namen ich nie erfahren werde. Obwohl ich sie meine Familie nenne, sind sie Fremde.“
Die Hohepriesterin nickte.
„Es ist der Preis, den wir zahlen, um ganz den Göttern dienen zu können, auch wenn wir diese Entscheidung nicht für uns selbst treffen konnten. Auf Wiedersehen, Shio.“
Shio verneigte sich erneut und verließ Mirvuh, und all die Fragen, die sie ihr gestellt hatte, waren nicht mehr als ein blasser Schemen der Erinnerung im Vergleich zu dem Verlust ihrer Familie, den sie mit der Hohepriesterin teilte.
Doch die Tränen ließ sie erst im Garten fließen, wo sie vor Eandelaths Statue die Göttin anflehte, sie nach Kantigark gehen zu lassen, wo ihre Familie lebte und auch nach achtzehn Jahren im Hochtempel ihr Herz verblieben war.