Der Sohn ist die Freude und das Unglück des Vaters!
Ausruf von Fürst Tworehm von Hasuhar.
Das Jahr 11 des Eraz, MAE, im Heerlager vor Asinat
Antirehm war noch nie jemand gewesen, der die Hoffnung leicht aufgab und so war er auch jetzt nicht bereit, sein Schicksal tatenlos zu ertragen.
Man hatte ihn in einem großen Zelt unter Arrest gestellt, bis die Angelegenheit vor das Hohe Gericht gebracht werden konnte.
Es erging ihm nicht schlecht, denn erhielt er alles, was er zum Leben benötigte. Das Zelt war großzügig ausgestattet mit Teppichen, die sein tristes Schicksal bunt färbten. Sein Bett war mit Wüstenwolffellen bedeckt, denn nichts galt als edlere Decke, auch wenn das Fell kratzte und nicht selten stank. Selbst Musikinstrumente hatte man ihm gebracht. Die weit verbreitete Rahmentrommel Fregnisa, an der klingelnde Glöckchen herabhingen und Schellen im Rahmen befestigt waren. Auch die Risadje, von der seine Mutter verlangt hatte, dass er sie als Kind lernen sollte zu spielen, stand in einem kunstvoll verzierten metallenen Rahmen. Einen winzigen Moment überlegte Antirehm, ob er erneut probieren sollte, die beiden Saiten zu zupfen, doch dann unterließ er es. Zu kostbar war ihm die Zeit, die ihm blieb.
Man brachte ihm Essen, das natürlich nicht von seinem, sondern vermutlich von Anasahs Koch zubereitet worden war. Den Jungen, der dem Fürsten beim Essen dienen wollte, schickte er, nachdem dieser aufgetragen hatte, fort. Nur wenig Lust hatte er darauf, von jemandem beobachtet zu werden, der im Dienste irgendeines Feindes stand. Als Vorspeise gab es Bluroh, in gewürzter Milch gekochtes Brot, dazu Minok, in Salz eingelegte Käsefäden, die Antirehm allem anderen vorzog.
Als Hauptgang reichte man ihm einen Aniam-Springer, gebraten und eingelegt in einer Honigkruste und gefüllt mit süßen, saftigen Beeren und andere, kleinere Fleischportionen. Nachdenklich fragte er sich, wie oft Kialrehm bei Anasah essen mochte, dass ihr Koch einen Aniam-Springer zubereiten konnte, der genau den Bedürfnissen des Fürsten von Hasuhar entsprach. Für Antirehms Geschmack war er dagegen viel zu süß und klebrig.
Die Nachspeise war ihm da angenehmer, denn waren die Isarach – Gebäckrollen – zusätzlich zu Beeren noch mit weichem Käse gefüllt. Zu trinken gab man ihm edlen Blaustern, den er jedoch unberührt zurückgehen ließ, da er einen klaren Kopf dem Genuss von Alkohol vorzog. Lieber trank er gewürzte Milch.
Später, als er die ersten Besucher erhielt, war er froh über diese Entscheidung. Als Erster kam Kialrehm, der ihm sein Bedauern ausdrückte und ihm versicherte, dass er sich bemühen würde, diese unselige Angelegenheit, wie er es ausdrückte, zu beenden. Antirehm glaubte ihm kein Wort, doch lächelte er seinem Schwiegersohn freundlich zu und freute sich über dessen Hilfe.
Auch Beerehm kam.
Zunächst stürzten seine beiden Hunde herein, doch als Antirehm ihnen die Hand hinhielt, hörten sie auf zu knurren.
Der Fürst von Lizarat folgte ihnen humpelnd und befahl den Tieren mit harschen Worten, sich hinzulegen.
„Was ist mit den anderen beiden geschehen?“, fragte Antirehm, der sich noch an die Hunde mit goldenem Fell erinnerte, die Beerehm zuvor begleitet hatten.
Der Fürst von Lizarat antwortete zunächst nicht, sondern ließ sich dem Recht des Älteren folgend unaufgefordert nieder.
„Dat Ältere wurd verjiftet“, knurrte er schließlich, „und dat Jüngere stürzte in eine Falle, als ich jagte. En heimtückisches Dinj, ohne jeden Zweifel, in das mein Pferd stürzen sollt.“
„Das tut mir Leid“, erklärte Antirehm, „Man sollte meinen, dass Eure Gegner langsam gelernt haben, dass Ihr nicht leicht zu töten seid.“
„Es braucht Euch, nich leid zu tun.“, entgegnete dieser knapp angebunden, „Det Hunde haben ihre Aufjabe erfüllt, mehr nich.“
„Was ist dann Eure Aufgabe hier?“, fragte der Fürst von Kantigark, denn war Beerehms Angst vor Anschlägen jedem bekannt und Antirehms Meinung nach übertrieb er damit bei weitem. Wenn es nach seinem Gesprächspartner ginge, stand hinter jeder Ecke ein Auftragsmörder und jeder zweite Küchenjunge würde ihn allzu gerne vergiften.
„Anasah zu ärjern.“, stellte dieser grinsend fest, „Doch glaubt nich, dat
ich Euch jier raushol. Dat müsst Ihr von janz allein tun.“
Antirehm nickte, auch wenn er seine Enttäuschung nicht verhehlen konnte. Er hatte sich von Beerehm mehr erhofft.
„Doch bedeutet dat nich, dass ich jedenke, nichs zu tun. Ich glaub nich, dat Euer Prozess in weniger als ein Lichttaj bejinnt. Des Jerichte der Jötter bruchen lange für Entscheidunjen bei Uneinijkeiten.“
„Und was werdet Ihr tun?“ Noch nie hatte Antirehm gewusst, wie er Beerehm einschätzen sollte, denn war dieser einfach unberechenbar. Selbst bei Anasah wusste er, dass ihre Intention die Verteidigung des wahren Glaubens – wie sie ihn auslegte – war. Doch Beerehm…Den jetzigen Feldzug gegen Asinat kritisierte er, doch noch vor acht Jahren hatte er die Eroberung der Seekönige unterstützt und sogar die bedingungslose Vernichtung ihrer Königsfamilie gefordert. So manch einer munkelte gar, dass er den Anschlag auf das Leben der Fürstin der Seekönige, Zeruja, vor zwei Schattentagen zu verantworten hatte, bei welchem diese eines ihrer Augen verloren hatte. Auch sprach er dem Wettspiel in Antirehms Augen öfter zu, als es sich für einen guten Fürsten geziemte und gab manchmal Äußerungen von sich, die dem Wahn glichen. Dann wiederum brachte er solche klugen Vorschläge ein, wie der, ihn selbst vor das Hohe Gericht zu bringen.
So auch jetzt. „Janz jewiss werd ich Euch nicht meine Plans sagen!“, erklärte er, fast herablassend.
Er stand auf, ging durch den Raum und hob die Fregnisa hoch, um einen leichten Rhythmus darauf zu spielen. Nach einer Weile gab er es auf und legte sie zurück.
Doch dabei war sein Ärmel hoch gerutscht und zum ersten Mal sah der Fürst von Kantigark die gewaltige Narbe, die sich einmal über seinen Oberarm zog und offenbarte, dass dieser einst von einer mächtigen Waffe gespalten worden war.
„Wisst Ihr, von wem ich dat Narbe hab?“, fragte der Fürst nun, als er seinen Blick bemerkte, wartete die Antwort gar nicht erst ab und fügte glucksend hinzu, „Von mein Weib!“.
Antirehm bezweifelte, dass er damit seine erste Frau Dotef meinte, Tochter des Wächtergeschlechts des Silberdornes und Bronzestachels und Mutter seiner ältesten vier Söhne und zweier Töchter. Frauen vom Volk der Taksori führten keine Waffen, denn waren sie Teil des Haushaltes ihres Mannes, Vaters oder Bruders und somit war es die Aufgabe des Mannes sie zu schützen. Nein, er musste jene Frau meinen, die er nach Dotefs Tod geheiratet hatte, die ihm seinen jüngsten Sohn und seine jüngste Tochter geboren hatte und vor der noch nicht einmal der Name bekannt war. Nicht wenige glaubten, dass er eine Frau der unteren Stände, ja sogar eine Sklavin in den Stand seiner Hauptfrau erhoben hatte und manche munkelten sogar, dass seine Frau eine Tiakar sei.
Doch Antirehm glaubte weder dem einem noch dem anderen Gerücht, denn würde Beerehm nie etwas tun, dass sein Fürstentum würde spalten können, außer wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab.
Dies war dadurch bedingt, dass es keine festen Grenzen im Inneren Eletaks gab, bis auf jene Ländereien, die dem Tempel gehörten. Es gab die neun Fürstenstädte, doch wie groß die Gebiete rundherum waren, hing davon ab, wie gut der Fürst die niederen Adeligen der Festen und Dörfer an sich binden konnte, indem er ihnen möglichst gute Angebote machte. Beerehm hatte dies durch die Ehen seiner Söhne getan, die er alle innerhalb seines Fürstentums verheiratet hatte, was für die Familien der Bräute Ehre und Einfluss brachte.
Antirehm tat dies, indem er den Adeligen Schürfrechte verlieh und einen Teil der Einnahmen der Salzminen in und um Kantigark versprach. Es war ein ständiges Ringen um Macht und Einfluss, denn versuchte jeder Fürst seine Grenzen zu erweitern und Adelige, die momentan noch dem Gegner dienten, durch Versprechungen auf seine Seite zu ziehen.
Deshalb war es sehr unwahrscheinlich, dass Beerehm eine Sklavin oder Tiakar geehelicht hatte, denn hätte er damit seine Gefolgsleute brüskiert und nicht wenige hätten sich von ihm abgewandt.
Doch wer wusste schon, ob Beerehms Worte der Wahrheit entsprachen oder nicht? Antirehm glaubte kaum, dass der Fürst von Lizarat ihr – wer auch immer sie war – erlaubte eine Waffe zu tragen.
Einen Moment musterten sie beide einander, während Antirehm sich fragte, ob er ihm trauen konnte. Schließlich entschloss er sich dazu, denn glaubte er durchaus, dass sie, was Anasahs Machenschaften betraf, Verbündete waren oder zumindest dieselben Interessen hatten.
„Meine Tochter Akalachan“, begann er, „ist mit Fürst Kialrehm verheiratet und sie hat mir eine Nachricht übermittelt. Nach dieser befindet sich ihr Gemahl in einem regen Austausch mit Anasah und es zeigt sich eine verstärkte Präsenz von Soldaten des Götterschildes in den Minen ihres Fürstentums. Ich bin mir nicht sicher, was es bedeutet, doch weiß ich, dass es wichtig ist. Und da mir momentan die Hände gebunden sind, wollte ich, dass noch ein Fürst darüber Bescheid weiß.“
Über das Gesicht seines Gegenübers zog sich nicht die geringste Regung und für einen Moment fragte er sich, ob er soeben einen Fehler begangen hatte.
„W’rum seid Ihr Euch da so sicher?“, fragte Liirehms Vater schließlich, während seine Finger über den Teppich tanzten.
Einen Augenblick zögerte Antirehm, doch dann sagte er jenen Punkt, der seiner Meinung nach mindestens genauso stark zu seinem Sturz beigetragen hatte wie seine Reise nach Asinat.
„Ich glaube es, da ich es den Soldaten des Götterschildes verweigert habe, in meinen Salzminen zu forschen.“
„In Euren Minen? Doch Kialrehms Minen habn net Salz.“
„Nein“, entgegnete der Fürst von Kantigark müde. „Bislang ist mir nicht mehr bekannt als die Tatsache, dass sich Anasah auffallend dafür interessiert, in Minen zu forschen.“
Er erinnerte sich daran, dass Kialrehm sein Fürstentum auffällig um Gebiete nach Süden erweiterte, wie jener Wachturm, der zum Konflikt mit Osirehm von Limisar geführt hatte.
Beerehm nickte.
„Is Recht! Eure Worte und Vermutunjen sollen nicht in Vergessenheit jeraten, dafür set Ihr en zu braver Mann!“
„Sobald ich vor dem Hohen Gericht freigesprochen bin, werde ich Nachforschungen zu den anderen Mineralien, die sich in meinen Minen finden, beginnen“, beschloss Antirehm und lächelte sein Gegenüber freundlich an.
„Antirehm!“, fauchte Beerehm plötzlich, „Öffnet Eure Aujen! Anasah jetzt es doch nich um Euern Thron oder um Euer Fürstentum! Ihr gejt es um Euer Leben. Wir beide wissen, dat Anasah nicht aufjung der verboten Bücher det Fürsten nach Asinat jekommen ist. Wir beide wissen uch, dat Asinat keine groten Reeichtümer jesitzt oder ein jewaltijes Heer, dat man jegen et marschieren müsste. Wenn et weder um en Heer, nich um Reichtum, nich um irjendwelche Schätze jeht, worum jeht es Anasah dann? Worum jeht es Anasah immer?
Ihr wisst dat Antwort, jenauso wie mich. Und wenn es bei Asinat um dat jeht, worum glaubt Ihr jeht es dann bei Euch?“
„Nisirehm!“, flüsterte er, während er sich an jene Worte erinnerte, die Dirasrehm zu ihm gesprochen hatte. Ich habe die Ahnung, dass er für unser aller Zukunft eine große Bedeutung tragen wird
Er sprang auf: „Nisirehm, ich muss ihm helfen.“ Auf einmal begriff er, worum es die ganze Zeit gegangen war, worum es Anasah immer ging: die Verteidigung des rechten Glaubens. Die Verteidigung des rechten Glaubens. Warum bedrohte sein Sohn den rechten Glauben? Warum bedrohten Dirasrehms Kinder oder er selbst den rechten Glauben? Er verstand es nicht, aber er wusste auch, dass man mit Anasah bei dieser Sache nicht verhandeln konnte.
„Mein Sohn!“, sagte er, „Helft ihm! Ihr müsst ihm helfen!“
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Fürsten von Lizarat. „Antirehm“, meinte er, „Ich hab eijene Kinder und Enkel, die mein brauchen. Euer Sohn ist Euer und meene die meenen. Dat Problem habt Ihr hervorjerufen. Anasah wird nich ruhen, eh Euer Sohn tot is und sie wird uch Euch nich in Ruh lassen. Wenn Ihr een Bewees wollt, schaut uff Euren Bastard. Fragt, was aus ihm jeworden is. Betrachtet seene Augen, seht seenen neue Säbel an, seht den Stolz und dann werdet Ihr verstehn, wat Anasah will.
Doch um Eueren Hinwees zu den Minen, um den werd ich mich kümmern, verlasst Euch drauf.“
Mit diesen Worten erhob er sich wieder und hob die Hand zum Abschiedsgruß.
„ Omez-lew und Kawod, kommt“, befahl er, dann verließ er das Zelt mit den beiden Hunden und einer ungenauen und kaum zu beurteilenden Hoffnung im Gefolge.
Nach diesem Gespräch sank der Fürst von Kantigark in sich zusammen. Seine Hände zitterten und nur mit Mühe konnte er die Mahlzeit zurückhalten. Er stützte sich auf dem Teppich ab, während er das Gefühl hatte, sich selbst zu verlieren. Seine Kinder…Was hatte er getan? Hatte er tatsächlich jemals geglaubt, Anasah mit Logik und Rationalität überzeugen zu können? Jetzt erschien ihm jede Entscheidung, die er in den letzten Tagen getroffen hatte, unglaublich dumm. Nicht, weil er sich um sich selbst fürchtete, sondern aufgrund seiner Familie.
Er flüsterte ihre Namen. Asarak, Akalachan, Nisirehm, Isachan, Lisarehm, Etiyachan, Milasnau. Sie alle bedeuteten ihm unglaublich viel.
Asarak war als Bastard sicherlich in keiner unmittelbaren Lebensgefahr, denn hatte er keinen Anspruch auf den Fürstenthron, doch war er im Lager des Hohepriesters, und Beerehms Worten zufolge schien Anasah ihre Worte bei ihm schon gesät zu haben. Akalachan war als Ehefrau Kialrehms und Mutter seines Erben wahrscheinlich noch am Sichersten, Anasah würde sie kaum anrühren und Kialrehm ebenso wenig, wo doch seine Söhne mit ihr Anspruch auf den Fürstenthron Kantigarks erheben konnten. Und Nisirehm, sein Erbe, sein Liebling, der ihn mit all seiner Unsicherheit und Neugierde so sehr an sich selbst als Kind erinnerte, er war es, den Anasah wollte. Seine jüngste Tochter, so mutig und stark, deren Widerstand Anasah sicherlich würde brechen müssen, denn sie würde als Tochter des Fürsten überleben. Ihre Hand war viel zu viel wert, um sie zu töten. Lisarehm, krank, schwach und doch stark, für sein Leben lang an sein Bett gefesselt, das letzte Geschenk, was seine Frau ihm hinterlassen hatte, er würde kaum aus der Burg fliehen können. Seine ältere Schwester Etiyachan, die letzte seiner Geschwister, die geblieben war. Er wusste nicht, was mit ihr geschehen würde. Sie war zu alt, um für eine Ehe attraktiv zu sein, so dass man kaum noch länger einen Nutzen aus ihrer Existenz ziehen konnte. Es blieb Milasnau, seine Geliebte und Mutter seines ältesten Sohnes. Liebe war nicht geblieben, doch Freundschaft und das Gefühl der Verantwortung und der Buße für das, was er ihr einst angetan hatte. Wahrscheinlich würde sie ungestört bleiben, vielleicht eine Geisel werden, um Asaraks Gefälligkeit zu ermöglichen. Nichts war schlimmer als diese Ungewissheit, gemischt mit der Gewissheit, dass er machtlos war gegenüber den Umständen, die sich gegen seine Familie und auch ihn selbst auftürmten.
Nein, das stimmte auch nicht. Er mochte machtlos gegenüber dem sein, was momentan in seinem Fürstentum von sich ging, doch die Macht im Lager war ihm geblieben.
Von neuem Tatendrang erfüllt, erhob er sich und rief nach einem Wächter.
„Ich will meinen Sohn sprechen“, verlangte er.
Es dauerte lange, bis Asarak erschien. Dies mochte zum einen daran liegen, dass die Erlaubnis lange brauchte, oder er unterwegs gewesen war, oder aber daran, dass er seinen Vater absichtlich hatte warten lassen, um ihre Position zu klären.
Wenn er seinen Sohn betrachtete, als er das Zelt betrat, glaubte Antirehm an Letzteres.
Das Erste, was ihm auffiel, war, dass er einen anderen Säbel trug. Zuvor hatte er jenen schlichten, doch gut gearbeiteten Säbel getragen, den Antirehm ihm vor vier Schattentagen geschenkt hatte. Jetzt besaß er eine Klinge, in deren Griff Gold eingearbeitet war und die eine deutlichere Krümmung aufwies.
Über eine langärmlige Tunika trug er ein Kettenhemd, in das an den Enden Gold eingearbeitet war und das bis über die Hüfte reichte. Später würde er dazu noch Arm- und Beinschienen anlegen und einen Helm aufsitzen, doch allein Asaraks Bewaffnung im Gegensatz zu Antirehms Aufzug verdeutlichte die Diskrepanz, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte.
Auf einmal erschien ihm sein Sohn unerreichbar und fast hätte er geweint, als dieser kühl sagte: „Fürst Antirehm“
„Asarak, setz dich“, nahm er seine Gastgeberpflichten wahr.
Einen Moment wirkte es, als ob er sich weigern wollte, doch dann ließ er sich auf dem Teppich wieder. Seine Rüstung klirrte und erst jetzt schien Antirehm wirklich bewusst zu werden, dass Asarak erwachsen geworden war. Es war so schwer, sich dies einzugestehen, wo er sich doch noch allzu deutlich an jenen Moment erinnerte, wo sich die Finger des Säuglings zum ersten Mal um die seinen geschlossen hatten. Schon damals, als er seinen Erstgeborenen in Milasnaus Armen sah, war er verliebt gewesen und hatte zugleich das Schicksal verflucht, dass er seinem Kind aufgebürdet hatte. Ein Bastard, nicht zu der Schicht seines Vaters, aber auch nicht zu der seiner Mutter gehörend, sondern immer irgendwo dazwischen in einer Stellung, die niemand benennen konnte.
Und doch – sein Sohn.
Entgegen all der Weisungen seiner Ratgeber hatte er seinen Sohn an den Hof genommen und ihn dort aufgezogen, mit all der Bildung und Lehre, die er ihm geben konnte. Selbst seine Ehefrau Koratchan hatte ihm zuliebe den ehelos geborenen Sohn ihres Mannes akzeptiert, wusste sie doch, dass er das Erbe ihrer eigenen Söhne nie würde gefährden können. Allein die Liebe und Zuneigung seines Vaters war dem Jungen verwehrt geblieben, denn hätte dies den Fürsten vor seinen Gefolgsleuten entehrt. Bastarde und ihre Mütter mochten versorgt werden, doch blieben sie wertlos in den Augen der Priester, denn waren sie in Schande geboren.
Nichts war ihm jemals schwerer gefallen, als seinen Erstgeborenen immer wieder zurückzuweisen, wo doch seine Halbgeschwister – selbst seine Schwestern – mehr Zeichen der Liebe und Anerkennung erhalten durften, als es einem unehelichen Sohn zustand.
„Mein Sohn“, begrüßte er ihn, „Wie geht es dir?“
„Gut“, entgegnete dieser, auch wenn sie beide wussten, dass es eine Lüge war.
„Uns bleibt nicht viel Zeit, deshalb wünsche ich, dass du meine folgenden Worte gut beachtest“, begann Antirehm die Unterredung, „Ich wünsche, dass du nach Kantigark zurückkehrt und deine Ausbildung fortführst. Züchte deine Pferde, reite und gewinne Rennen, zeuge Söhne mit deinem Weib, achte auf deine Geschwister, kümmere dich um deine gute Mutter, aber halte dich fern von Anasah und der Politik des Hochtempels. Ich wünsche, dass du alt genug wirst, um deine eigenen Enkel kennen zu lernen.“
Asarak schwieg, starrte ihn nur an, doch plötzlich platzte es aus ihm heraus: „Jetzt, wo deine Autorität schwinden beginnt und deine Position untergraben wird, interessierst du dich für mich! Die ganze Reise über kein einziges Wort und nun befiehlst du mich vor dich und erwartest, dass ich als getreuer Sohn deine Befehle erfülle.“
Stille. Wann war nur diese Stille zwischen sie gekommen, in der er seinem Sohn nicht mehr in die Augen blicken konnte? Wo waren die Mauern errichtet worden, die nun verhinderten, dass er seinen Sohn wie einst berührte, ihm Worte der Zuversicht schenkte und sein Herz zum Weinen brachten? Er verstand, dass es Schwäche war, die ihm die Worte der Entgegnung nahmen und ihn schweigen ließ, um nicht noch mehr Wunden in die Beziehung zwischen ihnen zu reißen. Und er begriff, dass es die Liebe zu Asarak war, die seinen Sturz herbeigerufen hatte. Hätte er ihn nicht an seine Seite genommen, ihn gelehrt und ihm sein Herz offenbart, hätte Anasah jetzt nie so viel gegen ihn in der Hand. Hätte er ihn damals weggegeben oder gar die Soldaten geschickt, wie ihm geraten worden war, wäre sein Fürstentum jetzt nicht in Gefahr.
Dennoch zog sich ein schwaches Lächeln über sein Gesicht, als er seinen Sohn betrachtete. Die goldenen Locken, die ihm seine Mutter vererbte, hatte er schon bei seiner Geburt gehabt, auch wenn sie ihm beim Erreichen des vierzehnten Schattentages abgeschnitten worden waren. Jetzt trug er nur noch einen einzelnen, geflochtenen Zopf von der Mitte des Hinterkopfes, der bis zu den Schultern reichte. Der Rest des Haupthaares war geschoren und zeigte somit jedem, dass er ein Bastard war, während der Zopf seinen Vater als Hochadeligen auswies. Die Statur dagegen war die Antirehms: eine kräftige, hochgewachsene Gestalt mit markanten und ein wenig kantigen Gesichtszügen. Nur die hellgrauen Augen mit den langen Wimpern hatte Asarak von Milasnau. Die Hände fielen ihm auf. Lange, schmale Finger, von Leder und Stahl mit Schwielen versehen. Dreck hatte sich unter den Nägeln angesammelt und mischte sich mit angetrocknetem Blut, wo ein Nagel eingerissen war. Eine breite, lange verheilte Narbe zierte Asaraks rechten Handrücken, als er mit vier Schattentagen zu eifrig mit einem Messer gespielt hatte und eine weitere, kleinere die Handinnenfläche. Doch die Zeiten, wo er noch offen vor seinem Vater Tränen gezeigt hatte, waren seit langem Vergangenheit.
Nein, er war sich sicher, dass er damals die richtige Entscheidung getroffen hatte, denn war sein Sohn kostbarer als jeder Besitz.
Dann, fast hatte der Fürst es sich schon ersehnt, fuhr Asarak fort: „Und meine Mutter?“, fragte er, „Jetzt nach Jahren verstehst du endlich, was du ihr angetan hast? Wahrscheinlich noch nicht einmal das. Du hast ihr mehr als nur Schattentage genommen, du hast ihre Hoffnung gestohlen.“
„Du hast Recht“, entgegnete Antirehm, obgleich er nicht verstand, was er hier tat. Versuchte er, sich vor seinem Sohn zu rechtfertigen? War er denn kein Fürst, der dem eigenen Sohn befehlen konnte? Dennoch vermochte er es nicht, die Worte zurückzuhalten und fuhr fort: „Es gibt keine Möglichkeit der Entschuldigung. Ich habe deine Mutter entehrt, sie geschändet, ihrer Zukunft beraubt und es gibt keinen Tag, an dem ich mir dies nicht vorwerfe. Heute können keine Worte diese Dummheit, die ich damals beging, ungeschehen machen. Ja, ich war jung, ich hatte soeben meinen Vater verloren, war umgeben von Ratgebern, die mich ausnutzen wollten, aber dies ist keine Entschuldigung für das, was ich deiner Mutter angetan habe. Es gibt keine Entschuldigung für solche Verbrechen. Ich war ein Feigling und doch ist alles, was ich heute tun kann, dich um Vergebung zu bitten.“
In einer Geste der Demut senkte er den Kopf bis an die Brust, während er um jene Worte hoffte, die er seit Schattentagen hören wollte, um endlich diese Schuldgefühle als einen Teil seiner Vergangenheit ansehen zu können.
Die auf diese Worte folgende Stille war kürzer als die vorige und endete mit dem leisen Klirren des Kettenhemdes, als Asarak sich erhob.
Durch die halb geschlossenen Augenlieder sah Antirehm, seinen Erstgeborenen vor sich stehen, zögernd und verunsichert, doch dann spannte sich sein Körper plötzlich an und er wandte sich um.
„Eure Entschuldigungen kommen Schattentage zu spät, Vater. Lebt wohl!“
Mit diesen Worten schlug er den Stoff beiseite, der den Zelteingang verdeckte, und verließ das Zelt.
Verzweifelt blickte Antirehm ihm nach und saugte das Bild seines Sohnes in sich auf. Denn, auch wenn er es nicht auszusprechen wagte, war ihm bewusst, dass er seinen Sohn soeben zum letzten Mal lebend gesehen haben mochte.
Anasah war die Nächste, die ihn zu sprechen verlangte. Natürlich war sie es, Antirehm hatte nichts anderes erwartet. Jetzt, wo sie sicher nicht zu Unrecht glauben durfte, dass Schmerz und Trauer ihn unvorsichtig werden würden. Jetzt, wo die Wunden über den Verlust seines Erstgeborenen noch frisch und offen waren würde sie sicherlich gute Möglichkeiten haben, ihn zu demütigen. Nicht einen Moment zweifelte er daran, dass sie es gewesen war, die Asarak gegen ihn aufgebracht hatte.
Dennoch nahm er sich die Zeit und befahl der Wache, Diener zu ihm zu geleiten, damit diese ihn und Anasah bedienten.
Es mochten Anasahs Diener sein, doch war er ein Fürst und hatte seine Ehre zu bewahren. Es gehörte sich einfach nicht, eine Hohepriesterin - mochte er sie auch noch so verachten – die Etikette zu verweigern.
Und so saß er hier, während Diener um ihn herum tänzelten, Kissen ausschüttelten, die bunten Vorhänge richteten und das Essen bereiteten.
Ein Diener mit so schütterem Haar, dass sein einstiges Sklavenmal erkennbar wurde, verneigte sich mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor ihm.
Da Antirehm einen höheren Stadt inne hatte, war es ihm nicht erlaubt zu sprechen, bis der Fürst es ihm erlaubte.
„Ich wünsche, dass die beiden Mädchen rechts mich und die ehrwürdige Hohepriesterin bedienen.“
Natürlich hätte er dies den beiden jungen Frauen auch selbst befehlen können, doch galt es als unschicklich, wenn eine Frau - selbst eine einfache Dienerin - mit einem Mann außerhalb der Familie sprach und Antirehm versuchte immer, die Ehre der Mädchen zu wahren. Doch war dies eine gute Entscheidung. Wenn er selbst Anasah bedient hätte, wäre dies einer Unterwerfung gleich gekommen und wenn sie sich selbst hätte bedienen müssen, einer Geste des Hochmuts. Die beiden Frauen, die zwar jung jedoch schicklich gekleidet waren, würden hoffentlich sowohl ihn als auch sie in ihren Worten zügeln.
Dennoch hielten auch die Dienerinnen den Zorn nicht davon ab, tief in ihm zu wachsen, als er Anasah erblickte.
Die Hohepriesterin trug wie immer ein Kleid in Rottönen, der Farbe ihrer Göttin. Dieses Mal war das Grundkleid in einem Karminrot, das sicher Unmengen allein in der Färbung gekostet hatte, während sich darüber fast durchsichtige, am Kleid, befestigte Tücher in verschiedenen Rot- und Orangetönen legten, die Anasahs schlanke Gestalt betonen und bei jeder Bewegung leise raschelten. Zwischen den verschiedenen Tüchern schimmerten prächtige und schwere Goldketten, die mehrmals um Anasahs Körper gewunden waren. Auf dem Kopf trug sie ein kronenartiges Diadem aus Gold, in das zusätzlich Edelsteine gesetzt worden waren. Weitere Armreife, von denen sich Goldgeflechte über den ganzen Arm zogen, vollendeten das Bild.
Es war der Schmuck einer Frau, die ihren Stand allzu offensichtlich zeigte. Die meisten Frauen behängten sich gerne und viel mit Schmuck, denn da ihr Mann das Recht hatte, sie an jedem Tag nur mit dem, was sie am Leib trug, aus dem Haus zu jagen, war es vielfach eine Lebensversicherung. Doch Priesterinnen wurden nur aus dem Tempel verstoßen, wenn sie gravierende Regelverstöße begangen. Da Anasah die Regeln machte, würde ihr dies kaum passieren und somit war all der Schmuck nicht mehr als Eitelkeit und Stolz.
Auch Antirehm war sich der Notwendigkeit bewusst, standesgemäße Kleidung zu tragen, dennoch verachtete er dieses Getue, bei der die Besonderheit der Kleidung einer Person wichtiger war als ihre Gedanken und die Vorschläge, die sie in eine Diskussion einbrachte.
Als sie hereingekommen war, hatte er sich pflichtschuldig erhoben wie es die Tradition verlangte und führte den Gruß aus. Auch sie grüßte ihn, wenn auch nicht so ausladend wie gewöhnlich.
„Setzt euch, Antirehm“, bat sie ihn, während sie sich selber elegant niederließ.
Obwohl der Gedanke aufkam, ihrer Aufforderung einfach nicht zu folgen, setzte er sich nach einem Zögern nieder.
„Wie geht es Eurem Sohn, Antirehm?“, fragte sie und lächelte ihn freundlich an.
Doch der Fürst entgegnete lange nichts, blickte ihr nur in die Augen und versuchte sie zu verstehen. Wer war Anasah, dass sie ihm einfach seinen Sohn nahm?
Es war durchaus bekannt, dass ihre Familie bei einem Überfall der Seekönige auf das Fürstentum Lizarat ums Leben gekommen war, als sie noch wenige Schattentage zählte. Die spätere Hohepriesterin Hesah hatte sie damals persönlich als Armengüte in den Hochtempel aufgenommen und sie unterwiesen, auch wenn Antirehm bis heute die Gründe dafür nicht verstand. Hatte dieser frühe Verlust Anasah so sehr geprägt, dass sie stattdessen im Glauben Halt gesucht hatte und dieser jetzt ihre einzige Identität und ihr ganzes Fundament war?
Er wünschte sich so sehr, sie verstehen zu können, damit das den Verlust leichter machen würde. Aber das lag nicht in seinen Möglichkeiten.
„Anasah“, flüsterte er und konnte die Tränen kaum zurückhalten, „Mein Sohn! Hättest du ihn nicht in Frieden lassen können? Warum mein Sohn? Musstest du ihn ebenfalls in dein Bett nehmen, wie du es schon mit meinem Bruder getan hast?“
„Nein“, entgegnete sie und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, „Bei Asarak war viel weniger nötig als bei Djurehm.“
Tränen liefen ungehindert über sein Gesicht und nässten seinen Bart, doch besaß er nicht länger die Kraft, sie zurückzuhalten. Zu tief saß der Schmerz.
„Es tut mir leid, Antirehm“, erklärte sie und trotz alldem, was zwischen ihnen vorgefallen war, wusste er, dass sie die Wahrheit sprach. „Ich habe die Gespräche mit Euch genossen und beneide Eure Fürstin für die Zeit, die sie mit Euch hatte. Ihr seid ein kluger Mann, der sich nur leider manchmal von Belanglosigkeiten leiten lässt und auf der falschen Seite steht. Euer Schicksal liegt nun in der Hand des Hohen Rates. Ich wünsche Euch alles Gute für die Zukunft. Mögen die Götter Euch mit dem Segen bedecken, den sie als rechtmäßig erachten. Lebt wohl!“
Wahrscheinlich waren dies die ehrlichsten Worte, die sie je zu ihm gesprochen hatte.
„Verspreche es mir!“, flehte er, „Anasah! Lass Nisirehm nichts geschehen. Er ist doch noch ein Kind!“
Sie erhob sich. „Glaubt Ihr wirklich, dass ich einen Aufstand in Eurem Fürstentum riskieren möchte? Ich habe genug andere Probleme, um die ich mich kümmern muss, anstatt mir ein weiteres anzuschaffen, dass ich vermeiden kann, wenn ich einfach Euren Sohn an Eurer statt auf den Thron setze.“
Das mochte sein, dennoch glaubte Antirehm nicht wirklich daran. Wenn Anasah in seinem Sohn wirklich eine Gefahr für ihre Interpretation des wahren Glaubens sah, würde sie kein Risiko scheuen, um dieses zu beseitigen.
„Lebt wohl!“, erklärte sie ein letztes Mal, dann wandte sie sich ab und Antirehm hatte das untrügerische Gefühl, das nun auch jene letzten Fäden der gegenseitigen Achtung und Freundschaft gekappt waren, die sie einst verbunden hatten. Zuvor hatte sein Stand als Fürst ihn geschützt, doch jetzt wo er diesen zu verlieren drohte, gab es nichts mehr, was Anasah ihm an Entgegenkommen schuldete. Jetzt waren sie endgültig Feinde und sosehr er sich auch bemühte, vermochte Antirehm es nicht, einzuschätzen, was das für ihn, sein Haus und sein Fürstentum bedeutete.