Verletzter Stolz ist ein gefährliches Gut, das einmal eingesetzt, selten einen Weg zurück ermöglicht.
Das Jahr 11 des Eraz, MAE, im Heerlager vor Asinat
Als Asarak das Zelt verließ, in welchem sein Vater bewacht wurde, wusste er nicht, was er denken und fühlen sollte.
Vielleicht sollte er um das Schicksal seines Vaters fürchten? Oder seine eigene Zukunft bedenken?
Aber alles was blieb, was Verwirrung. Hatte er soeben tatsächlich, seinem Vater, dem Fürsten von Kantigark, Vorwürfe gemacht? Hatte er es wirklich gewagt, das auszusprechen, was ihm seit dem Moment beschäftigte, seit er verstanden hatte, was es hieß, ein Bastard zu sein? All die Werte und Traditionen, mit denen er von klein auf erzogen worden war, sagten ihm, dass er seinem Vater Ehre und Treue erweisen sollte und somit falsch gehandelt hatte. Nur der Zorn war es, der ihm Recht gab. Der Zorn, der ihn erfüllt hatte, als Antirehm nicht fähig gewesen war, die Vorwürfe seines Sohnes mit etwas Anderem als Schweigen und nichts sagenden Entschuldigungen zu entgegnen. Der Zorn, der ihn geleitet hatte, hinauszugehen, als sein Vater, ein Fürst, Schwäche gezeigt hatte, obwohl Asarak Stärke benötigt hätte. Der Zorn, der auch jetzt noch in ihm brodelte und ihn vom Lager wegtrieb. Er sehnte sich nicht nach der Nähe von Menschen.
Stattdessen ging er an den Wachen vorbei aus der Höhle. Es trieb ihn zu einem Platz, den er schon vor zwei Tagen entdeckt hatte. Ein Felsvorsprung etwas abseits und höher als das Lager gelegen, von dem man auf die Wüste schauen konnte. Da er abseits der Pfade lag, man Asinat von hier nicht einsehen konnte und ein Stück klettern musste, war er für gewöhnlich verlassen.
Aber nicht dieses Mal. Überrascht bemerkte Asarak, dass es Anasah war, die dort oben saß und den Blick über die Landschaft schweifen ließ. Als sie ihn nicht bemerkte, wollte er sich schon abwenden, doch rief ihre leise Stimme ihn zurück: „Setzt Euch neben mich, Asarak.“
Zögernd trat er näher. Einladend deutete sie auf den Platz neben sich.
„Setzt Euch, Asarak. Ich wollte Euch sowieso einige Dinge fragen.“
Er ließ sich nieder und wandte seinen Blick wie sie der Wüste zu. Doch konnte er nichts davon wahrnehmen, so sehr lenkte ihn die Gegenwart der Frau neben ihm ab. Anasah schwieg und schien scheinbar ganz in ihren eigenen Gedanken versunken zu sein.
„Wem wird der Befehl über das Heer Kantigarks übertragen?“, wagte er es schließlich zu fragen.
Sie hob den Kopf und blickte ihn an. Scheinbar schien sie ihm die Störung nicht böse zu nehmen.
„Der Hohepriester gedenkt, es Nias zu geben.“, erklärte Anasah, „Er ist ein verdienstvoller Mann und augrund seiner Position als Berater seiner höchsten Demütigkeit mit den militärischen Plänen vertraut. Als geborener Kantigarker wird er von den Männern wohl auch einfacher akzeptiert werden.“
Asarak wusste, wer Nias war und zum ersten Mal erkannte er nun auch Fehler in Anasahs und Eraz’ Plänen. Der Priester Nias mochte die Pläne des Hohepriesters kennen, aber das Heer, das er führen sollte, kante er nicht. Mochte er auch Kantigarker von Geburt sein, so war er wie mit vier bis sechs oder höchstens acht Schattentagen in den Tempel gegeben worden und von da an auf dem Himmelsfels aufgezogen worden, so dass er Kantigark höchstens aus verschwommenen Erinnerungen kannte. Als Mann aus dem Bürgertum würden die niederen Adeligen ihn als ihren Befehlshaber als Zumutung empfinden, denn standen die niederen Adeligen und das Bürgertum in ständiger Konkurrenz miteinander. Adelige mit nur wenig oder gar keinem Besitz standen zwar im Stand höher als das aufstrebende Bürgertum, doch besaßen diese nicht selten mehr Mittel, was zu ständiger Konkurrenz um Macht und Einfluss führte.
„Wenn ich als Kantigarker dazu etwas sagen dürfte?“, begann er vorsichtig und fuhr, als Anasah ihm aufmunternd zunickte, fort: „Ich halte, Nias nicht für die richtige Wahl. Da ein großer Teil der Offiziere dem Adel entstammt, wird sie einen Bürgerlichen an ihrer Spitze als Demütigung ansehen, selbst wenn er dem Tempel entstammt. Ich schlage deshalb Folakras als vorübergehenden Befehlshaber vor. Als Priester des Viandav-Tempels in Kantigark kennt er sich sowohl mit Angelegenheiten des Tempels aus, als auch mit den Gepflogenheiten in Kantigark aus. Zudem berät er meinen Vater in militärischen Angelegenheit seit vielen Schattentagen.“
Noch während er dies sagte, fragte er sich, was er hier tat. Wagte er es gerade tatsächlich, eine Hohepriesterin indirekt zu kritisieren?
Anasah zog die Augenbrauen hoch.
„So seid Ihr also nicht nur mit dem Säbel sondern auch in Politik bewandert. Asarak, Ihr überrascht mich jeden Tag mehr.“ Sie musterte ihn, aber auf eine andere Art als sie es zuvor getan hatte. So als ob sie etwas bemerkt hatte, von dem sie nun überrascht war. „Ich werde über Euren Vorschlag nachdenken. Doch wenn es soweit ist, dass wir gegen Asinat marschieren, habe ich eine Aufgabe für Euch.“
Eine Aufgabe von der Hohepriesterin persönlich! Asarak glühte vor Stolz.
„Ich möchte Euch, dem Befehl von Hajad unterstellen, dem Anführer meiner Wache. Er wird das Umland von Asinat bewachen und hat die Aufgabe, jegliche Reitergruppe, welche die Stadt verlassen sollte, gefangen zu nehmen. Ich setze großes Vertrauen in Euch!“
„Soll ich nach jemand Bestimmtes Ausschau halten?“
Ein Lächeln zog sich über ihr Gesicht und er erkannte, dass er etwas richtig gemacht hatte.
„Ich vermute, dass Fürst Dirasrehm seine Tochter Mechan in Sicherheit zu bringen versucht, bevor die Stadt gestürmt wird. Sie wäre ohne Zweifel eine wertvolle Geisel für unsere Sache.“
Asarak verneigte sich. „Ich werde den Befehl ausfüllen, Demütigkeit.“
Ein wenig verunsichert blieb er sitzen. War dieser Befehl jetzt eine Aufforderung zum Aufstehen gewesen? Oder würde er gegen das Protokoll verstoßen und seine Ehre beschmutzen, wenn er jetzt als Erster aufstand?
Doch dann fragte Anasah, die scheinbar nichts von seinem Zwiespalt bemerkt hatte: „Sagt Asarak, ist Euch ein Graf mit dem Namen Djireg bekannt?“
Der Bastard von Kantigark nickte. „Djireg ist ein bedeutender Graf an der Grenze Asinats zum Fürstentum meines Vaters. Er war ab und an in Kantigark, um über Handelspfade und Grenzverschiebungen zu verhandeln. Seine Familie hat diese Position schon seit Jahrzehnten inne.“
„Was für einen Eindruck habt Ihr von ihm gewonnen?“ Ihre Stimme war leise und sie starrte in die Ferne, so als ob sie seine Antwort gar nicht interessiere.
„Wenn es seinen Interessen dient, ist er verlässlich und ein treuer Verbündeter. Ich denke, dass er nie voreilig das Wohl seiner Familie und seine Stellung gefährden würde. Er erschien mir nie als Heißsporn, sondern als ein abwägender Stratege. Dem Tempel soll er treu ergeben sein“, erklärte Asarak bereitwillig.
„Wie sieht es mit Blutsfehden aus?“
„Nach meinen Kenntnissen hat er zum jetzigen Zeitpunkt keine, aber wenn er welche hat, dann führt er sie konsequent durch. Die Familie von Untertanen, die sich von ihm abwenden, löscht er aus. Bei größeren Fehden hält er sich häufig zurück. So stand er bei der Grenzfehde zwischen Asinat und Kantigark vor zehn Schattentagen zwar auf Seiten Asinats, beteiligte sich jedoch nur mit finanzieller Unterstützung an der Fehde.“
Anasah nickte ihm zu. „Habt Dank, Asarak!“
„Ich hörte, dass Djireg seine Tochter mit Fürst Dirasrehms Erben verlobt hat. Ist er jetzt zu uns übergelaufen?“
„Er hat um Aufnahme in den göttlichen Frieden ersucht“, erwiderte die Hohepriesterin. „Und jetzt solltet Ihr Euch Eurem Auftrag widmen, Asarak.“ Das war eine eindeutige Erlaubnis zu gehen.
„Sicherlich.“ Er verneigte sich und hastete davon, um ins Lager zurückzukehren und sein Pferd zu holen.
Als er durch das Lager lief, vernahm er nicht selten aufgebrachte Stimmen. Doch nur bei einem Gespräch blieb er stehen, weil ihm die Stimme wage bekannt vorkam.
„Jeder Tag, den wir hier verbringen, kosten uns Unmengen an Proviant, Ausrüstung und Sold“, knurrte der Mann, „Es wird Zeit, dass wir endlich Asinat einnehmen. Haben wenigstens der Freiherr Gariseg seine Auslösungssumme bezahlt?“
Sein Gegenüber räusperte sich. „Bedaure, mein Fürst. Bisher ist kein Bote des Freiherren erschienen.“
„Er nehmen sich zu viel heraus! Erinnern ihn an seine Pflichten, sobald zurück. Wollen nicht auch noch Gariseg an Fürst Kialrehm verlieren.“
In diesem Moment bemerkte Fürst Osirehm Asarak und blieb vor ihm stehen.
„Bedauern die Situation Eures Vaters“, meinte der Fürst von Limisar, nachdem er pflichtschuldig einen kurzen Gruß entrichtet hatte. „Wünschen auch Euch viel Erfolg für den Feldzug.“
„Dasselbe darf ich Euch wünschen.“, entgegnete Asarak.
Nach diesem kurzen Wortwechsel wandte Osirehm sich ab und entschwand eilig in Richtung seines Lagers, während Asarak zu dem seines Vaters ging.
Hajad war ein älterer Soldat des Götterschildes, der schon deutlich über dreißig Schattentage zählte, dennoch konnte ihm niemand die Beeindruckungskraft seines Auftretens absprechen. Wie die gewöhnlichen Soldaten trug auch er das Haar geschoren, nur dass die Strähne in der Mitte der linken Seite nicht geflochten sondern zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Damit wurde gezeigt, dass er im Dienst der Götter stand, denn je offener das Haar einer Person war, desto mehr war deren Position von den Göttern gesegnet.
Ein rotes Band an seinem Handgelenk verdeutliche zudem, das er Berater und Vertrauter der Hohepriesterin des Oandelath-Tempels war.
Auch sein restliches Aussehen offenbarte jedem, der ihn auch nur aus der Ferne erblickte, seine Position.
Das Wappen des Götterschildes des Oandath-Tempels erstreckte sich über seinen Brustpanzer, wobei glänzendes Silber den Baum bildete und sich darunter die abgelegten Waffen der Feinde erstreckten. Sein Pferd, erkannte Asarak sofort, war von gutem Blut und hervorragend ausgebildet.
Asarak freute sich, mit einem solch ehrenvollen Mann zusammen arbeiten zu dürfen. Eilig trieb er Hatmada zu der Gruppe der um Hajads versammelten Krieger, die ausnahmslos dem Götterschild angehörten. Zu seiner Freude befand sich Isjad, mit dem er sich in den letzten beiden Tagen angefreundet hatte, unter ihnen. Der junge Krieger hatte Asarak zunächst zu einem Übungskampf aufgefordert und war dann von den Fähigkeiten des Bastards beeindruckt worden. Sie hatten sich gegenseitig Kniffe und Positionen gezeigt und waren darüber ins Gespräch gekommen.
Als Asarak sich zu ihm gesellte, grinste Isjad ihn an, während Hajad ihn nicht einmal beachtete und in seinen Erläuterungen fort fuhr.
Seine Erklärungen umfassten sowohl die Geländesituation um Asinat, als auch den aktuellen Stand der Kämpfe und ihren Auftrag. Dann teilte er sie in kleinere Gruppen ein, die bestimmte Punkte rund um die Stadt bewachen und beobachten sollten. Insgesamt würden sie einen Ring um die Stadt bilden und jeden fremden Reiter, der ihn durchqueren wollte, verfolgen. Asarak sollte zusammen mit Isjad, die Stadt von einem Hügel im Nordwesten beobachten. Damit befanden sie sich am obersten Ende der westlichen Mauer. Es war die einzige verwundbare Seite, denn die anderen drei waren von den hohen, so gut wie unüberwindbaren Felswänden der Schlucht umgeben, in der Asinat errichtet worden war. Deshalb war es war sehr unwahrscheinlich, dass Mechan über die steilen Felswände fliehen würde, denn müsste sie dann sowohl Reittiere, als auch Gepäck zurück lassen. Nein, wenn sie tatsächlich die Stadt verlassen würde, müsste sie dies über die Mauer tun, die soeben von den Truppen des Tempels und der Fürsten belagert und umkämpft wurde. Vielleicht gab es auch Geheimgänge und Höhlen, um Asinat zu verlassen, aber den Ring, den Hajad mit seinen Kriegern gezogen hatte, musste sie dennoch durchqueren. Es gab keinen anderen bekannten Weg.
Die beiden Krieger, die sie ablösten, waren erfreut und verabschiedeten sich nach einigen wohlgemeinten Hinweisen. Auch Hajad gab ihnen Anweisungen, bevor er zur nächsten Gruppe ritt.
Doch kaum war ihr Befehlshaber außer Hörweite, hob Isjad die Hände und meinte verdrossen: „Wir sind die Gruppe, die am nächsten am Lager ist. Hier wird nie etwas passieren. Nur ein Narr würde versuchen, da lang zu fliehen, wo es von Kriegern nur so wimmelt!“
„Oder ein Genie“, entgegnete Asarak leise. „Ein Genie, der weiß, dass man ihn hier am Wenigsten erwarten wird.
„Quatsch!“, erklärte Isjad vollkommen von sich überzeugt und schwieg, während er auf die Stadt hinab sah.
„Wie macht sich dein neuer Hengst?“, fragte der junge Krieger nach einer Weile.
Asarak seufzte. Er mochte den neuen Hengst erst gestern erhalten haben, dennoch beunruhigte ihn das Misstrauen, mit dem das Tier allem und jedem begegnete. Für einen Junghengst oder ein Fohlen war das verständlich, doch hatte Bareslavs Flamme schon eine Ausbildung erhalten und war geritten worden. Jedoch trat niemand auf einem ungehorsamen und unzuverlässigen Pferd einen Feldzug an und somit verblieb die Frage, was das Tier so sehr verängstigte.
„Er braucht Zeit, um sich an mich und die neuen Gegebenheiten zu gewöhnen“, erklärte er schließlich.
„In meiner Heimat heißt es, dass man ein neues Pferd so schnell wie möglich unterwerfen soll, weil es dich sonst nicht als Herrn akzeptiert.“
Im letzten Moment konnte Asarak ein verächtliches Schnauben verhindern. Er hasste es, wenn Menschen ihre Pferde nur mit Gewalt zähmen wollten.
„Damit mag man Gehorsam erzwingen, aber keine Partnerschaft. Dein Pferd wird immer Angst vor dir haben und das will ich nicht. Auf ein Pferd, das dir nur aus Furcht gehorcht, kannst du dich auf Dauer nicht verlassen.“
„Wer hat dir diese Sichtweise beigebracht?“, fragte Isjad und auf seinen Zügen schimmerte echtes Interesse.
Für einen Moment zögerte sein Gesprächspartner, doch dann erklärte er: „Niemand“
Doch war das nur ein Teil der Wahrheit. Wie seine Halbbrüder war auch Asarak in den sieben männlichen Tugenden unterrichtet worden, zu denen auch Reiten zählte. Jedoch hatte sein Lehrer sich nicht sonderlich erpicht gezeigt, einen Bastard zu lehren, so dass er sich das Meiste selbst beigebracht hatte – durch beständiges Üben und eine ausgefeilte Beobachtungsgabe.
Als Junge war er durch die Ställe geschlichen, hatte den Stalljungen bei ihrer Arbeit zugesehen und den Umgang der Adeligen mit ihren Pferden analysiert. Nur einen Menschen, der sich neben ihn setzte und ihm sein Wissen erklärte, den hatte es nie gegeben.
Wer auch? Kein Adeliger würde Zeit mit einem Bastard verschwenden, dessen Einfluss immer abhängig vom Zuspruch seines Vaters war. Und sein Vater…Antirehm war ohne Zweifel ein guter Reiter, doch ritt er nicht aus Leidenschaft, sondern aufgrund der Pflicht, von einem Ort zum anderen zu kommen. Sein Vater ging nicht besonders grob mit seinen Pferden um, doch behandelte er sie auch nicht als Partner. Nein. Wenn es jemanden gegeben hatte, den er aufgrund seines Umgangs mit Pferden bewunderte, dann war es seine Stiefmutter.
In den Dämmerungsstunden war er einst, als er nicht schlafen konnte, auf die Flachdächer geklettert und hatte entdeckt wie Koratchan in einem verlassenen Innenhof ihre Runden drehte. Obwohl sie weiterhin von Mauern umgeben gewesen war, hatte Asarak die Freiheit und das Glück in ihren Augen gesehen, sobald sie sich auf den Pferderücken schwang. Dieser Blick war es gewesen, der ihn Tag für Tag erneut zu diesem Innenhof getrieben hatte, um zu sehen wie die Fürstin, obgleich es ihr verboten war, ritt.
Diese Beobachtungen hatte er auch bei seinen Pferden angewandt und bis heute war dies etwas, für das er Koratchan respektiert hatte. Jemand, der seine Pferde gut behandelte, konnte kein vollkommen schlechter Mensch sein.
„Das ist beeindruckend“, erklärte Isjad, was ihn jedoch nicht davon abhielt, seinen Hengst durch ein Reißen an den Zügeln so zu wenden, dass er Asinat besser im Blick hatte.
Dennoch folgte Asarak seinem Beispiel und ließ Hatmada wenden, bevor er ebenfalls zu der umkämpften Stadt sah.
Hell stießen die Flammen im Südwesten hervor und ihr hungriges Fauchen mischte sich mit den panischen Schreien der Menschen, die bis zu ihnen hallten. Erst als ein Turm krachend unter dem Einsatz der Katapulte zusammenstürzte, verstummten die Flammen für einen Moment unter dem Getöse, nur um dann umso lauter zu brüllen.
Die schrillen Schmerzensschreie von Mensch und Tier, das Tosen des Flammenmeeres und das Donnern der Katapulte schwollen zu einem ohrenbetäubenden Getöse an, das Asarak erzittern ließ. Dies war nicht zu vergleichen mit den Jagden, wo allenfalls ein Reiter stürzte oder den Rennen, bei denen manchmal ein Zuschauer unter die Hufe geriet. Der verletzte Stolz, Prellungen und ein gebrochener Arm war das Schlimmste, was er dort jemals erlitten hatte. Die Bedeutung und Größe dieser Schlacht konnte er kaum ermessen.
Hundertfach spiegelte sich das Feuer in den Panzern und Kettenhemden der Adeligen, die hoch zu Ross ihre Truppen anführten und Befehle schrieen. Die gewöhnlichen Soldaten sammelten sich um die Fahnen ihrer Herren, stürmten gegen die Mauern an, um dort zu sterben.
Isjad schien der Anblick wenig auszumachen. Stattdessen trank und aß er gelassen, während seine Augen aufmerksam über die Geschehnisse schweiften. Vermutlich hatte er schon zu viel gesehen, um sich von dem Blut und den Schreien schrecken zu lassen.
Er war in demselben Alter wie Asarak, doch schien er in dieser Hinsicht viel mehr erlebt zu haben. Eigentlich keine Überraschung, wenn man bedachte, dass die Ausbildung zum Krieger des Götterschildes der eines Priester an Härte und Arbeit kaum nachstand.
Im Alter von sieben bis neun Jahren verließen die Jungen ihre Familien, um sich auf dem Himmelsfels in der einzigen Ausbildungsstätte ausbilden zu lassen. Damit waren sie meistens etwas älter als die Kinder, die zum Priesterdienst bestimmt waren, doch wie sie entstammten sie dem Adel oder reichem Bürgertum. Deswegen waren viele Auszubildende auch vorige Priesterschüler, die nach zwei Jahren Ausbildung an den schweren Prüfungen und hohen Auflagen der Hochtempel gescheitert waren und dann zum Götterschild übergetreten waren.
Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr wurden die zukünftigen Krieger ebenso wie die zukünftigen Priester in Mythologie, Geschichte, Kultur, Daerai, Kampfkunst und Strategie unterrichtet. Einzig Kampfkunst und Strategie nahmen beim Götterschild eine viel größere Position ein, während Rituale, Tanz und Götterehrung überhaupt nicht gelehrt wurden. Mit vierzehn Jahren endete die Grundausbildung und die Schüler wurden – wie auch die Priesterschüler – dem Götterlos unterworfen und auf die verschiedenen Tempel aufgeteilt. Es folgte noch ein Jahr Ausbildung in ihrem Tempel, wo sie auf die spezifischen Aufgaben ihrer Gottheit und ihren Dienst als vollwertiges Mitglied des Götterschildes vorbereitet wurden. Hatten sie die Abschlussprüfung bestanden, galten sie endlich als Verteidiger des Glaubens und wurden als vollwertiger Krieger ihres Tempels aufgenommen. Mit der Aufnahme gingen die Krieger zugleich die Pflicht ein, weder Land noch Frau oder Kinder zu besitzen. Das war ein großer Unterschied zu den Priesterschülern, die ihre Ausbildung in diesem Alter noch lange nicht beendet hatten. Zwar besaßen Priester und Priesterinnen kein Land, aber nicht selten beherrschten sie weitreichende Ländereien, die ihrem Tempel gehörten. Von Priestern und Priesterinnen gezeugte Kinder galten als Segen der Götter und wurden immer in einen Tempel aufgenommen. Kinder von Krieger des Götterschildes waren dagegen ein Fluch, denn durften sie ausnahmslos aus Vergewaltigungen entstehen. Es war eine Strafe, die Tempel gegenüber abtrünnigen Fürsten verhängten, um den Frauen und Mädchen, über die er herrschte, ihren Wert zu nehmen. Kein Mann würde eine Frau, die von einem Krieger des Götterschildes vergewaltigt wurde, ansehen, Ehemänner töteten ihre berührten Frauen und Väter ihre unreinen Töchter, um die Familienehre wieder herzustellen. Wenn Asinat eingenommen wurde, war es nicht unwahrscheinlich, dass dies auch dort geschehen würde.
Es war ein hartes aber ehrenvolles Leben, das Isjad lebte.
Der Wind wehte von Südosten, so dass sich das Feuer rasch weiter ausbreiten und die wehrhaften Mauern der Stadt verschlingen würde.
„Was treibt dieser Narr da nur?“ Mit einem Lachen deutete der Soldat des Götterschildes auf das umkämpfte Asinat.
Auch Asarak wandte sich um und betrachtete die Situation, auf die Isjad ihn aufmerksam machen wollte. Die äußere Mauer war fast vollständig in ihre Hände gefallen, doch trotz dieser Tatsache zog sich der letzte Befehlshaber aus Asinat nicht zurück, sondern hielt den östlichsten Turm weiterhin. Die Gefahr eingekesselt zu werden, ignorierte er.
Dennoch glaube Asarak nicht, dass dieser Befehlshaber ein Narr war. Selbst von hier konnte er das fürstliche Wappen erkennen und da der Fürst selbst den inneren Ring halten sollte und sein jüngster Sohn keinen Befehl inne hatte, konnte es sich bei diesem Mann nur um den Thronerben Ifurehm oder einen Täuschungsmanöver handeln. Jedoch war Dummheit keine der Eigenschaften, die man dem ältesten Sohn Dirasrehms zuschrieb. Es konnte sich also nur um eine Absicht handeln und wenn diese Ifurehm so wichtig war, das er dafür den kompletten Untergang seiner Einheit in Kauf nahm, lohnte es sich sicher, das genauer zu beobachten.
„Ha!“ Isjad streckte die Faust empor. „Ihre Flagge ist gefallen! Jetzt fällt dieser Narr auch noch vom Turm!“
Obwohl Ifurehms Tod bedeutsam war, schweiften Asaraks Augen über die Mauer um den Turm.
„Asarak!“, rief Isjad und deutete auf einen Fleck, der rasch näher kam. Da die Wachposten, die ihnen am nächsten waren, bisher keinen Alarm geschlagen hatten, konnte es keine feindliche Gruppe sein. Doch bewegte sich die Staubwolke mit solch einer Geschwindigkeit auf die Posten neben ihnen zu, dass diese die Pferde herumrissen, um nicht unter die donnernden Pferdehufe zu gelangen. Wild schnaubende Rösser, deren Muskeln sich unter dem Fell abzeichneten. Schaum stand vor ihren Nüstern und die Schweife und Mähnen peitschten durch die Luft. Es war ein anbetungswürdiger Anblick, von dem Asarak nicht die Augen abwenden konnte. In seinen Augen gab es nichts Schöneres als ein laufendes Pferd zu beobachten.
Zu ihrem Glück blieben die Pferde ein Stück von ihnen entfernt und Hatmada und Isjads Hengst waren so gut geschult, dass sie nicht versuchten, sich der Herde anzuschließen.
„Das sind die Offizierspferde“, erkannte der Krieger des Götterschildes und sprach aus, was Asarak schon lange verstanden hatte. Jeder gute Offizier führte mindestens zwei Pferde auf einem Feldzug mit. Damit sie während der Schlacht rasch wechseln konnten, waren die Zweitpferde in einem Gehege bewacht und versorgt worden.
„Aber es ist nicht unsere Aufgabe, sie einzufangen“, führte Isjad fort und wandte sich wieder der brennenden Stadt zu.
In diesem Moment erklang das Horn, das die Wachen zur Benachrichtigung mit sich führten. Es war das Zeichen, dass jemand im Süden durchbrach und die dort Stationierten um Verstärkung baten.
„Die Pferdeherde war eine Ablenkung! Ich reite und du bleibst hier!“ Er trieb seinen Hengst an und ritt davon. Das Asarak ihm noch seinem Namen nachbrüllte, nahm er nicht mehr wahr.
Für einen Moment zögerte Asarak, doch dann trieb auch er Hatmada an und machte sich an die Verfolgung der Pferdeherde. Er wusste, dass es großen Ärger geben würde, wenn er sich geirrt hatte, denn ließ er seinen Posten ungesichert zurück. Doch wenn er sich nicht irrte…
Anfangs hatte es so ausgesehen, als ob die ganze Herde zum Lager rannte, doch jetzt sah Asarak ein einzelnes Tier, das sich abgespalten hatte. Pferde waren Herdentiere. Ein Tier würde sich niemals freiwillig von seiner Herde trennen, vor allem nicht wenn es verängstigt war. Nein. Er kannte die Tiere zu gut, um das für möglich zu halten. Das einzelne Pferd musste einen Reiter tragen.
Hatmada steigerte ihre Geschwindigkeit noch ein wenig, so dass der Boden unter ihnen hinweg flog. Das Pferd vor Asarak bewegte sich zielstrebig und bog vom Lager weg ins Gebirge ein. Jetzt konnte er auch die schmale Gestalt des Reiters erkennen, der sich eng an den Pferdehals drückte und somit kaum zu sehen war.
Unwillkürlich bewunderte Asarak die Tollkühnheit dieses Plans. Es war riskant, denn wusste man nie wie sich Pferde in Angstmomenten verhielten. Auch ein noch so gut geschultes Tier eines Offiziers mochte durchgehen und einen Reiter abwerfen, der so unter die Hufe der Herde geriet. Die Personen, die im Süden durchgebrochen waren, mussten ebenfalls zu diesem Plan gehören. Nur dass nicht die Pferdeherde, sondern die Personen im Süden die Ablenkung waren. Die Ablenkung um den Reiter zu schützen, der die Gestalt eines schmalen, kleinen Jungen besaß und vermutlich ein Bote war.
Der Junge schien seinen Verfolger bemerkt zu haben, denn blickte er für einen Moment nach hinten. Doch das war ein Fehler, denn schien er seinem Rappen zugleich verwirrende Befehle zu geben. Der Lauf des Tieres stockte und es wurde langsamer. Es machte Asarak Hoffnung, dass sein Gegner kein allzu routinierter Reiter zu sein schien.
Eilig korrigierte der Bote seinen Fehler und das Pferd begann erneut zu galoppieren, doch hatte Hatmada in der Zwischenzeit aufgeholt.
Schon lange war Asarak nicht mehr auf einer so schwierigen Strecke so schnell geritten. Die Steigung, wo Steine unter den Hufen wegrutschten und laut den Abhang hinab polterten und Sand nachgab. Schnelle Wendungen, wenn sie einem Felsbrocken ausweichen mussten.
Immer wieder mussten sich die Pferde zum Ausweichen trennen und trafen wieder aufeinander, so dass es ihm unmöglich war, Waffen einzusetzen. Er war bewaffnet mit einem leichten Bogen und einem Säbel. Jedoch traute er es sich nicht zu bei diesem rasanten Ritt, den Bogen zu spannen und um den Säbel einzusetzen, war er zu weit von dem Boten entfernt.
Auf sein Zeichen hin streckte sich die Stute und erhöhte ihre Geschwindigkeit noch einmal. Das Blut pulsierte in seinen Ohren im Takt der trommelnden Pferdehufe, die gemeinsam mit dem pfeifenden Wind ihre ganz eigene Musik entwickelten.
Der Bastard von Kantigark beugte sich noch ein wenig weiter vor, um weniger Luftwiderstand zu bieten und blickte durch Hatmadas Ohren auf den Reiter vor ihm. Jetzt war er dem Gegner nahe genug, um die Muskeln unter dem Fell des Rappen arbeiten zu sehen und das Bündel auf dem Rücken des Reiters zu erkennen. Der Reiter trug einen leichten, braunen Überwurf mit Kapuze wie ihn Boten über ihrem Byeros trugen, um ihre Identität zu verschleiern und der eine große Bewegungsfreiheit ermöglichte. Die Hose war aus gutem, festem Stoff, der zweckmäßig war. Die schmalen Armen waren bloß und die helle Haut schimmerte im Mondlicht, während der Kopf von der Kapuze bedeckt wurde. Waffen erkannte Asarak nicht.
Noch ein Stück...Der Bote wandte sich nicht mehr um, doch Asarak vernahm die hastigen Atemzüge selbst über das Klappern der Pferdehufe hinweg. Hatmadas Kopf schob sich am Hinterteil des Rappen vorbei. Wenn Asarak jetzt den Arm ausstrecken würde, könnte er das glatte Fell des Hengstes neben ihm berühren. Schaum stand vor den Nüstern der Tiere und schweißnasses Fell glänzte im Licht des Mondes. Die Ohren zuckten aufmerksam ob der Befehle ihrer Reiter, denen beide Tiere schnell gehorchten. Eisen klirrte und das Geräusch mischte sich mit dem Knirschen des Leders und dem der Pferdehufe, sowie den hastigen, ruckartigen Atemzüge.
Erst jetzt zog er den Säbel, den er nun mit seiner schwächeren, linken Hand führen musste, weil der Bote sich zu seiner Linken befand. Dennoch umfasste er den Knauf fest und sicher, während er in der Rechten das raue Leder der Zügel fühlte. Staub wurde von den Pferdehufen aufgewirbelt, doch ignorierte Asarak seine gereizte Kehle und konzentrierte sich auf die Gestalt seines Gegners. Es war nicht seine oberste Intention, ihn zu töten, doch es war seine Pflicht, ihn aufzuhalten und genau das würde er tun.
Die Pferde rannten jetzt Seite an Seite und Asarak hob den Säbel.
Mühelos durchschnitt der Stahl die Luft und der Bastard von Kantigark führte den Schlag mit jener Präzision, die er mit seinen Lehrern allzu oft geübt hatte.
Der schrille Schrei eines Pferdes erklang, doch es war nicht der Hengst, sondern Hatmada die einbrach. Die Klinge rutschte ab und statt des Oberkörpers des Reiters, traf sie das Sattelleder. Blut spritzte auf, doch erkannte Asarak nicht, ob es vom Boten oder dem Hengst stammte.
Blut sickerte auch aus Hatmadas linkem Vorderhuf. Die Braune versuchte noch zu rennen, doch Asarak parierte sie sofort durch.
Er sah dem Reiter hinterher, dessen Pferd die Geschwindigkeit nur gering verringert hatte.
Genau in diesem Moment drehte der Reiter vor ihnen den Kopf und verlor dabei seine Kapuze. Rotblondes Haar schimmerte und ein schmales, eindeutig weibliches Gesicht, wurde entblößt. Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Stolz lag in ihrem Blick und eine Härte, die nicht zu ihrem jungen Gesicht passen wollte. Es überraschte Asarak nicht im Geringsten, das diese Frau so gut reiten konnte.
Der Wind riss ihr die Worte von den Lippen, doch war sich Asarak für einen Moment sicher „Ich komme wieder“ verstanden zu haben.
Dann war sie fort. Eine ferne Gestalt zwischen Bäumen und dem Grau der Berge, deren Weg sich im roten Schatten Oandaths verlor.
Asarak konnte nichts tun, als ihr hinterher zu blicken. Er sprang aus dem Sattel, untersuchte den gespaltenen Huf seiner Stute und hob das Bündel auf, das die Reiterin verloren hatte. Es würde ein langer Heimweg werden, denn wäre eine weitere Verfolgung sinnlos. Hatmada würde vielleicht noch für kurze Zeit rennen, doch wäre sie damit endgültig zuschanden geritten. Nein. Er wusste, wann er verloren hatte und Mechan von Asinat hatte ihm ein wahrhaft fantastisches Rennen geliefert.
Als Asarak den äußersten Rand des Lagers erreichte, war die vierzehnte Stunde bereits angebrochen. Er hatte Hatmada führen müssen, damit der Huf so gut wie möglich entlastet wurde. Den ersten Wachen, die ihm begegnet waren, hatte er von seiner Jagd berichtet und es waren eilig Trupps los geritten.
Zwei Soldaten in den Farben Kantigarks, die ihm wage bekannt vorkamen und in ihrer Ausbildung sein mussten, kamen ihm entgegnen. Nach einer raschen Begrüßung, überreichte Asarak ihnen Hatmadas Zügel und übertrug ihnen ebenso die Verantwortung über das wenige Gepäck auf ihrem Rücken.
„Bringt die Stute zu den Stallungen des Fürsten von Kantigark“, bat er sie, überlegte es sich aber nach einem Blick auf sein Pferd noch einmal anders. „Nein, wartet. Ihr“, er deutete auf den Jüngeren der Beiden, „rennt zum Lager und bringt den Pferdemeister Tujani hierher. Er soll sich um das Tier kümmern. Euer Begleiter passt derweil auf die Stute auf.“
Die Soldaten nickten und der Jüngere rannte davon. Ihre Widerspruchslosigkeit überraschte ihn. Da er ein Bastard war, stand Asarak im Stand rechtlich unter ihnen. Seine gesellschaftliche Stellung fiel und wuchs mit der seines Vaters – doch auch die der beiden Soldaten. Als Untergebene des Fürsten von Kantigark waren sie von Antirehm und seiner gesellschaftlichen Stellung abhängig. Wenn Antirehm sein Fürstenrecht verlor, würde auch ihre Zukunft ins Ungewisse stürzen. Ob sie sich Einfluss von ihm erhofften? Aber was konnte ein Bastard schon tun? Er war doch nicht weniger von seinem Vater abhängig.
Über all das dachte er nach, während er mit schnellen Schritten durch das Lager ging.
Anasah erwarte ihn in einem Zelt in der Mitte des Lagers, teilte ihm ein Junge mit schnell gemurmelten Worten mit und führte ihn zu einem großen Zelt in hellen Farben.
Mehrere Berater und Offiziere verließen es soeben, doch als Asarak eintreten durfte, war es bis auf die Hohepriesterin verlassen.
Zu seiner Erleichterung überschüttete ihn Anasah weder mit Vorwürfen noch mit Beschimpfungen. Ruhig, fast gelassen, hörte sie sich seinen Bericht an, lobte ihn für seine Beobachtungsgabe und seinen Mut. Dann bat sie ihn, Soldaten des Götterschildes zu der Stelle zu führen, wo er Mechan von Asinat zuletzt gesehen hatte und bot ihm für den Ritt sogar eines von Eraz’ Pferden an. Obwohl Asarak lieber sein Zweitpferd als ein fremdes Tier auf diesem bedeutenden Ritt geritten hätte, wagte er es nicht, diese Ehre auszuschlagen.
Zu seinem Glück war das Tier ein sanftmütiger Falbwallach, der willig auf seine Hilfen reagiert und ihn den Rest der Nacht über ausdauernd und sicher trug. Ganze Scharen von Kriegern durchkämmten das Gebirge, doch Mechan und auch die andere Gruppe blieben unauffindbar. Die Fürstentochter hatte das scheinbar Unmögliche tatsächlich vermocht: der Belagerung zu entkommen.
Erst als die ersten Strahlen von Viandavs tödlichem Blick die Dämmerung durchbrachen, ritten sie in die Lagerhöhlen ein und brachen die Suche für dieses Tag ab.
Morgen würden sie weitersuchen, aber Asarak bezweifelte, dass sie Mechan finden würden. Er hatte die Entschlossenheit und die Willenskraft in den Augen der jungen Frau gesehen und erkannt, dass sie in ihrem ganzen Wesen eine Fürstin war. Sie würde nicht aufgeben, nur weil ihre Stadt eingenommen oder ihre Familie unerreichbar war. Außerdem kannte sie das Gelände und hatte einen nicht unerheblichen Vorsprung.
Müde übergab er den Wallach Eraz’ Stallknechten und kehrte zum Lager seines Vaters zurück, wo er zuerst nach Hatmada sah. Die Stute war versorgt und schnoberte zufrieden in dem Auslauf, die man für sie abgetrennt hatte. Ihr gespaltener Huf war bandagiert worden und sie entlastete ihn selbst. Asarak sprach noch kurz mit den beiden anwesenden Pflegern, die zugleich als Wachen eingeteilt waren, und überzeugte sich, dass alles für das Wohl des Pferdes getan wurde, dann ging er zu seinem Zelt.
Man hatte ihm ein kleines Zelt etwas abseits zugeteilt, das in der Nähe der Pferdeausläufe lag und mit dem er vollkommen zufrieden war.
Er trat ein, reinigte seine Füße in dem Sandbad und beobachtete mit einem Lächeln seinen Diener Hasni, der auf dem Teppich im Vorraum eingeschlafen war. Der alte Mann diente ihm schon fast Asaraks ganzes Leben und da er das gewöhnlich gut tat, ließ er ihn schlafen.
Das Essen war schon angerichtet und auch wenn es erkaltet war, langte Asarak kräftig zu. Den Tag über war er kaum dazu gekommen, ausgiebig zu essen. Während er Nisabi, in Milch getauchte Fleischbällchen aß, fiel sein Blick auf die ordentlich gestapelten Sachen am Rand des Teppichs. Er erkannte einen zusammengefalteten Überwurf, den Köcher mit Pfeilen, seinen Bogen und weitere Dinge, die er auf seinem Verfolgungsritt dabei gehabt hatte. Hasni, der die Eigenarten seines Herrn kannte, hatte die Sachen nicht verstaut, damit Asarak es selbst tun konnte. Obenauf lag das Bündel, das die Reiterin verloren hatte. Über die Aufregungen des Tages hatte er es ganz vergessen.
Er stand auf und nahm es nachdenklich in die Hand, dann zog er die Schnüre auf, die es zusammenhielten. Ein Überwurf, ein verschlossener Lehmkrug und ein Buch fielen auf den weichen, dicken Teppich. Der Überwurf war aus einfachem, festem Stoff, der Lehmkrug enthielt Brot und das Buch…Seine Finger erzitterten, als er nach dem Buch griff. Wenn man ihm mit einem Buch erwischte…Dennoch ging ein unwiderstehlicher Drang davon aus. Er konnte nicht anders, als auch einmal ein Buch in der Hand halten zu wollen.
Er schlug das Buch auf, blickte auf die eng beschriebenen Seiten und wollte es mit klopfendem Herzen gerade wieder zuschlagen, als er etwas entdeckte, das ihn innehalten ließ. Mit bebenden Fingern strich er über das Siegel, welches das Ende einer Seite schmückte. Daneben war ein weiteres, doch es war das Erste, was ihn so faszinierte. Denn es war das Wappen Kantigarks neben dem Asinats. Und nicht irgendeins. Jedes Mitglied der Fürstenfamilie führte ein eigenes Wappen, das sich geringfügig von dem anderer Mitglieder unterschied und sich auch mehrfach im Leben ändern konnte. In diesem Fall war es das Siegel Antirehms, als er ein volljähriger Fürstensohn gewesen war. Im zwanzigsten Schattentag des Gasaz war sein Vater vierzehn und damit volljährig geworden. Nur einen Schattentag später war Fürst Mirehm gestorben, so dass Antirehm von da an das Siegel eines Fürsten führte. Damit ließ sich der Zeitpunkt, wo Antirehm das Siegel in dieses Buch gesetzt hatte, sehr genau bestimmen. Mit den Siegeln Asinats kannte Asarak sich längst nicht so gut aus, doch hielt er es für wahrscheinlich, dass es sich hierbei um Dirasrehms Siegel handelte.
In dem Buch konnte alles Mögliche festgehalten sein. Eine Geschichte der Beziehung von Asinat und Kantigark, Verträge und gemeinsame Abkommen. Doch glaubte Asarak nicht daran. Warum würde Mechan es mit sich führen? Gemeinsame Abkommen waren mit dem Feldzug gegen Asinat sowieso hinfällig und eine Abhandlung der gemeinsamen Kultur oder Geschichte würde ihr in ihrer gegenwärtigen Situation kaum weiterhelfen. Nein. Das hier musste etwas wirklich Bedeutendes sein.
Dann waren da noch die Unterschriften unter den Siegeln. Unterschriften, die nicht von Priestern verfasst worden waren. Zwar hatte Asarak nie die Kunst des Schreibens und Lesens erlernt – das war ihm verboten -, doch kannte er die Zeichen der Götter, die sich in den Unterschriften der Priester verbargen. Ein gültiger Vertrag benötigte immer beides: Unterschrift und Siegel. Alle vollwertigen Priester hatten eine Unterschrift und alle Fürsten und Landesherren führen ein Siegel. Sie waren abhängig von einander, doch die weltlichen Herren mehr von den geistlichen als anders herum. Denn jeder Tempel führte zudem sein eigenes Siegel, das dem jeweiligen Hohepriester unterstand. Somit verblieb die wahre Macht in den Händen des Tempels.
Asarak strich über das verblasste Schwarz. War dies die Schrift seines Vaters? Staunend ertastete er die Rauheit des Schriftstückes und zischte auf, als er sich daran schnitt. Ein einzelner Blutstropfen rann über seinen Zeigefinger und tropfte auf die Schrift in der Mitte der Seite. Das Rot wurde aufgesogen und bald ließ nur noch ein dunkler Fleck Asaraks Lebenssaft erahnen.
Er spürte die Gefahr, hörte sie sich nähern und doch war es ihm nicht möglich, dieses Buch beiseite zu legen. Es bot das, was er immer gesucht hatte. Antworten. Antworten über seinen Vater, der ihn nie geliebt hatte.
Asarak klappte das Buch zu, aber eines Tages, das wusste er, würde er ihn wieder aufschlagen, um jene Antworten zu finden.
Er freute sich schon jetzt darauf.