Traue keinem Lächeln leichtfertig, denn häufig sind die Gründe es zu geben vielschichtiger, als es im ersten Moment ersichtlich ist.
-Sprichwort unbekannter Herkunft -
Anasah konnte nicht glauben, was sie da hörte. Es war ihr völlig gleichgültig, wie es Asaraks Gaul ging oder ob es sich einen Stein eingetreten hatte. Was sie interessierte, war, dass Dirasrehms Tochter gefasst wurde. Wenn der Tod des Tieres ihrer Sache diente, war es ihr recht. Die Kosten konnte sie ihm ersetzen, schließlich war es nur ein Pferd. Die Tochter des Fürsten war eine ganz andere Sache. Sie musste gefasst werden, das hatten die Götter befohlen, also musste es so geschehen.
Dennoch lächelte sie den Bastard ein, erklärte ihm wie gut er seine Sache gemacht hatte, bat ihn, Soldaten des Götterschildes zu der Stelle begleiten, wo er Mechan verloren hatte, und bot ihn eines von Eraz’ Zweitpferden für den Ritt an. Sie mochte ihm für seine Dummheit die Knochen brechen wollen, aber sie wusste, dass sie ihn noch brauchen würde, also beherrschte sie den Zorn und lächelte nur.
Erst als er das Zelt verlassen hatte, schwand das Lächeln und zurück blieb eine kalte Maske der Wut und Ungeduld. Ihre Schritte waren rastlos, als sie durch den Raum schritt und überlegte, was zu tun sei. Am Liebsten würde sie die Belagerung abbrechen und alle Soldaten, die sie hatte, das Umland zu durchsuchen. Doch sie wusste, dass sie das nicht mit den Fürsten vereinbaren konnte, zumindest nicht in solch kurzer Zeit. Auch müsste sie ihnen dann den wahren Grund offen legen, aus dem sie Mechan suchte und das wollte sie nicht. Alle Fürsten hingen ihrem Glauben an, doch keiner von ihnen wollte gerne hören, dass sein Schicksal genauso von dem Urteil der Götter abhing, wie das von Mechan. Sie alle gaben sich allzu gerne unabhängig und stark. Da Anasah sie und ihre Unterstützung benötigte, war sie meist bereit, die Fürsten und ihre Eigenheiten zu akzeptieren – solange es dem Willen der Götter nicht widersprach.
Schließlich stand sie mit einem Seufzen auf und verließ das Zelt. Während Hajad und sein Götterschild dem Mädchen hinterher jagten und das Heer die Stadt Asinat einnahm, führte sie Gespräche, ging mit den Verantwortlichen für die Verwaltung und Versorgung des Lagers die Pläne für die nächsten Tage durch, erkundigte sich nach dem Tross und führte weitere unvermeidliche Tätigkeiten aus.
Später stand Anasah still auf dem Hauptpfad, der aus dem Lager führte, flankiert von ihren Wachen und beobachtete die Soldaten, die an ihr vorbei ins Lager zogen. Staub, Schmutz und die vom Blut durchtränkten Verbände – all das berührte sie wenig. Bedeutungslos waren ihre Geschichten des Leides, denn Mechan war entkommen. Es hätte sie auch nicht interessiert, wenn Mechan gefasst worden war. Verletzte Soldaten waren verloren, unerheblich für den Sieg, den nur die Gesunden erbringen konnten.
Osirehm zog an ihr vorbei. Der Fürst mit dem stolzen, kriegerischen Blick, der es dank seiner Ausstrahlung immer noch vermochte, jeden davon zu überzeugen, dass dieser Angriff kein Desaster gewesen war. Man hatte ihr berichtet, dass er an vorderster Front gekämpft und seine Truppen mit Mut in die Schlacht geführt habe. Und dennoch bedeutungslos. Als sich ihre Blicke für einen Moment kreuzten, sah sie, dass auch er die Niederlage erkannt hatte. Zugleich schien er ihr jedoch ausgesprochen ärgerlich und gereizt zu sein, so rasch wie er ihrem Blick wieder auswich.
Auch Eraz ritt wie ein siegreicher König ins Lager zurück, strafte die müden und blutbeschmierten Gesichter der Soldaten mit Missachtung und schenkte ihr, als er sie erblickte, ein strahlendes Lächeln. Doch im Gegensatz von Osirehm schien er ihr Scheitern nicht erkannt zu haben. Die ursprünglichen Ziele, die sie sich gesetzt hatten, waren bei ihm vom Ruhm des Krieges überlagert worden.
„Hohepriesterin!“, rief er mit dröhnender Stimme, die jeden innehielten ließ. „Ich habe dir ein Geschenk, eine Trophäe unseres Triumphes mitgebracht.“ Mit einem Nicken bedeutete Eraz einem General, der neben ihm ritt, ihm einen Korb zu reichen. Freihändig ritt er zu ihr und überreichte ihr mit einem galanten Lächeln sein Geschenk. Oh ja, er hatte Gefallen am Krieg gefunden, auch wenn er von dem Spiel dahinter noch wenig verstand.
Sie hob den Deckel – und blickte in das mit Blutspritzern bedeckte Gesicht eines jungen Mannes. Das eng an den Schädel anliegende, schulterlange, blonde Haar mit dem einzelnen geflochtenen Zopf verriet ihr, dass er hochadeliger Herkunft war.
„Der Rest reist irgendwo hinten im Tross mit“, erläuterte Eraz mit einem breiten Grinsen. Anasah verleitete das zu einem Stirnrunzeln. Es war nicht die Art des Hohepriesters, solche selbstständigen Entscheidungen zu treffen. Noch mochte es nur um den abgetrennten Kopf eines Fürstensohnes gehen, aber sie spürte, dass weitaus mehr dahinter stand.
„Wie ist er gestorben?“, fragte sie, ohne aufzusehen.
„Osirehm hat sich mit ihm duelliert. Eines muss man diesem Jungen lassen, kämpfen konnte er.“ Bei dem letzten Satz verzog er das Gesicht, so als ob es ihn außerordentlich stören würde, einem Feind, einem Verräter so etwas wie Kampfesmut zugestehen zu müssen.
„Es war ein schneller Tod. Etwas, was er nicht verdient hatte. Einfach verblutet ist der Kerl.“
Jetzt verstand Anasah auch, weshalb Osirehm ihr so griesgrämig begegnet war. Eraz musste den Körper des toten Feindes für sich beansprucht haben und hatte somit Osirehm die Ehre verwehrt, mit diesem Zeichen des Triumphes ins Lager einzuziehen. Ohne jeden Zweifel war Eraz’ Handels rechtsmäßig, denn der Hohepriester des Viandav war die höchste existierende Instanz Eletaks, doch war es gefährlich. Osirehm war, wie man ihr berichtete, bereits gekränkt aufgrund seines Konfliktes mit Kialrehm. Zwar hatte sie gehofft, die Situation durch großzügige Abfindungssummen entschärfen zu können, doch schien ihr dies nicht vollends geglückt zu sein. Natürlich würde der Fürst von Limisar weiterhin am Feldzug teilnehmen, aber dennoch bevorzugte Anasah es, wenn ihre Unterstützer auch mit vollem Herzen dabei waren und untereinander Einigkeit herrschte. Sie brauchte Osirehm.
„Gut“, erklärte sie ihrem Geliebten. „Es ist ein Anfang.“ Natürlich war dem nicht so. Ifurehms Tod war bedeutungslos. Es war das Leben seiner Schwester gewesen, das sie gefordert hatte, nicht das von Dirasrehms Erben. Freilich lag es ihr fern seinen Tod zu bedauern, aber Ifurehm war nicht ihre Priorität gewesen.
Es war das Einzige, das sie sagte, während sie nachdenklich das Gesicht des Toten betrachtete. Sie empfand es als erstaunlich, welche Muster Angst malen konnte. Die panisch aufgerissenen Augen, die hochgezogenen Augenbrauen, die in die Breite gezogenen Lippen, all das war von der Furcht in sein Gesicht gebannt worden. Nicht in Ewigkeit. Schon bald würden wilde Hunde von seinem notdürftig in der Wüste verscharrten Leichnam und dem Kopf fressen und Vögel ihm die Augen auspicken.
Mit einer ruhigen, fast zärtlichen Bewegung schloss sie seine Augenlieder und schob den Deckel über den Korb.
Dann wandte sie sich Eraz zu.
„Ich lasse eine erweiterte Fürstenversammlung einberufen. Sei pünktlich.“
Sie schenkte ihm ein schmales Lächeln, dann ging sie davon, ohne einen weiteren Blick an das Leid ihrer Soldaten zu verschwenden.
Zu der erweiterten Fürstenversammlung waren nicht nur die Fürsten, sowie Eraz und Anasah erschienen, sondern auch die wichtigsten Generäle. Hierbei war es irrelevant ob diese dem Adel oder dem Bürgertum entstammten. Sie saßen etwas abseits, an den Seiten, nicht zentral wie die eigentliche Fürstenversammlung.
Als der letzte General hereingeschlüpft war, räusperte Anasah sich und Ruhe kehrte ein.
„Ich habe Sie zusammengerufen“, begann sie, „um über den heutigen Angriff und das weitere Vorgehen zu sprechen.“
Sie blickte die Fürsten an, jeden einzelnen von ihnen. Dann warf sie einen Seitenblick auf ihren Geliebten und erkannte, dass er dem Wein schon etwas zugesprochen hatte.
„Ich denke, dass wir uns alle einig sind, dass dieser Angriff ein Fehlschlag war.“
„Ein Fehlschlag?“ Eraz sah auf, doch nach einem warnenden Blick von ihr verstummte er wieder. Immerhin vertraute er ihrem politischen Gespür noch genug, um auf sie zu hören.
„Uns ist es gelungen sie zu überraschen und dank ihrer Abwasserversorgung die Stadt einzunehmen, das stimmt. Doch bestand der Plan darin, dass ganz Asinat fällt. Jetzt verharrt ein gewarnter Dirasrehm in seiner Burg an der Seite seines jüngsten Sohnes und wir wissen alle, dass wir diese Burg nur unter unzähligen Verlusten einnehmen können. Außerdem ist Mechan von Asinat uns entkommen.“
„Mechan von Asinat?“ Hokrehms überraschten Worte drangen laut in die Stille.
„Richtig“ Es schmerzte Anasah, diesen Schmach zuzugeben und ihre Schande einzugestehen. Es gab Momente, in denen es besser war, die Wahrheit zu verschweigen und Momente, in denen eine Offenlegung gefordert war. Weil sie die Bereitschaft und Mitarbeit der Fürsten benötigte, war nun letzteres benötigt. „Sie ist uns entkommen. Der Götterschild hat sie verfolgt, musste die Jagd jedoch am Tagesbeginn abbrechen. Sobald Viandavs Licht gewichen ist, werden sie weiter nach der Fürstentochter suchen.“
„Wir müssen sie finden“, stimmte Kialrehm zu, „Wenn ihr Vater und ihr Bruder tot sind, kann sich ihr Ehemann eine berechtigte Hoffnung auf den Thron Asinats machen.“
„Sie ist mit Nisirehm von Kantigark verlobt“, erläuterte Anasah mit einem milden Lächeln. Natürlich wusste sie, was der junge Fürst dachte. Doch er hatte schon eine Hauptfrau – Akalachan von Kantigark – und Mechan musste sterben, egal wie viel jemand, für die Hand der Fürstentochter bieten würde. Ob Kialrehm sie sich für seinen erst zweijährigen Erben erhoffte? Er selbst konnte sie nicht zum Weib nehmen. Ein Mann konnte so viele Frauen haben, wie er ernähren konnte, aber nur eine Hauptfrau. Und die Nebenfrauen durften weder den gleichen noch einen höheren Stand als eine Hauptfrau haben, das galt als eine schlimme Beleidigung. Dennoch dachte Kialrehm darüber nach, das sah sie ihm an.
Wer von den Fürsten mochte wohl ähnliche Ambitionen hegen? Im Moment hatten alle hier Anwesenden eine Hauptfrau, doch hatten Beerehm, Hokrehm, Kialrehm und auch Osirehm unverheiratete Söhne.
Sie würde ihnen Mechan nie geben. Das Mädchen war ein Opfer an die Götter.
„Ich denke, dass mir alle zustimmen, dass wir Mechan von Asinat fangen sollten.“ Niemand widersprach und so fuhr sie fort: „Ich habe den General Jeleg gebeten, uns die Möglichkeiten zu schildern, die uns angesichts der Burg noch bleiben.“
Jeleg, dessen Haar sich bereits grau färbte, doch dessen Körper der eines jungen Mannes geblieben war, trat vor. Er stand in den Diensten Kialrehms und besaß genug diplomatisches Geschick, um dessen Übermut zurückzuhalten und eigene Ideen dem Fürsten als die seinen vorzugeben. Seine Kleidung war die eines Heerführers, doch war sie im Gegensatz zu seinem Herrn schlicht gehalten. Eine dunkle Hose und ein in strahlend blauen Farben gewebtes Obergewand mit langen Ärmeln, die dennoch nicht verbergen konnten, wie muskulös sein Körper war. Seine Rüstung hatte er abgelegt und so blieben nur die Stiefel und der fehlende Byeros, die verdeutlichten, welches Geschäft er tätigte. Schwere Stiefel waren es, aus festem dickem Leder mit Sohlen, in die Eisennägel geschlagen waren.
Knapp verneigte er sich, eben so, dass der Höflichkeit genüge getan worden war, dann begann er zu berichten: „Wie die Hohepriesterin festgestellt hat, haben wir ein Problem. Dieses Problem liegt in mehreren Ursachen begründet. Mit dem Angriff haben wir die Stadt eingenommen, aber nicht die Burg. Durch Besprechungen habt ihr alle ein Bild von dieser erhalten. Um sie zu erobern, brauchen wir viel Glück und das Blut unzähliger Männer, denn führt nur ein einziger, schmaler und steiler Pfad auf den Berg. Ich vermute, dass wir keine Katapulte einsetzen werden können, da wir sie nicht nach oben bringen können und die Winkel vermutlich zu steil sind. Entweder versuchen wir die Mauer zu stürmen oder wir belagern. Was eine Belagerung angeht, je länger sie dauert, umso höher werden die Kosten. Schon jetzt ist ein Ende der Wasservorräte in Sicht und bald werden wir es von entfernten Orten hierhin transportieren müssen. Aber auch bei einer Stürmung erwarten uns – wenn auch indirekter – hohe Kosten. Es werden viele Männer sterben und auch wenn ihr euch im ersten Moment den Sold spart, werdet ihr doch neue ausbilden müssen. Und das ist teuer. Wir haben also drei Problempunkte. Der Erste ist die Befestigung der Burg, der zweite die Zeit und der dritte die Kosten.“
„Demütige.“ Hokrehm meldete sich zu Wort, „Ich kann mich nicht auf eine Belagerung einlassen, die Lichttage dauert. Mein Fürstentum wird immer mehr von bewaffneten Überfällen und Räuberbanden geplagt. Ein Ärgernis, das unkontrolliert ansteigt. Du kennst mein Anliegen um Wasinak und ich bitte dich…“
„Ich kenne und verstehe Euer Anliegen, Fürst Hokrehm“, unterbrach Anasah ihn, was der Fürst ihr nicht böse zu nehmen schien. „Und es liegt auch in meinem Interesse, diese Angelegenheit sobald wie möglich abzuschließen. Schließlich muss auch Kantigark befriedigt werden. Tempelpolitik ist keine leichte und eine zeitintensive Angelegenheit.“
„Wie lautet dann dein Plan, Demütige?“ Das Metall des Kettenhemdes rasselte, als Kialrehm sich noch mehr aufrichtete.
„Angesichts dieser Probleme haben ich und seine Demütigkeit, der Hohepriester, uns dazu entschieden, eine Belagerung zu beginnen, die Anzahl der Männer allerdings zu reduzieren.“ Hatte sie sich geirrt oder hatte sie soeben ein schwaches Lächeln über Osirehms Gesicht huschen sehen? Überhaupt, der Fürst verhielt sich auffällig still bei dieser Beratung. Es mochte doch nicht noch immer, mit dem Kopf Ifurehms und Eraz’ Verhalten zu tun haben, oder?
Er schien ihren Blick bemerkt zu haben, denn mischte er sich zum ersten Mal ein: „Der Oberbefehl bleiben in den Händen des Tempels?“ Oh, er war klug und zwang sie schneller aus der Deckung zu gehen, als sie eigentlich geplant hatte.
„Ich und der Hohepriester werden unser Lager abbrechen und nach Kantigark reisen, um die dortigen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Der Oberbefehl über die Belagerung und auch die Verwaltung des eroberten Landes wird indes in die Hände des Djireg, Grafen von Tura, gehen. Euch, meinen Herren, ist es somit gestattet, nach Hause zu reisen.“
Sie musterte die Fürsten und ihre Reaktionen genau. Hokrehm war eindeutig erleichtert und froh darüber, zurückkehren zu können. Auf Osirehms Gesicht mischte sich eigentümlicherweise Erleichterung mit Zorn. Beerehm konnte alles Mögliche denken. Er hatte die Augenbrauen hochgezogen und unterhielt sich leise mit einigen hinter ihm sitzenden Generälen, sowie seinem ältesten Sohn. Und Kialrehm war zornig, das konnte er kaum verbergen, so wie sich seine Hände in den Teppich krallten. Vermutlich darüber, dass sie die Belagerungsgewalt auf einen niederen Adeligen übertragen hatte und ihm zugleich die Verwaltung Asinats gewährt hatte. Er hatte sich selber Hoffnungen darauf gemacht oder zumindest darauf, dass die Familie einer seiner Nebenfrauen in eine einflussreichere Position gelangte. Besagte Familie war zu ihnen übergelaufen, doch waren ihr die Männer fade erschienen und die Erfahrungen, die Djireg vorzuweisen hatte, besaßen sie eindeutig nicht. Nein, um diese Aufgabe zu bewältigen, war Djireg die richtige Wahl, davon war Anasah überzeugt. Im Gegensatz zu den Fürsten hatte er einen zu niedrigen Rang, um allzu selbstständig zu werden. Er war auf sie angewiesen.
Nachdem Kialrehm zwischen den Versammelten anscheinend nach dem Gesicht von Djireg Ausschau gehalten und es nicht gefunden hatte, platzte es aus ihm heraus: „Demütige. Das…es ist n-nicht die richtige Entscheidung, Asinat einem Grafen zu geben, der erst vor wenigen Tagen zu uns übergelaufen ist. Wir wissen nicht, wem seine Treue gilt, wem er dient“
„Er dient den Göttern.“ Anasah blickte dem jungen Fürsten direkt in die Augen. „So wie wir alle.“
„Das mag ja sein, aber…“ Oh, die Ungeduld der Jugend. Sie ließ den Fürsten mit den großen Plänen so durchschaubar werden. Einst war Anasah auch jung gewesen, aber jetzt…Sie erinnerte sich kaum noch daran. Vergangenheit.
„Er besitzt langjährige Erfahrung, Fürst Kialrehm. Erfahrung, die Ihr trotz Eurer beachtlichen Leistungen, nicht vorweisen könnt. Und Verrat, da könnt Ihr Euch gewiss sein, wird vom Tempel niemals geduldet werden“, erklärte sie mit ruhigen und gelassenen Worten, denen es jedoch nicht an Schärfe mangelte.
„Und wem jedenkst du det Fürstentitel zu jeben?“ Beerehms Stimme war laut und dröhnend, sie füllte den Raum und ließ jeden aufschauen. Ohne jeden Zweifel war er viel aufmerksamer gewesen, als es den Anschein gehabt hatte, aufmerksamer als Kialrehm. Anasah war froh, wenn sich ihre Wege trennen würden. Mit Antirehm hatte sie sachliche Gespräche führen können, aber nicht mit Beerehm. Er war einfach zu unberechenbar dafür. Sollte er sich in sein Fürstentum zurückziehen und dort die Grenzen beschützen. Es würde sie nicht weiter stören, denn diese Aufgabe erfüllte er gut, aber für die Kunst der hohen Politik war er nicht geschaffen. Manchmal, wenn er solche aufmerksamen Kommentare brachte, konnte man seine Trunkenheit und sein irrsinniges Lachen vergessen. Man wusste nie, wie er sich in solchen Beratungen verhielt. Er war nicht gefährlich, nein, aber nervig.
„Ich würde es vorziehen, wenn wir dies klären, sobald entschieden ist, was mit Dirasrehm geschieht“, entgegnete die Hohepriesterin, während sie aus den Augenwinkeln ein nicht eben auffälliges Gähnen Eraz’ beobachtete, „Er ist der amtierende Fürst.“
Mehr sagte sie nicht. Sollten die Fürsten doch ihre eigenen Theorien dazu spinnen. Sie hatte viel darüber nachgedacht und war zu keiner Lösung gelangt, denn hing dies von den sich entwickelnden Ereignissen ab. Die Frage, was mit Asinat geschah, war wichtig, aber nichts im Vergleich zu der Bedeutung von Mechans Gefangennahme oder der Situation in Kantigark.
Den Legenden nach war Asinat von einem flüchtenden Fürstensohnes Kantigarks gegründet worden, den dessen Brüder hatten ermorden wollen. Viele Lieder waren über diese Geschichte geschrieben worden und immer wieder erklangen sie in den Straßen der Städte. Anasah jedoch kannte die Wahrheit, denn hatte sie als Priesterin Zugang zu Quellen, die kein normaler Bürger hatte: Bücher. In ihnen hatte sie die Wahrheit gefunden. Als jüngste der neun Fürstenstädte war sie gegründet worden, um den Einfluss des mächtigen Kantigarks einzudämmen. Nachdem Kantigark im Krieg zwischen zwei Männern, die sich beide Hohepriester nannten, auf der Seite des Verlierers gestanden hatte, war Asinat gegründet worden. Der Fürst Kantigarks hatte Land an das neu gegründete Fürstentum abtreten müssen, das von da an die Grenzen zum Meer hin schützte.
Immer noch war Asinat vergleichsweise unbedeutend, immer im Schatten des Fürstentums, auf dessen Land die Stadt entstanden war.
Sie hatte überlegt, das Fürstentum an Dirasrehms jüngsten Sohn zu geben oder gar das Fürstenrecht wieder zu nehmen. Es war eine Frage, die sie erst in Zukunft beantworten werden könnte.
„Sind alle einverstanden, dass das Belagerungsheer aufgelöst wird und stattdessen der Befehl an Djireg übertragen wird?“, fragte sie.
„Mit welchen Truppen werden Djireg belagern?“, mischte Osirehm sich ein.
„Mit seinen eigenen und den Männern Asinats, die sich ihm anschließen werden. Beraten wird er zudem von Männern des Götterschildes.“
„Dann bin ich einverstanden“, erklärte der Fürst von Limisar zu ihrem Erstaunen und hob die Hand. Hokrehm und Beerehm folgten ihm rasch, nur Kialrehm zögerte. Als er jedoch verstand, dass er der Einzige der Fürsten war, der sich dagegen aussprechen würde, hob auch er die Hand.
„Gut.“ Dankbar nickte sie den Fürsten zu. „Bevor ihr abreist, bitte ich Euch noch um Eure Männer, um Mechan von Asinat aufzuspüren. Gegenüber ihrem Vater würde sie ein beachtliches Druckmittel sein.“
Als alle von ihnen ihre Zustimmung anzeigten, führte sie aus: „Wir werden alles durchsuchen, sie wird uns nicht entkommen. Möchte noch jemand etwas sagen?“ Niemand antwortete und somit schloss Eraz in seiner Funktion als Hohepriester die Versammlung.
Es erstaunte Anasah wenig, dass Kialrehm auf sie zutrat, als das Zelt sich geleert hatte.
„Demütige.“ Seine Stimme war erstaunlich ruhig dafür, wie zornig er zuvor gewirkt hatte. Er strich sich eine silberne Strähne aus dem Gesicht und musterte sie. Weil er größer war als sie, konnte er auf sie herabsehen, was sie eigentümlicherweise in diesem Moment besonders störte. „Ich bitte um die Erlaubnis, dich nach Kantigark zu begleiten.“
„Natürlich“, erwiderte sie sanft. „Es ist mir eine Ehre, wenn Ihr Euch mir und dem verehrten Hohepriester anschließen würdet.“ Sie hatte wahrlich nichts anderes erwartet. Trotz seiner Position war Kialrehm manchmal eben doch noch ein Kind, das nicht erkannt hatte, wie leicht es zu durchschauen war. Nur ins Gesicht sagen würde Anasah es ihm nie.
Die Zelte der Botschafter befanden sich inmitten des Heerlagers, umgeben von den Zelten einfacher Soldaten. Auch äußerlich unterschieden sie sich nicht im Geringsten davon. Nur schliefen keine Soldaten darin, sondern war es der Ort, wo Boten warteten. Inmitten des Trubels, der hier herrschte, fiel ein Fremder nicht auf und konnte leicht in der Menge untertauchen. Es gab viele von diesen Botenzelten und ihre Standorte verschoben sich immer wieder, so dass die Identität und Sicherheit der Überbringer der Nachrichten gewährleistet war.
Der Bote, von dem Anasah unterrichtet worden war, wartete schon mehrere Stunden. Obwohl er die Wichtigkeit seiner Botschaft betont hatte, war es ihr nicht möglich gewesen, früher zu kommen.
Dennoch nahm sie sich die Zeit, einen ihrer Soldaten, der das Zelt beobachtete, zu befragen. Das hatte sie immer getan und sie würde es immer tun. Es galt ihrer Sicherheit, denn unterhielt sie sich mit solchen Botschaftern immer alleine und musste sicherstellen, dass keine Kompanie von Meuchelmördern hinter dem Eingang wartete.
„Ein einzelner Mann“, erklärte der Beobachter, „Die Wache vor mir hat eine Dienerin zu ihm schicken lassen, damit er etwas zu essen erhält. Nach einer Weile hat der Bote sie herausgeschickt, da er in Ruhe beten wolle. Sie hat nichts bemerkt. Es scheint also sicher zu sein.“
„In Ordnung“, Anasah nickte ihm dankbar zu. „Ich werde hineingehen“
Der Mann verneigte sich, setzte sich zurück in den Eingang seines Zeltes und fuhr fort, seinen Säbel zu reinigen.
Anasah schlug den Stoff zurück und trat in das kleine Zelt hinein. Zunächst entdeckte sie nichts. Ein leerer Raum mit Sitzkissen, von dem ein weiterer Bereich mit einem Vorhang abgetrennt war. Dann sah sie die junge Frau, die bewegungslos unter einer Decke lag und die Frisur einer einfachen Arbeiterin trug. Nach einem kurzen Blick auf die nackte Frau wandte Anasah sich von der bewusstlosen Dienerin ab und durchquerte den Raum mit schnellen Schritten. Sie zog den Vorhang beiseite und erblickte gähnende Leere. Der Bote war nicht länger da.
Ein Gefühl des Misstrauens beschlich sie mit dem bitteren Beigeschmack von Täuschung. Oh, wie sie es hasste, wenn jemand sie zu täuschen versuchte. Es mochte nur nach einem verschwundenen Boten aussehen, doch sie verstand, dass es hier um weitaus mehr ging. Wenn jemand die Nachricht haben wollte, hätte er den Mann auf seinem Weg überfallen, nicht inmitten des Lagers. Genauso, wenn der Bote selbst hatte verschwinden wollen. Wieso sollte er dann noch ins Lager kommen? Und was war mit der Dienerin?
Ruckartig wandte Anasah sich um, vergessen war jede priesterliche Würde und Gelassenheit. Sie sah sich um – und bemerkte, dass der schwere Teppich, der den Boden bedeckte, verschoben war. Als sie ihn mit einiger Kraftanstrengung beiseite räumte, fand sie die Botschaft, die ihr der Unbekannte hinterlassen hatte. Nur, dass er jetzt einen Namen trug.
Ein Kichern entrang ihrer Kehle und schließlich brach es aus ihr heraus. Ein Lachen darüber, dass Mechan von Asinat es gewagt hatte, sie herauszufordern. Schon begann sie das Mädchen dafür zu mögen. Es änderte nichts daran, dass Mechan sterben musste, aber sie mochte und schätzte kluge Gegner. Antirehm war solch ein anspruchsvoller Gesprächspartner und Disputant, den sie dafür schätzte und akzeptierte. Er würde sterben, aber sie bedauerte seinen Tod schon jetzt.
Genauso war es mit Mechan. Sie bewunderte, das Mädchen für ihren Mut und ihre Tollkühnheit, doch sterben musste sie. Nachdenklich strich sie mit den Fingern über die Muster des Byeros’, den sie unter dem Teppich gefunden hatte. Jeder Byeros war einzigartig, denn bewies er die Identität seines Trägers. Dieser zeigte die goldenen Kränze Asinats auf dunkelblauem Grund und zudem einige andere Anordnungen, die nur den Schluss zuließen, dass dieser Byeros einer Fürstentochter Asinats gehörte: Mechan.
Die Kriegserklärung, die Mechan ihr damit gesendet hatte, beunruhigte sie nicht im Geringsten. Es war ein hoffnungsloser Kampf, den das Mädchen ausfechten wollte, doch war Anasah bereit, sie dafür zu akzeptieren.
Als Bote musste sie in das Lager gekommen sein und dann die Kleider der Dienerin angezogen haben, um das Zelt zu verlassen. Unbemerkt war sie durch das Lager gegangen und würde dann wieder in die Kleider des Boten geschlüpft sein, denn verließ eine einfache Dienerin das Lager nicht ohne Erlaubnis. Sie musste schon seit mehreren Stunden fort sein, noch bevor Viandav aufgegangen war. Anasah bezweifelte, dass sie eine Spur von Mechan hier im Lager finden würden.
Sie rief nicht nach den Wachen, sondern blieb sitzen, krallte die Hände in den Stoff des Byeros’ und überlege, was ihr diese Handlung über Mechan von Asinat verriet.
Sie war mutig und durchaus risikobereit, doch agierte dabei klug und gewissenhaft. Und sie hielt die Risken möglichst klein. Eigentlich hätte sie den Byeros unter Anasahs Schlafstätte vergraben müssen, doch stattdessen war sie vom Machbaren ausgegangen und hatte gar nicht erst versucht, in das schwer bewachte Zelt der Hohepriesterin einzudringen. Mit ihrer Tarnung als Trägerin wichtiger Neuigkeiten hatte sie dennoch sichergestellt, dass ihre Kriegserklärung den Richtigen traf: Anasah.
All das zeugte von großer Intelligenz und Berechnung, doch zeigte es auch einige Schwächen. Mechan schien keine Kontrolle abgeben zu können und nicht fähig, anderen Menschen wichtige Aufgaben anzuvertrauen. Wichtige Fähigkeiten für eine Leiterin, wie Mechan es sein wollte, wenn sie tatsächlich gegen Anasah in den Krieg ziehen würde.
In den Krieg. Mechan von Asinat mochte als Prinzessin geboren sein und sich gewisse Kenntnisse über Politik und Adelige angeeignet haben, doch war sie trotz allem noch eine junge Frau, die wenig von der Welt wusste und verstand. Ein Mädchen nur. Jung und naiv, geprägt von der Ungeduld der Jugend.
Anasah akzeptierte das, aber bis Mechan ihr zu einer ebenbürtigen Gegnerin heranwachsen mochte, brauchte es noch viel Zeit. Zeit, die sie Mechan nicht geben würde. Der Wille der Götter musste geschehen. So war es immer gewesen und so würde es immer sein.