Schlagt keinen Rat leichtfertig ab!
aus: Die Tragödie von Lorehm und seinem Sohn Erusarehm, die Szene des Auszugs Lorehms, uraufgeführt im 4. Jahr des Dez.
Dritter Hicurathstag des sechsten Lichttages des elften Schattentages des Eraz’, MAE
Der Schrei eines Flughuhns war an diesem Ort ungewöhnlich genug, so dass zwei, drei Soldaten aufblickten, aber nicht zu seltsam, als dass Misstrauen sich ausbreiten würde. Gewöhnlich zogen die Schwärme erst in den Lichttagen aus der Wüste in den Schutz des Gebirges hinein, aber vereinzelte Jungtiere verirrten sich häufiger in die Landschaft aus grauem Stein und ließen kehlige Laute erklingen.
Mechan schien die Einzige zu sein, die den feinen Unterschied wahrnahm zwischen Realität und Täuschung, zwischen Gefangenschaft und Freiheit. Jene winzige Kleinigkeit, in der sich der Ruf eines jungen Männchens von dem eines jungen Weibchens unterschied – nur dass weibliche Flughühner immer im Schwarm flogen.
Unauffällig warf sie einen Blick auf Lareg, der vor ihr ritt. Er unterhielt sich leise mit dem Anführer seiner Soldaten und schien angespannt, doch war er ganz in das Gespräch versunken und beachtete seine Umgebung kaum. Ihr konnte das nur recht sein.
Sie ritt relativ weit vorne im Zug, flankiert von einem halben Dutzend von Laregs Männern, die jedoch weit weniger wachsam waren, als zu Beginn der Reise. Weiter hinten ritten Mechans Eunuchen, auch sie waren bewacht. Abgeschlossen wurde der Zug von einem älteren, erfahrenen Krieger aus niederem Adel, dem Lareg vollkommen vertraute.
Bedingt durch die Schlucht, durch die sie ritten, ergab sich eine lang gestreckte Formation – nicht die Günstigste, um einen Angriff abzuwehren.
Unauffällig hob die Fürstentochter aus Asinat den Blick und betrachtete die Umgebung. Einst musste hier ein Fluss lang geflossen sein, doch war er schon lange ausgetrocknet und nur wenig erinnerte an das von Leben sprühende Tal, das es hier einst gegeben haben musste. Vereinzelte Büsche und karges Gras boten eine ferne Erinnerung an Grün und schmückten Grau und Braun mit winzigen Farbtupfern. Zu ihrer Linken erhob sich ein steiler Abhang, der auf der unteren Hälfte von losem Geröll und Sand bedeckt war, zwischen dem sich einzelne Büsche an das Gestein klammerten. Darüber waren schroffe Felsspitzen und graue Steinwände.
Auch auf der rechten Seite befand sich ein Abhang, doch ging dieser sanfter in die Schlucht über und der Boden war durch den verbreiteten Buschbewuchs deutlich fester und nur von einer scheinbar dünnen Schicht Geröll bedeckt, das überwiegend klein war. Der Abhang verjüngte sich in seinem Ende zu verwirrenden Formationen und Gestalten, die aus verschiedenen Blickwinkeln, ganz anders gedeutet werden konnten. Einmal meinte Mechan ein Pferd zu erblicken, dann den Viandav-Tempel von Asinat. Dann erblickte sie die Gestalt eines in Stein gemeißelten Adeligen, der eine Fürstenkrone trug und verstand, dass es sich um das Grab einer ihrer Vorfahren handelte und zugleich als Zeichen diente.
Es war nicht mehr als ein winziger Fleck an dem Rand ihres Blickes bei dem Fürstengrab, doch zusammen mit dem Ruf des Flughuhns, das keines war, ergab es eine unmissverständliche Botschaft, die an sie gerichtet war.
Scheinbar in sich versunken, begann sie eine leise Melodie zu summen. Einer der Soldaten an ihrer Seite sah zwar auf, unterband es jedoch nicht, sondern nahm die Töne auf und summte mit. Es war ein bekanntes Volkslied, das die Abenteuer eines jungen Adeligen mit seinem treuen Ross erzählte. Da dieser dem Tempel Opfer entrichtete und den Göttern ihre Loblieder brachte, wurde das Lied vom Hochtempel geduldet.
Sie warf einen Blick zur Seite, sodass sie Liub aus den Augenwinkeln sehen konnte, der hinter ihr saß. Aufrecht und angespannt saß er im Sattel und summte die Melodie mit einem Ernst, der überhaupt nicht zu den lebendigen Tönen passte. Die Zügel hielt er in einer Hand und ballte die linke zur Faust.
In diesem Moment sirrte ein Pfeil durch die Luft. Mit einer unglaublichen Durchschlagskraft traf er den Grafen. Durch die Wucht und das gleichzeitige Steigen seines Pferdes wurde Lareg aus dem Sattel geschleudert und traf mit einem übelerregenden Geräusch auf dem Boden auf. Mechan konnte nicht sehen, was mit ihm geschah, denn in diesem Moment geschahen viele Dinge gleichzeitig.
Mechan selbst trieb ihrer Eselstute die Fersen in die Flanken, was diese zu ihrem Erstaunen sogleich vorwärts springen ließ.
Durch Laregs Fall hatte sich vor ihr eine Lücke aufgetan, die sie nun ausnutzte. Ohne sich umzusehen, stürmte sie an den verwirrten Soldaten und dem gefallenen Grafen vorbei und trieb ihre Stute nach Norden auf den flacheren Abhang zu.
Sofort nahmen einige Soldaten die Verfolgung auf, aber damit hatte Mechan gerechnet und es war auch gar nicht ihr Ziel, auf diese Weise zu entkommen. Schon bald würde ihre Eselstute anhalten und ihre Befehle nicht länger beachten. Vielmehr war es ihr Ziel, die Reihen auszudünnen und Laregs Krieger aufzuteilen – umso leichter würde es sein, sie zu besiegen.
Und dennoch erfüllte sie in diesem Moment die Hoffnung, dass etwas geschah, dass jener hoffnungsbringene zweite Pfeil, sich von der Sehne löste, sie von ihren Verfolgern befreite und die Ehre ihres Hauses rächte.
Schweigen.
Sie hörte den Atem der Verfolger in ihrem Nacken und als sie zurücksah, erblickte sie Lareg inmitten seiner Krieger, der sich den linken Arm hielt und laute Befehle brüllte.
Sollte es denn alles umsonst gewesen sein? Nur für einen verletzten Grafen und eine aussichtslose Flucht?
Eine Hand strich über ihren Rücken, Stoff riss und ein kühler Windzug umschmeichelte ihre nackten Schultern.
Dann war sie fort und anhand des schrillen Wieherns eines Pferdes erkannte Mechan, das etwas geschehen sein musste.
Zugleich löste sich ein einzelner Reiter aus dem Schatten eines Felsen und trieb sein Pferd begleitet von lautem Gebrüll vorwärts. Sein Tier war schneller als ihre Eselsstute und er überwand die Distanz zwischen ihnen innerhalb kürzester Zeit.
Ohne sie weiter zu beachten, ritt er mit gezogenem Säbel an ihr vorbei und stellte sich schützend vor sie.
Mechan parierte ihre Stute durch und warf einen Blick auf die drei Krieger, die verwirrt den jungen Fremden musterten, der sich ihnen in den Weg gestellt hatte. Einem von ihnen ragte ein Pfeil aus der Schulter.
Pferdehufe erklangen und Lareg kam in Begleitung von zwei Männern näher. Sie fragte sich, ob er es alleine auf sein Pferd geschafft oder ob er Hilfe benötigt hatte.
„Aber, aber junger Mann. Lasst uns in Frieden ziehen und Euch wird nichts geschehen“, erklärte er in einem singenden, nachgiebigen Ton, als hätte er den Bogen übersehen, den der Reiter bei sich trug und von dem vermutlich die abgeschickten Pfeile stammten. Sein Kettenhemd war an der Schulter zerrissen und ein ausgefranstes Loch bewies, das auch ihn ein Pfeil getroffen hatte. Mechan bedauerte, dass es nicht sein Schwertarm gewesen war.
„Ich glaube nicht“, entgegnete der junge Recke und ignorierte, dass er von feindlichen Kriegern umgeben war, deren Anzahl stetig von Laregs Männern erhöht wurde.
Doch auch Mechan ignorierte dies und trieb ihre Stute neben seinen Hengst. Sie tauschten ein grimmiges Lächeln. Am Liebsten hätte sie ihn umarmt, doch vorerst galt es, heil aus der Sache raus zukommen.
Dann blickte sie zu Lareg. Er sah müde aus, so als würde er sich fern der Kämpfe sehen und nur noch an seine heimatliche Festung mit einem warmen Bett denken.
Karassub war nicht hier und konnte dementsprechend keine Worte für ihn übersetzen, doch war sie sich sicher, dass er schon verstand, was sie sagen wollte.
Für einen winzigen Moment senkte er den Kopf, als wolle er ihr kurz Anerkennung schenken. Einen Moment der Freundschaft inmitten der Feindschaft.
Doch als er aufsah, war er wieder der Graf, der das Wohl seines Volkes nur durch ihre Auslieferung gewährleistet sah.
„Ich will nicht bestreiten, dass Eure Tat mutig ist, doch geht es hier um Dinge, die größer sind als nur das Schicksal einer schönen Frau. Deshalb bitte ich Euch, dass Ihr reitet und Euer Leben lebt. Ich liege nicht im Streit mit Euch und wünsche mir kein Blutvergießen“ Fast hätte Mechan aufgelacht. Lareg hatte nicht im Geringsten verstanden, worum es ging.
„Ich glaube nicht“, wiederholte sein Gegenüber. „Ihr müsst wissen, Lareg aus Siarit, das Ihr mit einer Beleidigung Mechans auch die Ehre meiner Familie beschmutzt habe. Ebenfalls bin ich mir sicher, dass ich auch im Namen meines Vaters spreche, wenn ich Euch sage, dass Ihre Behandlung dem Recht der Götter und dem des Hochtempels widerspricht und somit unverzüglich aufgehoben werden muss.“ Mechan hob eine Augenbraue. Es schien, als ob Tavirehm seit ihrer letzten Begegnung die Kunst der Formulierungen gelernt hatte.
Zugleich beobachtete sie wie Erkenntnis sich in Laregs Zügen widerspiegelte.
„Nochrehm“, knurrte er und riss sein Pferd herum, um die umliegende Landschaft abzusuchen.
„Wollt Ihr mir nicht verraten, wo Euer Vater sich mit seinen Männern verbirgt?“
Ihr Vetter zuckte mit den Schultern, so dass seine Locken hochflogen. Ein Grinsen, das er mit Shurehm gemein hatte, zierte sein Gesicht. „Verzeihung, mein Graf, aber es liegt sicher nicht im Interesse meines Vaters, dass ich Euch das mitteile.“
„Natürlich nicht“, entgegnete Lareg, ohne Tavirehm auch nur einen einzigen Blick zu schenken. „Er ist hier irgendwo“, murmelte er, dann befahl er: „Bildet eine Formation und nehmt unseren neuen und unseren alten Gast in Verwahrung“
„Haltet ein, Graf!“ Die Stimme, die sich nun in das Gespräch einmischte, war laut und durchdringend und besaß einen dunklen, tiefen Klang, der an das Grollen eines gewaltigen Flusses erinnerte.
Mechan sah auf und erblickte ihren Oheim Nochrehm, den Grafen von Adlersicht, der sein Pferd den Abhang zu ihrer rechten herunter trieb. Dutzende seiner Männer begleiteten ihn und auch auf der anderen Seite suchten sich vereinzelte Soldaten Adlersichts ihren Weg den steilen Abhang hinab. Doch wie vielmehr wurde Mechan durch die Wappen bewegt, die über den Reitern im Wind flatterten! Selbstverständlich trugen sie das Wappen ihrer Festung, das einen Speer auf hellblauem Grund zeigte, um den drei goldene Kränze gelegt worden waren. Weitaus mächtiger und größer war das offizielle Wappen Asinats: Der goldene Kranz auf dunkelblauem Grund. Das Banner wellte sich und knatterte im Wind. Es waren dieser Anblick und dieses Geräusch, die bewiesen, dass ihr Haus und ihr Fürstentum noch nicht besiegt, noch nicht gefallen war und es noch Hoffnung gab.
Genau genommen war es Nochrehm nicht erlaubt, es zu führen, aber das war Mechan in diesem Moment egal.
Nochrehm von Adlersicht war eine beeindruckende Gestalt. Er war größer als sein älterer Bruder Dirasrehm, teilte sich mit ihm jedoch das schulterlange hellblonde, strähnige Haar und die schmale, kräftige Gestalt. Er hatte ein spitzes Kinn, hervorstechende Wangenknochen, eine Adlernase, die ausgeprägter war, als bei dem Rest ihrer Familie und ein einzelnes blaugraues Auge. Das andere hatte er bei der Schlacht von Azasit verloren, wo auch Mechans Vater gekämpft hatte und Zlurehm, ihr anderer Oheim, gefallen war. Die Wunde war von einer Augenklappe verborgen, was ihm ein düsteres Aussehen verlieh.
An seiner Seite ritt Figerehm, Tavirehms jüngerer Zwillingsbruder. Ihr Vetter schenkte Mechan ein feines Lächeln, bevor er sich wieder auf seinen Vater fokussierte.
„Meine Männer überwiegen die Zahl der Euren bei Weitem“, eröffnete Nochrehm das Gespräch, während er zugleich einen höflichen Gruß ausführte.
„Ich glaube, ihr vergesst, dass Euer Sohn und Eure Nichte, deretwegen Ihr ausgezogen seid, sich in meiner Gewalt befinden“, entgegnete Lareg im höflichen, aber bestimmten Ton.
„Ich habe diese Tatsache keineswegs vergessen.“ Nochrehm führte sein Pferd noch näher heran. Er ritt einen eleganten, kräftigen Apfelschimmel mit langer Mähne, dessen Schritte weit ausgreifend waren. „Nur weiß ich, dass der Tod Mechans nicht in Eurem Interesse ist und Euer Vorteil somit kein Vorteil ist.“
Lareg nickte anerkennend. „Für Mechan mag dies ohne jeden Zweifel gelten, doch nicht für Euren Sohn.“
Ohne Tavirehm auch nur zu beachten, fuhr Nochrehm fort: „Mein Sohn hat sich wissentlich in diese Gefahr begeben und ist alt genug, die Konsequenzen seines Handelns zu tragen“ Anscheinend war es keineswegs geplant gewesen, dass Tavirehm ihr zur Hilfe eilte, sondern allein seine Entscheidung gewesen.
Der erschrockene Blick, den er nun seinem Vater zeigte, verdeutlichte jedoch, dass er mit dieser Reaktion keineswegs gerechnet hatte. Verzweiflung legte sich über seine Züge und selbst Mechan fragte sich, ob ihr Oheim diese Worte ernst gemeint hatte oder es nur eine Taktik war, um den Wert seines Sohnes für ihn nicht zu offenbaren.
Im Bruchteil einer Sekunde schien Tavirehm seine Erfahrung zu treffen. Er bohrte seinem Pferd die Fersen in die Flanken und trieb es vorwärts. Was zunächst wie eine Flucht gewirkt hatte, wurde ein Angriff, als er den Säbel hob und mit einer schnellen Bewegung zum Schlag ausholte.
Lareg reagierte schnell. Er riss seine eigene Waffe hoch und entgegnete den Schlag, der von schräg oben geführt worden war, in letzter Sekunde. Stahl kreischte und Funken sprühten, als die beiden Waffen aufeinander trafen. Tavirehm war trotz seines jungen Alters ein kräftiger Mann, der über Schattentage in der Kunst des Schwertkampfes unterrichtet worden war. Somit war sein Schlag mit Wucht geführt. Der Graf musste den Schlag von unten in einem sehr unbequemen Winkel entgegnen und dagegenhalten, doch war er ein zu erfahrener Kämpfer, um sich dadurch beeindrucken zu lassen.
Für einen Moment schien es, als könne Tavirehm die Klinge herunterdrücken. Dann zog Lareg seine Klinge war und riskierte damit die Gefahr, dass er verletzt wurde. Die Wucht des Schlags ließ ihren Vetter aus dem Gleichgewicht kommen und ohne, dass der Säbel Lareg getroffen hatte, fuhr er durch die Luft. In demselben Moment fuhr Laregs Klinge von oben herab und entwaffnete Tavirehm mit einer raschen, geschickten Bewegung aus dem Handgelenk. Der Säbel wirbelte durch die Luft und traf mit einem Klirren auf dem harten Erdboden auf.
Jetzt war die Gelassenheit auch aus Laregs Gesicht verschwunden und während er seinem fassungslosen Gegner die Klinge vor die Brust hielt, erklärte er: „Das war sehr dumm von dir, junger Mann. Ich hoffe für dich, dass…“
In diesem Moment führte Nochrehm seine Männer zum Angriff.
Er hatte einen guten Moment getroffen. Laregs Männer waren größtenteils kurz davor gewesen, in den Zweikampf einzugreifen und hatten sich ihrem Anführer zugewandt.
Tavirehm, der den Kampflärm in seinem Rücken hörte, duckte sich unter der feindlichen Klinge weg und trieb seinem Pferd die Fersen in die Flanken, so dass es einen Satz zur Seite machte. Lareg kümmerte sich nicht länger um den flüchtenden Jüngling, sondern kreuzte die Klingen mit einem von Nochrehms Männern. Liub, der sich scheinbar eine Waffe erkämpft hatte, focht mit zwei Männern zugleich und Tjarub prügelte sich am Boden mit einem ebenso waffenlosen Feind.
Vier Männer hatten sich um Mechan versammelt und schirmten sie von Angriffen ab. Angeführt wurden sie von Figerehm, der sein Schwert nicht minder geschickt, aber deutlich gezielter führte als sein Zwillingsbruder. Sie kämpften ihr den Weg frei und führten sie aus den gröbsten Kämpfen heraus zu Nochrehm, der den Kampf etwas abseits beobachte.
„Mechan“ Er neigte den Kopf, wenn auch nicht viel. „Ich habe Euren Ruf vernommen“
Sie lenkte ihre Eselstute neben seinen Apfelschimmel.
„Und ich danke Euch dafür.“
Er deutete auf die sich bekämpfende Menge. „Es tut mir leid, dass mein Sohn Eure Rettung zu so einem Blutbad hat ausarten lassen“
„Es ist, so wie es ist“, entgegnete sie.
Sie nahm es keineswegs als selbstverständlich hin, dass er ihr zur Hilfe geeilt war und fragte sich deshalb, ob er im Gegenzug etwas von ihr verlangte. Noch nie hatte sie gewusst, wie genau sie ihren Oheim einschätzen sollte und daran änderte auch diese Tat nichts.
Dennoch hinderte sie das nicht daran, ihm ein herzliches Lächeln zu schenken und seine Hand zu drücken. Er war der Bruder ihres Vaters und das genügte schon, damit sie sich ihm verbunden fühlte.
Nochrehm entgegnete den Druck.
„Eure Männer gewinnen“, erkannte sie.
„Natürlich.“ Ihr Oheim schnaubte. „Zwanzig Männer. Wenn ich die Tochter meines Fürsten hätte ausliefern wollen, würde ich deutlich mehr nehmen“
„Das halbe Fürstentum hat meinen Vater verraten und die andere Hälfte wartet ab, was geschieht“, erklärte Mechan, während sie wie er auf den Kampf hinuntersah. „Er hat nicht damit gerechnet, dass jemand auch nur einen Finger für mich rührt.“
„Aber jetzt bin ich hier und Ihr seid hier und das ändert alles.“ Nochrehm hatte schon immer die Fähigkeit besessen mit wenigen Worten das Wesentliche auszudrücken.
Doch auf einmal schien etwas seinen Blick abzulenken und er fluchte auf. „Was tut dieser Narr denn da!“
Mechan entdeckte sofort, was er meinte: Tavirehm hatte sich einen Säbel erobert und war einem jungen Soldaten zur Hilfe geeilt, der sich mit Lareg duelliert hatte. Nun kämpften beide gemeinsam gegen den Grafen.
Zuvor hatten Nochrehms Worte über seinen Sohn gleichgültig geklungen, aber nun verdunkelte die Sorge sein Gesicht und zeigte deutlich, wie viel ihm sein Ältester bedeutete.
Ohne zu zögern, trieb er sein Tier an und zog seine Klinge. Mechan verblieb mit ihrem Vetter auf dem Hügel und beobachtete den Kampf.
In diesem Moment geschah es. Lareg bohrte seinen Säbel in das Gesicht des Soldaten, der aufschrie und auf dem Pferderücken in sich zusammensank. Ein zorniger Schrei entkam Tavirehms Mund und er führte die Klinge mit einer Wucht, der Lareg nicht standhalten konnte. Nun war es seine Klinge, die davon geschleudert wurde und außerhalb der Reichweite des Grafen auf dem Boden auftraf. Nur begnügte Tavirehm sich nicht damit, den Grafen zu entwaffnen, sondern hob seine Klinge dennoch zum Angriff. Die Klinge durchschnitt die Luft. Der Graf versuchte sich noch zu ducken, doch entkam er Tavirehms Zorn nicht. Blut spritzte auf, als der Stahl sein Ziel traf und durch weiches Fleisch schnitt. Lareg sah zu Mechan und ein letztes Mal begegnete sich ihr Blick, dann rutschte er aus dem Sattel und traf auf dem Boden auf. Sein reiterloses Pferd schnaubte und begann etwas abseits zu grasen. Ob es wohl mit Mehiru und Tikwar verwandt war? Tatsächlich meinte sie eine gewisse Ähnlichkeit zu erkennen.
Danach ging es schnell. Einige Männer leisteten weiterhin Widerstand, doch waren sie in der Unterzahl und wer seine Waffen nicht zu Boden legte, wurde niedergemacht. Die Überlebenden neun Krieger mussten ihre Waffen aushändigen und wurden gefesselt.
Als die Gefahr vorüber war, ritt auch Mechan hinab und betrachtete die Folgen des Kampfes, der ihretwillen gefochten worden war.
Es war kein schöner Anblick. Die Dichter vermochten es dem Tod ein Gewand aus schönen Worten zu verpassen, aber das hier war die ungeschminkte, grausame Wahrheit. Mechan hatte Tote gesehen, hingerichtete Verbrecher, Opfer von Krankheiten und auch zwei Männer, die bei einem Zweikampf zu Tode gekommen waren. Doch das war etwas völlig anderes.
Ein Mann streckte den Rettern seine blutverschmierten Hände entgegen, doch als sie es vermocht hatten, den Pferdeleichnam von seinem Unterkörper zu bewegen, waren seine Beine zermalmt. Der junge Ritter daneben versuchte verzweifelt, sich die Gedärme wieder in den Bauchraum zu stopfen, bevor er es aufgab und zu heulen begann. Das schrille Wiehern eines Pferdes erfüllte die Luft, ungleich schlimmer als jeder Schrei eines Menschen. Die Hinterbeine der hübschen Rappstute waren gebrochen, dennoch versuchte sie sich verzweifelt aufzurichten und drohte dabei, umliegende Verletzte zu treten und unter sich zu begraben. Es war Ferenub, einer von Mechans Eunuchen, der dem Tier die Kehle durchschnitt und es erlöste.
Dann trat er mit ernster Miene auf Mechan zu. Ferenub war ein noch junger Mann, doch jetzt zierte ein dunkler Schatten des Schmerzes und der Sorge sein blutverschmiertes Gesicht. Den blutigen Säbel noch immer in der Hand neigte er den Kopf.
„Verluste?“, fragte sie. Obwohl sie wusste, dass sie stark sein musste, fürchtete sie die Antwort.
Ferenub nickte.
Sie stiegen über Leichen und Verwundete hinweg und sie erblickte die Leichen der Männer, die gefallen waren, um ihre Freiheit zu verteidigen. Allkidub, Jorsarubs Bruder, lag Seite an Seite mit einem von Nochrehms Männern. Ein Speer hatte sein Auge durchbohrt und nagelte ihn am Boden fest. Das andere blickte, ohne etwas zu sehen, in die Ferne. Ohne zu zögern, kniete Mechan nieder. Schon immer hatte sie es als machtvoll empfunden, Dinge zu berühren. Als sie jetzt die Hand auf Allkidubs blutige Stirn legte, um sein Auge zu schließen, verstand sie, warum Lareg so gehandelt hatte. Doch sie wusste ebenso, dass sie niemals so wie er handeln würde. Sie war nicht bereit, ihre Prinzipien aufzugeben. Durch Wahrheit zu Ehre. Der Wahlspruch ihrer Familie. Auch die blutigen Muster, die Allkidub zierten, waren eine Wahrheit. Jene Wahrheit, dass er gestorben war, damit Mechan ihren Weg gehen konnte.
Sie empfand weder Hass noch Zorn auf Lareg, als sie wenig später den Leichnam des Grafen betrachtete. Im Tod hatte sein Gesicht einen langmütigen, fast schönen Ausdruck angenommen, der sich von dem der Männer herum unterschied. Sie hoffte, dass er seinen Frieden gefunden hatte und von den Göttern in ihren Hallen aufgenommen worden war. Ohne es geplant oder zuvor darüber nachgedacht zu haben, kniete sie erneut nieder. Sie störte sich nicht an Blut und Dreck, das ihre Kleidung beschmutzte. Mit einer langsamen, andächtigen Bewegung schloss sie seine Augen.
Dann erhob sie sich wieder und blieb für einen Moment stehen. Noch nie hatte sie die Last der Verantwortung so deutlich gespürt wie in diesem Moment.
Nicht weit von ihm entfernt war Liub. Er saß halb gegen den Kadaver eines Pferdes gelehnt, die Arme ausgebreitet, der Kopf zurückgesunken, den Mund weit genug geöffnet, so dass man seine schlechten Zähne sah. Sein Kettenhemd war zerrissen und wo der Speer, der ihm das Leben gekostet hatte, eingedrungen war, befand sich ein großes Loch.
Auch bei ihm kniete sie nieder und schloss die Augen. Tiefe Trauer erfasste sie. Liub war mehr gewesen als nur eine Leibwache. Er war der Ratgeber und die Stütze gewesen, auf die Mechan sich immer hatte verlassen können. Nun war er tot.
Mit einem tiefen Seufzer erhob sie sich. Eandelaths rotes Licht spiegelte sich Dutzendfach von den Helmen und Panzern gefallener Krieger und ließ die Gesichter der Gefallenen erleuchten.
Sie nahm wahr, wie die überlebenden Männer ihrer Eunuchen-Wache sie ebenso musterten wie Nochrehms Soldaten. Ohne ein Wort zu sagen, trat sie durch die Reihen der Überlebenden, die ihre Waffen erhoben hatten, um den Toten ihren Respekt zu zollen.
Der Streit, den Nochrehm und Tavirehm zuvor lautstark geführt hatten, verstummte, als die beiden sie erblickten. Nochrehm wandte sich ihr zu und blickte sie an.
„Wohin?“, fragte er. Es war dieselbe Frage, die Liub ihr zuvor so oft gestellt hatte. Damals war es nicht die Zeit gewesen, sie zu beantworten, aber jetzt war sie es.
„Tavenad“, entgegnete sie.
Ein anerkennendes Lächeln, das sie kaum wahrnahm, schmückte Nochrehms Gesicht. Er nickte.
„Zu den Seekönigen also. Ich bin mir sicher, dass Zeruja eine mächtige Verbündete ist.“ Sie war ihm dankbar, dass er keine weiteren Fragen nach der Begründung ihrer Entscheidung stellte. Ebenso wenig versuchte er sie über die Risiken aufzuklären, denn er wusste, dass sie sich darüber voll bewusst war. Mechan war schon mehrmals in der Hafenstadt an der Ostgrenze Asinats gewesen, die nach immer mehr Unabhängigkeit strebte. Sie war ebenso ein Umschlagplatz für Waren, die über das Meer zu den Inseln oder zu anderen Hafenstädten an der Küste gehandelt worden, wie für Waren, die über den Landweg an der Küste transportiert worden. Das hatte die Stadt mächtig und provokant gegenüber ihrem Fürsten werden lassen, so dass ihr Vater erst vor wenigen Lichttagen Strafzölle auf alles, was aus Tavenad kam, beschlossen hatte. Sicherlich wären die Bewohner nicht allzu erpicht darauf, die Tochter ihres Fürsten bei sich zu beherbergen. Die Konsequenz darauf war eine Vorsicht ihrerseits. Doch Tavenad war die schnellste und auffälligste Möglichkeit, ein Schiff zu finden, dass die Seekönige ansteuerte. Und in der Fürstin Zeruja, da war sie sich sicher, würde sie eine Verbündete gegen die Willkür Anasahs finden.
„Mit Verlaub“, begann er, „Ich würde warten und zunächst Zuflucht an einem anderen Ort suchen“
Sie war ungeduldig und wollte seinen Vorschlag nicht hören, doch konnte sie es sich nicht leisten, ihren einzigen Verbündeten zu verprellen. Sie nickte.
„Die Seekönige haben in jüngerer Zeit ihre Handelsbeziehungen unterbrochen. Ich weiß es nicht sicher, doch könnte ich mir vorstellen, dass es auch Begrenzungen für sonstigen Zivilverkehr gibt. Und es wäre fatal, wenn wir in Tavenad festsitzen.“
Sie bemerkte sehr wohl, dass er „wir“ sagte und lächelte zufrieden. Egal wie sie sich entschied – ihr Oheim würde auf ihrer Seite stehen.
„Es ist ein guter Punkt“, gab sie zu, „Doch haben wir keine Gewährleistung, dass der Verkehr in Zukunft wieder zunimmt – eher im Gegenteil.“
„Stimmt.“ Nochrehm nickte. „Aber je später wir in Tavenad auftauchen, desto weniger wird man mit uns rechnen. Jetzt wird Anasah noch ganz Asinat durchsuchen lassen, aber je mehr Zeit verstreicht, desto eher wird sie denken, dass wir die Grenzen überschritten haben. Außerdem gibt es ebenso wenig eine Gewähr dafür, dass Zeruja Euch überhaupt empfängt. Genauso gut könnte sie dich ausliefern. Auch lebt sie auf einer Insel, was wenig Fluchtmöglichkeiten bedeutet. Voreilig, getroffene Entscheidungen wären fatal.“
„Also gut. Was schlagt Ihr vor?“
Sie nahm seinen musternden Blick wahr und straffte sich automatisch.
„Ich kenne eine verlassene Feste in den Bergen, die schwer zugänglich ist und kaum jemand kennt. Die Menschen der umliegenden Dörfer nennen sie verflucht, so dass sich niemand dorthin wagt.“
Mechan ließ den Blick über den Kampfplatz bis zu den Bergen schweifen. Sie dachte an Liub und ihren Vater und daran, was sie ihr geraten hätten.
Sie nickte.