Nicht immer bringt Fortschritt schnell zu sehende Erfolge mit sich.
- Sprichwort aus Lizarat -
Hochtempel der Eandelath, Gemächer der Hohepriesterin Mirvuh,
Dritter Hicurathstag des sechsten Lichtags des elften Schattentages des Eraz, MAE
Auf einmal lag das Buch „Die Bedeutung der Vorstellungskraft für die Sprache. Überlegungen zur Wissenschaft der Semiotik“ auf der Abschrift eines Gedichts, die Shiot soeben angefertigt hatte. Sie blickte auf und sah Mirvuh, deren Gestalt die Öllampe an der Wand verdeckte und deren Schatten so viel größer war, als die wirkliche Frau, deren Augen zornig funkelten. Es war das erste Mal, das Shiot Mirvuh zornig erlebte und das erschreckte sie mehr, als sie gedacht hätte.
„Ich möchte nicht“, begann die Hohepriesterin, „dass du in die Hauptbibliothek gehst und dort Bücher ausleihst. Du kannst dort arbeiten und lesen, in unserer Bibliothek Bücher ausleihen, die du benötigt, oder in meiner Bibliothek stöbern, aber es werden keine Bücher aus der Hauptbibliothek entnommen. Hast du mich verstanden?“ Sie sprach leise, doch das nahm diesen Worten nichts von ihrer Schärfe.
„Ja“ Shiot nickte, blickte auf das Buch vor ihr und fragte sich, was soeben geschah. Hatte Mirvuh, die sich doch immer für Wissensfreiheit einsetzte, ihr gerade unterbunden, in der Bibliothek nachzuforschen und ihren Wissensstand zu erweitern? Wobei, wirklich unterbunden hatte sie es ihr ja nicht, sondern nur verboten, Bücher auszuleihen. Aber weshalb?
„Ich…“, begann sie, doch brach sogleich wieder ab.
Überrascht bemerkte sie, dass die Hohepriesterin ihre knochige Hand auf ihre Schulter legte.
„Es ist mir wichtig, Shiot, und ich möchte, dass du verstehst, dass Wissen eine Waffe ist und es Menschen gibt, die nicht zögern werden, diese auch einzusetzen. Ich weiß, dass du es nicht böse gemeint hast, sondern dich nur weiterbilden wolltest und deine Nachforschungen zu meinen Forschungsgebieten ehren dich, doch du bist meine Schülerin und alles was du tust, wird man auf mich zurückführen. Deshalb bitte ich dich, dass du vorsichtig bist und aufpasst, welche Wahrheiten du aussprichst und verrätst. Jetzt mag es dir nur wie eine Kleinigkeit erscheinen und noch ist es das vielleicht auch, aber eines Tages kann es zu einem Fallstrick werden, der mich und dich hinabzieht.“ Ihre Stimme hatte nicht an Schärfe verloren, doch war eine Sanftmut dazugekommen, die Shiot erkennen ließ, dass sich die Hohepriesterin wirklich um sie sorgte.
„Alles in Ordnung?“, fragte Mirvuh, während sie ihre Hand wegnahm.
„Ja.“ Erneut nickte Shiot und bemühte sich um ein Lächeln, das sicherlich nicht sonderlich überzeugend aussah.
Die alte Frau blickte sie forschend an, doch schließlich wandte sie sich ab und verließ den Raum.
Nachdenklich starrte Shiot das Buch an, das vor ihr lag. Ihre Finger strichen über die goldenen Ranken, die sich um den Titel schlangen und sich von dem hellblauen Leder abhoben. Sie waren ungleich feiner, als alles, was sie hätte fertig stellen können, auch wenn sie sich eine Zeit lang mit der Kunst ein Buch zu binden, auseinandergesetzt hatte.
Mirvuh schien es nicht um das Wissen zu gehen, das zwischen diesen Deckeln verborgen lag, sondern allein um die Tatsache, dass sie es aus der Bibliothek ausgeliehen hatte. Aber weshalb? Weshalb sollten die Bücher, die sie ausgeliehen hatte, die Hohepriesterin in irgendeiner Weise gefährden? Sie standen in der Bibliothek, waren keinesfalls blasphemisch oder verboten, sondern jedem Priester zugängig. Übertrieb Mirvuh mit ihrer Angst? Shiot vermochte es nicht, das einzuschätzen.
Mit einem Seufzen hob sie das Buch hoch und legte es auf den Bücherstapel, der sich bereits neben ihr auftürmte. Erleichtert stellte sie fest, dass die Tinte ihrer Gedichtabschrift nur geringfügig am Rand verwischt war, was sie leicht mit Mustern überdecken konnte. Shiot hatte den Text in einem Buch von Mirvuh gefunden und das Gedicht hatte ihr so gut gefallen, dass sie kurzerhand eine Abschrift angefertigt hatte. Normalerweise war sie keine Freundin von Gedichten zur Ehren Eandelaths, da ihr Schreibstil zumeist übertrieben schwülstig war und mehr auf die äußere Form als auf den Inhalt geachtet wurde. Doch die sprachlichen Bilder und vielen Vergleiche, die der Dichter hier verwendete, hatten sie sogleich angesprochen. Vielleicht, weil der Schreiber aus Kantigark kam und er einige Personen und Gebäude des öffentlichen Lebens in sein Werk mit eingewoben hatte.
Eine leise Glocke ertönte und verriet der jungen Frau, dass Mirvuh nach ihrem Mittagessen verlangte. Rasch räumte sie die Sachen beiseite und verließ den Raum.
Die Gemächer der Hohepriesterin umfassten auch eine kleine Küche. Um von dem Arbeitszimmer, das Shiot nutzte, zu ihr zu gelangen musste sie nur durch den Meeresflur, wie er genannt wurde, weil die blauen Vorhänge mit denen die Wände verkleidet waren, den Eindruck von sich bewegenden Wellen vermittelten, in den Flur der Düfte wechseln, der sich im nördlichen Teil von Mirvuhs Räumen befand. Hier waren neben der Küche auch Vorrats- und Stauräume untergebracht.
Sie mochte die Gerüche, die ihr entgegenkamen, als sie den schweren Vorhang beiseite schob, der Küche und Flur trennte. Schweiß, Fett, Gewürze und der süße Duft von verschiedensten Früchten mischten sich in der Luft zu einem undefinierbaren Geruch, der doch Leben zeigte. Manchmal, wenn ihr die Flure oder Zimmer zu ausgestorben vorkamen, kam sie hierher und setzte sich still in eine Ecke, um den Klang von Lachen und Gesprächen zu vernehmen. Selbstverständlich waren alle, die hier arbeiteten, Priesterinnen der Eandelath oder welche, die auf den Weg dahin waren. Es waren nicht eben viele, was aber aufgrund der Tatsache, dass nur zehn Personen Mirvuhs festem Haushalt angehörten, kaum verwunderlich war. Anijat stand an einem Tisch und hantierte mit Gewürzen über einem Topf, während Lajovit Obst zerschnitt und es auf einem Brotfladen anrichtete.
Shiot nahm sich ein Tablett, das aus einer mit besticktem Stoff umwickelter Holzplatte bestand und legte es auf den Tisch, damit die beiden Frauen Teller und Schüsseln darauf stellen konnten.
„Shiot, magst du das Wasser der Hohepriesterin holen?“, bat die Köchin Anijat, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.
Die Priesterin nickte, nahm sich einen Wasserschlauch und machte sich auf den Weg in die benachbarte Vorratskammer, wo das Quellwasser, das Mirvuh so sehr liebte, in einem Steintrog aufbewahrt wurde. In dem Raum herrschte eine angenehme Kühle und Shiot genoss diese, während sie das Wasser abschöpfte.
Als sie zurückkam, war das Mahl der Hohepriesterin angerichtet. Lajovit nahm ihr das Wasser ab und goss es mit etwas Zitrone in einen Kelch, den sie ebenfalls auf das Tablett stellte.
„Hier“ Anijat reichte ihr das Tablett und kehrte dann zu ihrer Arbeit zurück.
Ihre Gehilfin hielt Shiot den Vorhang auf, was diese mit einem dankbaren Lächeln quittierte. Dieses Mal bog sie nicht in den Meeresflur ab, sondern ging geradeaus, bis der Flur der Düfte auf den roten Flur mündete. Sie öffnete die Zwischentür und schob sich hindurch, bevor die Tür wieder zufallen konnte. Auf der rechten Seite befanden sich die Zimmer der Mitglieder von Mirvuhs Haushalt, während sich auf der linken Seite an die kleine Bibliothek der grüne Saal anschloss, in den Shiot jetzt trat. Durch das Loch in der Mitte der Decke fiel natürliches Licht, es handelte sich hierbei um jenes Loch, das sich in der Mitte des Tempelgartens erstreckte. Auch im Boden war ein Loch, durch das man in die nächste Etage sehen konnte und das setzte sich durch die gesamte Tempelpyramide fort. Zur Sicherheit war das Loch von einem geschmiedeten Gitter umgeben, um das man Blumenbeete gepflanzt hatte. Natürlich konnte der grüne Saal nicht mit der Schönheit der Tempelgärten mithalten, doch war es ein Ort, an dem Shiot zur Ruhe kommen konnte und den sie wegen der Pflanzen mochte.
Auch Mirvuh erging es so und häufig fand man die Hohepriesterin hier lesend und arbeitend vor wie auch jetzt.
Als sie ihre Schülerin erblickte, legte sie das Buch beiseite, in dem sie eben geblättert hatte und deutete mit einer Handbewegung auf den Teppich: „Stell das Essen hierhin und setzt dich dann zu mir“
Shiot tat, was ihr aufgetragen worden war und setzte sich der älteren Frau gegenüber. Diese beachtete ihr Essen nicht im Geringsten, sondern blickte nur Shiot an.
„Du hast Fragen“, erklärte sie schließlich und wartete.
„Ja“, erwiderte die junge Priesterin schließlich, während ihre Finger über den Teppich tanzten.
„Tarvet-Sul meinte, dass ihr heute die Gerichtsunterlagen der diesigen Woche durchgegangen seid.“
Stumm nickte Shiot. Tarvet-Sul, die Mirvuhs Haushalt vorstand, verbrachte ebenfalls Zeit mir ihr, lehrte sie Dinge, die sie für die Hohepriesterin erledigen musste und brachte ihr insbesondere die Verwaltungsstruktur des Tempels näher. Heute hatten sie die Unterlagen des Hohen Gerichts durchgelesen und zusammengefasst, was für Mirvuh von Interesse sein konnte.
„Ich habe mich gefragt“, begann sie schließlich, „warum du den Vorsitz des Hohen Gerichts, der dir zusteht, seit längerer Zeit nicht mehr übernimmst, sondern das Amt ablehnst. Einige Fälle sind für dich und deine Richtlinien von großer Bedeutung, denn sie könnten deine Position untermauern.“
Die Hohepriesterin schenkte ihr einen aufmerksamen Blick. „Das ist eine sehr gute Frage, Shiot. Lass sie mich mit einer weiteren fortführen.“ Für einen Moment stockte sie, als warte sie, bis sich ihre Schülerin vollends auf ihre Worte konzentrieren konnte, dann fuhr sie fort: „Kannst du mir sagen, seit wann genau ich den Vorsitz nicht mehr übernehme?“
Shiot strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und blickte auf die Steinblüter, die an den Wänden gepflanzt worden waren. Ein warmes, sanftes Licht ging von ihnen aus.
„Seitdem Anasah und Eraz den Tempel verlassen haben“, entgegnete sie.
„Die Hohepriesterin der Oandath und der Hohepriester die Viandav“, korrigierte Mirvuh sanft.
Überrascht blickte Shiot sie an. Bisher hatte ihre Lehrerin mit wenig Liebe von den beiden Weggezogenen gesprochen, dass sie Shiot untersagte, ihre Namen zu nutzen, erstaunte sie nun.
Mirvuh schien ihre Überraschung zu bemerken „Ich mag nicht mit ihren Handlungen und Denkweisen übereinstimmen, aber bedeutet dies nicht, dass ich ihnen keine Ehre erweisen kann.“
„Ehre?“, murmelte Shiot leise, nicht wirklich verstehend, wieso die andere dies tat. Doch ließ sie es darauf beruhen.
Auch das bemerkte die Hohepriesterin und ging nicht weiter darauf ein, stattdessen gab sie eine Antwort auf ihre ursprüngliche Frage: „Ich bestehe nicht auf mein Recht, den Vorsitz zu führen und somit Einfluss auf ihre Entscheidung zu nehmen, weil eine Zeit kommen wird, wo es entscheidend ist, dass ich den Vorsitz auf jeden Fall einnehme. Um dies zu gewährleisten, verzichte ich, bis diese Zeit gekommen ist, auf den Vorsitz“
„Meinst du den Feldzug?“, fragte Shiot zögernd und wagte sich damit vorsichtig auf ein Terrain vor, das sie zuvor noch nicht betreten hatte. Dementsprechend kannte sie auch die Grenzen nicht.
„Den Feldzug“, stimmte Mirvuh zu.
„Aber wenn dir dieser Feldzug sosehr missfällt, warum bist du dann nicht mit ihnen gezogen, um Gerechtigkeit auszuüben und sie zur Vernunft zu bringen?“
Die Hohepriesterin hob ihre linke Hand und betrachtete scheinbar in Gedanken versunken einen einzigen Ring, den sie an der linken Hand am zweiten Finger von links trug. Schon zuvor war Shiot die feine Inschrift aufgefallen, die in das Silber eingraviert worden war, doch schien er der Älteren viel zu bedeuten. Selbst ihren Siegelring trug sie an einem Band um den Hals.
„Hat Tarvet-Sul dir meine Sammlung der offiziellen Erklärungen und meinen Briefverkehr zum Feldzug gezeigt?“, fragte sie, den Blick immer noch an das Silber verloren.
„Ja“, antwortete sie.
„Dann lege mir deine Vermutungen dar.“ Mirvuh lehnte sich an die Wand zurück und schloss die Augen. Steinblüter umkränzten ihr Gesicht und auch wenn spitze Dornen die Früchte vor gierigen Händen schützten, störte sie sich nicht daran. Ihr Gesicht glänzte gelb, orange und rot.
„Ich würde sagen, dass du nicht mitgereist bist, weil die Mission von Anfang an als Feldzug deklariert und benannt worden ist. Die Wortwahl, mit dem Eraz den Beschluss verkündete, ließ erkennen, dass eine friedliche oder diplomatische Mission nicht in Erwägung gezogen wurde“ Sie stockte und blickte Mirvuh an. „Da du der Intention des Feldzuges nicht zustimmt, konntest du nicht mitkommen, weil du damit mit den Grundsätzen hättest übereinstimmen müssen.“
Die Dienerin Eandelaths nickte: „Natürlich sind dennoch Priesterinnen unserer Göttin auf dem Feldzeug dabei, als neutrale Beraterinnen und Beobachterinnen, und durch Spione ist gewährleistet, dass Informationen zu mir gelangen, doch habe ich weitaus weniger Einfluss auf den Verlauf des Feldzuges, als ich gerne hätte“
„Aber was tust du?“, platzte es aus ihr heraus. Erschrocken blickte sie ihre Herrin an, doch diese schien ihr dies nicht im Geringsten übel zu nehmen, sondern schenkte ihr ein nachgiebiges Lächeln.
„Ich beobachte, ich plane, ich weiche die Strukturen des Tempels auf, jetzt, wo Anasah längere Zeit fort ist und ich bilde dich aus.“
„Mich? Aber Anasah hat doch keinen Einfluss auf den Eandelath-Tempel und meine Ausbildung?“ Verunsichert sah sie zu Boden.
„Natürlich hat sie Einfluss auf den Eandelath-Tempel, bedeutende Persönlichkeiten haben immer Einfluss. Und ihre Bedeutung kann niemand Anasah abstreiten. Jetzt kann ich dich viel ungestörter ausbilden und habe mehr Zeit, als ich es tun könnte, wenn sie da wäre.“ Natürlich stimmte all dies, doch blieb dieses bohrende Gefühl, diese nervige Stimme im Hinterkopf, die sagte, dass dies noch nicht alles, nicht der einzige Grund sein konnte.
„Aber warum zeigst du mir denn nicht, woran du arbeitest und bringst mir nur unnütze Sachen bei?“ Erneut platzte es aus ihr heraus, ohne, dass sie erklären könnte, woher dieser plötzliche Zorn kam.
Mirvuh blieb ganz ruhig und hob nur die Augenbrauen. „Alles ist wichtig.“
„Aber du hast mir gesagt, dass ich deine Partnerin sein soll, dass du mich an deine Seite nimmst und mich lehrst, was dich bewegt und was du forscht, doch bisher…Ich sehe den Sinn einfach nicht, verstehe das Ziel nicht, habe keine Vision darüber, wo ich hingehen soll.“ Ja, was wollte sie eigentlich? Jahrelang hatte sie von ihrer Heimkehr nach Kantigark geträumt, hatte all ihre Sehnsucht auf dieses ferne Ziel gerichtet, doch hatte sie diesen Wunsch am Bett der fiebernden Hohepriesterin abgelegt. Und nun? Was war nun ihr Ziel? Mirvuh zu dienen?
Erneut lag der Arm der alten Frau auf ihrer Schulter. Nun sah Mirvuh nicht länger auf ihren Ring, sondern fokussierte ihren Blick nur auf ihre Schülerin. Sie lächelte sanft. „Verzeih mir, manchmal vergisst das Alter, wie langsam die Zeit in der Jugend vergehen kann. Ich muss dir noch einige Grundlagen und Techniken des korrekten wissenschaftlichen Arbeitens zeigen, doch dann, das verspreche ich dir, werde ich dich in meine Forschung mit hinein nehmen.“ Ihr Blick war ernst. „Doch zuvor möchte ich, dass du aufmerksam zuhörst, wenn ich dir etwas erzähle und die Aufgaben erfüllst, die ich oder Tarvet-Sul dir aufgeben. Wer leiten will, muss zuerst verstehen, was Demut heißt.“
Shiot nickte. „Ich werde mein Bestes geben.“
Mirvuh neigte den Kopf. „Allerdings, das wirst du.“
Mit einer Handbewegung erlaubte sie ihr, sich zu entfernen. Und Shiot stand auf und ging, um ihre Aufgaben zu erledigen, die ihr nun deutlich leichter von der Hand gingen.