„Das ist doch Wucher!“ Zornig hieb Melram gegen eine Hauswand. Für einen Moment gab ihm der Schmerz, der durch seine Finger schoss, grimmige Genugtuung. Der Händler sah ihn ungerührt an.
„Das ist mein Preis, Junge. Du musst damit klarkommen, dass dein Mädchen kalte Füße kriegt. Mir kann es egal sein.“ Schon wandte er sich dem nächsten Kunden zu, der an seinen Stand getreten war und pries ihn mit einer von süßem Gift triefenden Zunge seine Ware an.
Es war Sural, die eben noch hinter ihm gestanden hatte und ihm jetzt die Hand auf den Arm legte.
„Es ist schon in Ordnung. Ich bin sicher, dass wir etwas anderes finden.“
„Genau!“, mischte sich der dicke Händler ein, „Hör auf das Mädchen.“
„Melram…“ Sie spürte seine Anspannung und Wut und sprang zurück, als er sich ruckartig zu ihr umdrehte.
„Du schweigst, wenn die Männer sich unterhalten“, befahl er.
Seine Schwester senkte den Kopf, ihre Schultern sanken herab und sie nickte.
Er spürte das Lächeln des Mannes in seinem Rücken, denn hatte ein Mann, der eine ihm unterstehende Frau in der Öffentlichkeit zurechtweisen musste, sein Gesicht und damit seine Verhandlungsbasis verloren.
„Wir haben nichts mehr zu bereden“, erklärte Melram kühl und wandte sich von dem Mann ab. Seine Schwester folgte ihm, still und schweigend. Erst, als sie außer Sichtweite waren, wandte er sich zu ihr um.
Ihr Gesicht war verschlossen, jedes Anzeichen eines Lächelns verloren. Von unten blickte sie zu ihm herauf, sah ihn zwar an, doch zugleich wieder nicht, sondern etwas anderes, als würde noch jemand hinter ihm stehen. Doch hinter ihm war niemand.
„Ich möchte nicht, dass du mir in der Öffentlichkeit widersprichst oder Ratschläge erteilst“, erklärte er leise und bemühte sich, seiner Stimme einen freundlichen Klang zu geben, „Das untergräbt meine Autorität und damit auch die Rolle und den Einfluss meiner Familie.“
„Es ist auch meine Familie“, entgegnete sie leise.
„Natürlich.“ War es sein Vater, den sie in ihm sah und vor dem sie zurückschreckte? War er wie sein Vater? Er hob die Hand, als wolle er ihr übers Haar streichen, doch dann ließ er sie wieder sinken. „Und glaube mir, dass ich euch nur schützen will. Dich, Mutter, Hisiam, Tivunam, Niram und Sinal“ Er ballte die Hand zur Faust. „Ich bin für euch verantwortlich und werde euch beschützen“
Dieses Mal wagte seine Schwester es nicht, ihm die Hand auf den Arm zu legen. Doch in ihrer Stimme war all die Liebe, die sie nicht in Berührung ausdrücken konnte. „Und das hast du immer getan mit all dem, was du zu tun vermochtest.“
„Nicht genug“ Seine Stimme war leise geworden und noch während sich ihm die Bilder aufdrängten, erblickte er einen Freund: Lubiam, Ankrams Enkel und Reiter der Stute Aevra.
Mit einer Handbewegung bedeutete Melram seiner Schwester, abseits zu warten, bevor er auf den Freund zutrat, der soeben aus einer benachbarten Gasse kam.
Dieser begrüßte ihn freundlich, auch wenn er mit den Gedanken woanders zu sein schien. Nur war Melram nicht bereit, darauf Rücksicht zu nehmen, sondern begann gleich mit dem, was er mit Lubiam besprechen wollte.
„Kann ich dich etwas fragen?“ Nervös blickte Melram den älteren Mann an.
„Natürlich.“ Lubiam verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn. „Was ist los?“
„Hisiam…er möchte Binal ehelichen“, brachte er schließlich hervor.
Sein Gesprächspartner gab mit keiner Rührung zu erkennen, was er von dieser Verbindung hielt.
„Und ich…ich wollte dich fragen, wie viel du…“ Normalerweise würde ein junger Mann in solch einem Fall zu den Mitgliedern seiner Großfamilie gehen, mit Vettern und entfernten Oheims sprechen, aber Melram war ein Ausgestoßener, dem diese Möglichkeit verwehrt blieb. Ankram, und damit auch sein Enkel, war das nächste an Verwandtschaft, was er hatte.
„Wie viel du für deine Ehefrau bezahlt hast? Die Auszahlung hast du doch nicht getätigt, oder?“, fragte er. Er kannte Lubiams junge Frau nur flüchtig. Sie war eine jener Merkwürdigkeiten, die die Arbeiterviertel manchmal hervorbrachten. Plötzlich, ohne dass jemand ihre Herkunft kannte, war sie da gewesen, edler und höhergestellter, als jeder von ihnen jemals sein würde. Doch hatte sie sich rasch angepasst, ihre bürgerliche Herkunft scheinbar vergessen und war mittlerweile so akzeptiert, dass niemand mehr über ihr Auftauchen sprach. Vor zwei Schattentagen hatte Lubiam sie zur Frau genommen. Dass er sie dabei bei ihrem Vater eingelöst und dessen Preis bezahlt hatte, war unwahrscheinlich.
„Nein, ich habe sie nicht bei ihrem Vater ausgezahlt, doch habe ich stattdessen ihr Brautgeld erhöht.“ Melram nickte. Das Brautgeld erhielt eine junge Ehefrau, damit sie beim Tod oder Trennung von ihrem Gatten vorerst selbst leben konnte. Üblicherweise wurde es in Schmuck bezahlt, welche Frauen am Körper tragen konnten. Da es vorkam, dass sie von einem Tag auf den nächsten von ihrem Ehemann verlassen wurde oder nach seinem Tod sein Haus nicht wieder betreten durfte, war dies lebensnotwendig. Für Binal würde er auch das bezahlen müssen.
„Wie viel?“
Lubiam nannte ihm die Summe und obwohl dieser genau wie er der Arbeiterschicht entstammte, wusste Melram schon jetzt, dass er dies nie würde erübrigen können.
„Danke dir.“
Der Freund legte ihm die Hand auf die Schulter, während er zugleich den Kopf neigte. War es Mitleid, das er damit ausdrückte? Melram wusste es nicht und eigentlich wollte er es auch nicht wissen.
„Du trifft dich mit Hiratja, nicht wahr?“, wechselte Aevras Reiter das Thema.
„Richtig“, entgegnete er mit einem kaum merkbaren Zögern, während er zugleich Sural winkte, dass sie sich nähern durfte.
„Ist es in Ordnung, wenn ich mitkomme?“
„Natürlich“, meinte Melram, auch wenn das eine Lüge war. Er wollte den Freund nicht mit einer solchen Kleinigkeit verärgerte.
Ohne ein Wort zu sprechen, gingen sie weiter. Lubiam schien in Gedanken versunken zu sein und machte keinerlei Anstalten, ein Gespräch zu beginnen. Und Sural…Noch immer schwebte ein Schatten des Konfliktes von eben zwischen ihnen. Melram war nicht bereit, sie darauf anzusprechen, zu sehr beschäftigten ihn Binal und ihr Preis. Und Sural schwieg ebenfalls, vielleicht war sie beleidigt, vielleicht auch einfach nur nachdenklich, ihr Bruder wusste es nicht.
Doch all der Zwist war vergessen, als sie in einer belebten Gasse plötzlich Hufgetrappel hörten. Während noch die Macht-Platz-Rufe ertönten, zog er Sural beiseite und schob sich vor einer Hauswand schützend vor sie. Sein Freund war an der anderen Seite und der Schatten der großen Gestalt am Rande seines Blickfeldes wirkte beruhigend auf Melram ein. Andere Menschen taten es ihnen gleich, denn sie alle wussten, wie unbarmherzig ungeduldige und zornige Herren sein konnten.
Drei Reiter bahnten sich ihren Weg durch die Menge, angeführt wurden sie von einem jungen Mann, der trotz seiner Leibesfülle erstaunlich gut aussehend war. Zwei Soldaten folgten ihm.
Melram senkte den Blick. Es mochte ihm missfallen, doch stand ihm nicht der Sinn nach Schlägen oder einer Gefängnisstrafe. Er würde nie denselben Fehler wie sein Vater machen, das hatte er sich geschworen.
Staub wurde aufgewirbelt, als die Reiter durch die Gasse ritten, doch dann hielt der vorderste Mann an.
„Du da!“, rief er, „wie viel kostet dieses Mädchen?“ Der Mann sprach respektlos und Melram bedauerte das Mädchen, das Bett und Leben mit diesem Mann teilen musste.
Es war Surals Keuchen, das ihn aufsehen ließ. Sural war kein Mädchen, das Angst in schrillen Schreien und Tränen ausdrückte, wie es die Reichen taten, doch das Keuchen seiner Schwester verströmte Furcht.
Erst jetzt verstand er, dass der Mann ihn meinte. Im gleichen Moment stieg Zorn in ihm auf. Er wollte Sural hinter sich schieben, ihre schmale Gestalt verbergen und zugleich dem Bürger entgegentreten, der so respektlos zu ihm und dadurch auch zu ihr sprach.
Nervös warf er einen Blick zu dem Herrn, befeuchtete seine Lippen, dann erklärte er unter einer Verbeugung: „Edler Herr. Es tut mir Leid, Euch meine Schwester nicht anbieten zu können, doch ist sie noch nicht mit dem Zeichen Lorisaths geschmückt worden und dementsprechend noch nicht zu veräußern. Euch, ein Mädchen, das noch keine Kinder schenken kann, zu geben, würde meiner Familie Schande bringen.“
Der Mann riss sein Pferd herum. Das schwarze Fell war schweißnass und der Duft von Schweiß umhüllte Melram.
„Nun gut. Aber ich werde nach deiner Schwester fragen, wenn die Zeit gekommen ist und sei dir gewiss, dass ich nicht vergesse, wer mich betrügt.“
Kurz darauf war er verschwunden, der Staub legte sich und die Gasse füllte sich erneut mit Menschen, die ihren Beschäftigungen nachgingen. Nur Surals Blicke blieben. Dieses Mal war er es, der seine Hand auf ihren Arm legte. Lubiam stand neben ihnen, tiefe Sorgenfalten lagen auf seiner Stirn und dennoch störte er die Geschwister nicht.
„Ich werde dafür sorgen, dass dieser Kerl dich nicht erhält“, erklärte er grimmig und meinte es ernst.
„Melram!“ Angst und Stärke zugleich lagen in ihrer Stimme, als sie sprach: „Reiche Männer bekommen, was sie wollen. So war es immer und so wird es immer sein. Es wird unsere Fami…“
„Dich nicht“, flüsterte er wie ein Gebet, auch wenn er nicht sagen konnte, zu welcher Gottheit er sprach. „Dich wird er nicht kriegen“ Doch es waren nicht wenige Menschen um sie herum gewesen. Schon morgen würde auch in ihren Straßen erzählt werden, dass ein Händler nach Sural Iaramrag verlangt hatte und Melram wusste nicht, was er dann antworten würde.
„Wo sind Hisiam und Tivunam?“, fragte er, weil er das Thema nicht ausführen wollte. Seine beiden Brüder mussten irgendwo über den Markt streifen, doch hatte er ihnen gesagt, dass sie sich in der Nähe aufhalten sollten.
Endlich sah er Tivunam, der sich durch die Menschen zu ihnen schlängelte. Hisiam dagegen war nicht zu erblicken.
„Was war da eben los?“, fragte er grimmig und Melram war stolz über die Stärke und Entschlossenheit, die sein jüngerer Bruder verströmte.
„Ein Mann, der Sural kaufen wollte. Ich konnte ihn überzeugen, die Entscheidung zu verschieben“, erklärte er knapp.
Tivunam nickte nur.
„Ich treffe mich gleich mit Hiratja. Wir müssen rasch eine Lösung finden und Sural rasch außer Reichweite bringen. Vielleicht vergisst er sie, wenn sie einfach nicht mehr auftaucht.“
„In Ordnung.“ Tivunam legte seiner jüngeren Schwester, die Hand auf die Schulter und allein diese Geste zeugte von der Ungewöhnlichkeit dieser Situation. Es entsprach weder der gesellschaftlichen Norm noch dem Wesen Tivunams solche Zeichen der Zärtlichkeit in der Öffentlichkeit zu zeigen.
„Wir sollten mit meinem Großvater reden“, mischte Lubiam sich ein, „Wenn jemand einen Menschen verstecken kann und die Gepflogenheiten des Viertels kennt, dann er.“
Melram nickte knapp, denn war dies ein vernünftiger Vorschlag, der ihm wirklich weiterhelfen konnte.
Dann wandte er sich erneut an seinen jüngeren Bruder: „Weißt du, wo Hisiam ist? Ich möchte, dass ihr beide Sural nach Hause geleitet. Sie sollte nur noch in männlicher Begleitung unterwegs sein.“
„Ich weiß nicht, wo er ist“, entgegnete der drittgeborene Sohn Iarams, „Er ist schon gleich zu Beginn mit irgendwelchen älteren Freunden verschwunden. Aber Jirassam lief hier eben noch rum. Er wird bestimmt mit mir kommen, wenn ich ihn darum bitte.“
Melram verzog das Gesicht. Die Freunde, mit denen Hisiam sich umgab, hatten ihm noch nie gefallen. Doch der Nachtbarssohn Jirassam, der in Tivunams Alter war, hatte eine sichere und verlässliche Art.
„Tut das.“
Tivunam hob die Hand zum Gruß, rief nach seinem Freund und gemeinsam brachten sie Sural nach Hause.
Melram dagegen ging mit Lubiam zum vereinbarten Treffpunkt und sie warteten auf die gemeinsame Freundin. Zeit verstrich, doch Hiratja kam nicht. Besorgt blickten sie sich an, bevor sie sich erneut auf den Weg machten und die Straßen abgingen, denn vielleicht hatten eine Vorstellung oder ein Verhandlungspartner die Tiakar aufgehalten.
Nach einer Weile entdeckte sie Ankram, der sich mit seiner Schwiegertochter Liral unterhielt. Der alte Mann ähnelte ihr nicht im Geringsten. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid, das ihre schmale Gestalt schmeichelte und gegen das sich ihre silberblonden, zu zwei einfachen Zöpfen geflochtenen Haare abhoben. Ihr Byeros war in hellen, fast weißen Blautönen gefertigt. Kleine Brüste zeichneten sich unter dem Knüpfwerk ab. Sie war schön, ohne jede Frage, doch verkündete das Band um Handgelenk und in ihren Haaren, das sie bereits vermählt war.
Andere Männer starrten sie an und vollführten unflätige Gesten, doch Melram hatte kaum mehr als einen flüchtigen Gruß für das Mädchen über. Das Einzige, was ihm auffiel, war, dass sie in Hiratjas Alter sein musste und seiner Freundin kaum ähnelte.
Er schenkte ihr nur einen knappen Gruß, dann wandte er sich an seinen alten Freund. „Hast du Hiratja gesehen? Wir hatten uns verabredet und es passt absolut nicht zu ihr, unpünktlich zu sein“ Lubiam stand bei seiner Frau und hatte ihr besitzergreifend den Arm über die Schulter gelegt, auch er schien sich Sorgen zu machen.
Den besorgten Blick, den Liral zu Ankram warf, nahm er sehr wohl wahr.
„Was ist los?“, fragte er, auch wenn er es eigentlich schon wusste. Er kannte Ankram und er kannte Hiratja. Diese Blicke hatten schon immer bedeutet, dass sie etwas angestellt hatte.
„Du weißt es wirklich noch nicht, oder?“ Liral strich sich über die Stirn.
„Was denn nun?“
„Hiratja wurde verhaftet“, meinte Ankram mit jenem ernsten Pragmatismus, mit dem er alle Probleme anging, die sich so lösen ließen. „Wegen illegalem Bücherhandels“
Melram sank zurück. Nicht etwa, weil er sich fürchtete oder in Hoffnungslosigkeit versank – es gab deutlich bessere und sicherere Gefängnisse als die Gefängnisse der Stadt und es wäre nicht das erste Mal, das er Hiratja von dort hinausholen müsste. Nein, vielmehr beunruhigte es ihn, dass Ankram die Wahrheit sprach.
Es war Lubiam, der sich zuerst rührte. Er löste sich von Liral und trat zu Melram.
„Also gut“, erklärte er, „Als aller Erstes müssen wir herausfinden, in welchem Gefängnis und welchem Trakt sie ist.“ Waren sie etwa schon beim wir? Für einen Moment wollte Melram etwas Unpassendes entgegnen, doch dann schwieg er. Vergiss nicht, um wen es hier geht, Melram.
Ohne auf seine Antwort zu warten, setzte der Ältere sich in Bewegung. Vergessen waren Sural, wegen der sie ursprünglich mit Ankram hatten reden wollen und sein junges Weib.
Melram musste sich beeilen, um mit ihm mithalten zu können. Lubiam war deutlich größer als er und hatte lange Beine.
Dennoch war er es und nicht Melram, der zuerst das Schweigen zwischen ihnen brach.
„Ich habe einen Freund, der uns sicherlich helfen kann.“
„Einen Freund? Wie heißt er?“
„ Havina.“
„Nicht dein Ernst?“, fragte Melram und das Entsetzen stand ihm auf die Stirn geschrieben, „Ein Priester?“ Der Namenssuffix hatte ihm dies verraten.
„Melram!“, fauchte Lubiam und blieb inmitten der Gasse stehen.
„Du unterschätzt die Situation, in der sich Hiratja befindet. Es geht um illegalen Bücherhandel, verdammt! Nicht um Diebstahl oder den Schmuggel von ausgefallenen Delikatessen.“ Sein Gesicht näherte sich Melrams bis auf wenige Zentimeter und für einen Moment empfand er wirklichen Respekt vor dem älteren Mann. Was wohl gewesen wäre, wenn Lubiam als Fürstensohn und nicht als Sohn eines Minenarbeiters zur Welt gekommen wäre?, fragte er sich. Doch verschwand der Gedanke rasch bei den folgenden Worten Lubiams: „Auf Bücherhandel steht die Todesstrafe!“
„Ich weiß“, beschwichtigte Melram ihn. Wenn jemand nie vergessen würde, wie wenig es dem Tempel gefiel, wenn das Volk Lesen und Schreiben konnte, dann er. Er mochte nur ein Junge gewesen sein, ein Kind, das wenig von der Politik der großen Männer verstand, doch dass sein Vater tot war, hatte er schon damals begriffen. „Doch bis Fürst Antirehm wiederkommt, werden nur Zivilprozesse und kein Tempelrecht verhandelt.“
Lubiam beschleunigte seine Schritte. „Sei dir da nur nicht so sicher“, murmelte er und verschwand um die Ecke.
Diese leisen Worte beunruhigten Melram mehr, als er sich vorgestellt hatte. Er war mit Ankrams Enkel aufgewachsen und schon als Kind war dieser ein Vorbild für ihn gewesen. Doch nun schien Lubiam fast – ja was eigentlich…besorgt zu sein? Nein, es war mehr als das. Vielmehr erschien es so, als ob dieser etwas sehen würde, was er selbst noch nicht erkannt hatte.
„Was meinst du damit?“, rief er ihm hinterher.
Doch es war nur Schweigen. Schweigen inmitten von Geräuschen.
Noch nie hatte er das Schweigen gemocht. Die Menge hatte geschwiegen, kurz bevor sein Vater gestorben war, nur, um dann umso lauter zu grölen und sich über seinen Tod zu erfreuen.
Melram beschleunigte seine Schritte und erreichte Lubiam. Mit seiner linken Hand griff er nach dessen Byeros. Sogleich wirbelte der Reiter Aevras herum. Der Stoff entglitt Melrams Fingern und es verblieb nur ein einzelner dunkelgrüner Faden, der unter seinem eingerissenen Daumennagel hängen geblieben war. Dunkelgrün. Es war Hiratjas Lieblingsfarbe. Eines Tages zeige ich dir meine Heimat, ja? Ich weiß, dass es dir gefallen wird. Ich zeige dir Zavitjas Auge und wir klettern Hinics Faust hinauf. Wenn man sich ganz still verhält, kommen die Silirath bis auf wenige Längen an den Felsen heran. Es ist der beste Ort, um sie zu beobachten.
Sie hatte so viel von ihrer Heimat und ihrem Volk geschwärmt, Orte und Leute, die Melram nie gesehen hatte und die doch ein Teil seiner besten Freundin waren.
„Ich bin nicht dein Feind“, fauchte Lubiam, „Also hör auf mich so zu behandeln. Außerdem bin ich mit einer wunderbaren Frau verheiratet.“
Melram wich zurück. Natürlich war Lubiam nicht sein Feind, aber was hatte das mit seiner Frau Liral zu tun?
„Ich…“ Er stockte. Wie alt bist du noch einmal, Melram? Du jagst Niasla und findest jetzt nicht die richtigen Worte?
„Ich werde zu den Tiakarn gehen“, meinte er schließlich.
„Tu das“, knurrte der Ältere, bevor er sich ohne ein weiteres Wort abwandte und verschwand.
Melram zuckte nur mit den Schultern
Über die Zeit hatte Melram festgestellt, dass es verschiedene Arten von Tiakarn gab. Es gab die wandernden Händler, die nur zu bestimmten Zeiten und nur kurz auftauchten, um dann weiterzureisen. Dann gab es jene, die sich zumindest teilweise in Kantigark niedergelassen hatten und die Stadt als Ausgangspunkt für ihre Reisen nutzten. Manchmal waren sie Lichttage da und dann wieder Lichttage fort. Obwohl sie mit der Bevölkerung Katigarks handelten, lebten und Freunde – wie Melram – hatten, blieben sie Tiakar und ein Teil ihrer Volksgemeinschaft. Hiratja war solch eine Person. Mal hatte Melram das Gefühl, dass er sie besser kannte als jede andere Person, aber manchmal, wenn sie von einer Reise wiederkam, hatte er das Gefühl, einer Fremden gegenüberzutreten.
Zur dritten Gruppe gehörten jene Tiakar, die fast nur noch in Kantigark lebten und nur noch zu den Hauptversammlungen zu ihrem Volk zurückkehrten. Melram kannte nur zwei Personen, die er zu dieser Gruppe zählen würde.
Sicherlich gab es noch viel mehr Gruppen, wie jene, die nur bei ihrem Volk lebten und denen er noch nie begegnet war.
Jedoch verband alle bis auf die dritte Gruppe, dass sie es waren, die den Kontakt zu Melrams Volk aufrechterhielten und entschieden, inwieweit man in ihren Lebensraum eindringen durfte. Sie verrieten ihre Geheimnisse nicht gerne. Melram kannte Tiakar, die er als Freunde bezeichnen würde und mit denen er sich auf dem Markt stundenlang unterhalten und sich betrinken konnte, aber deren Wohnorte er nicht kannte. Selbst Hiratja, seine beste Freundin, teilte ihren Wohnort und ihre Geheimnisse nicht oder nur ungern mit ihm.
Deshalb musste er zu denen gehen, deren Wohnorte er kannte. Fjuric, ein guter Freund von ihm und Hiratja war der Erste, zu dem er sich aufmachte.
Die Tür war geschlossen, aber Melram ließ sich davon nicht beeinflussen. Wem die Gastfreundschaft eines Tiakars einmal gewährt worden war, der war in dessen Haus immer willkommen.
„Fjuric?“, rief er leise.
Stille. Er trat in den Flur, der so anders geschmückt war als die Häuser seines Volkes. Keine Antwort. Wahrscheinlich hatten sie sich verpasst und Fjuric und seine Frau waren in der Stadt unterwegs.
Doch dann bemerkte er, dass der Bogen aus Silirath-Knochen, der gewöhnlich die Wand des Wohnraumes schmückte, fehlte. Es war mehr ein Statussymbol, denn eine wirkliche Waffe, die Fjuric stets zu den Versammlungen seines Volkes mitnahm. Melram trat an die Wand und fuhr mit den Fingern über die Stelle, wo der Bogen gehangen hatte. Vielleicht war solch eine Versammlung einberufen worden? Aber warum so plötzlich? Vor zwei Tagen hatte er den Freund noch getroffen und dieser hatte nichts dergleichen erwähnt.
Leicht beunruhigt verließ Melram das Haus und machte sich auf den Weg zu einem älteren Händler, mit dem er über einige Geschäfte in Kontakt gekommen war. Er hatte mit Hiratja zu ihrer nächsten Handelsreise in wenigen Tagen aufbrechen wollen.
Doch auch sein Haus fand Melram verlassen vor, ebenso wie die beiden Nachtbarhäuser, die von dessen Brüdern bewohnt wurden. Wieder fehlten ihnen wichtige Gegenstände, während zugleich nichts auf einen Kampf hindeutete.
Aus Beunruhigung entwickelte sich Sorge.
Aber zumindest Racavic musste da sein! Der Vater seines Freundes war schwer erkrankt und er würde seinen Vater nicht verlassen.
„Hallo?“
Da. Ein Geräusch. Eine Ratte, Melram! Erinnerst du dich noch an die Ratten, über die Racavic sich immer mit einem Lachen beschwerte?
Aber es war ein Mädchen, keine Ratte, Racavics kleine Tochter, die sich hinter einer Truhe versteckte. Verängstigt starrte sie zu ihm hoch.
Ohne zu zögern, zog Melram das Kind hervor und stellte es vor sich hin. Sie trug eines der erdfarbigen, sackartigen Gewänder, die die Tiakar mit Vorliebe trugen und wirkte nicht im Geringsten verletzt. Sie war ein schmales, zartes Kind, von dem man nicht glauben mochte mit welcher Kraft sie auf ihre älteren drei Brüder einschlug und sich mit ihnen über den Boden rollte. Doch ihre Brüder waren nicht da und so blieb ihm nur das Mädchen mit den großen Augen. Er hockte sich vor ihr hin und strich ihr die dunklen Locken aus dem Gesicht, damit er sie ansehen konnte.
„Was ist passiert?“, fragte er. Immerhin wich die Angst langsam aus ihrem Blick, auch wenn sie weiterhin schwieg.
„Wo ist dein Vater?“
Schweigen und stumme Blicke.
Konnte sie überhaupt sprechen? Melram versuchte sich zu erinnern, nur hatte er sich nie viel mit den Familien und schon gar nicht mit den Kindern seiner Freunde beschäftigt. Wie alt mochte sie sein? Zwei Schattentage? Vielleicht drei.
„Und was soll ich jetzt mit dir tun?“ Stille.
Hier bleiben konnte sie jedenfalls nicht. Also nahm er sie kurzerhand auf den Arm und verließ das Haus, nachdem er sich noch einmal umgeschaut hatte. Wieder deutete nichts auf einen Kampf hin.
Besorgt sah Melram sich um, während er auf das Haus seiner Familie zutrat. Das Mädchen schmiegte den Kopf an seine Schulter, aber ihre Wärme war nichts gegen die Kälte, die ihn und seine Familie überkommen würde, wenn herauskäme, dass er eine Tiakar bei sich aufnahm.
Aber die Straße war leer. Es war mitten in der Nacht, die Zeit, wo die Menschen arbeiteten oder auf dem Markt unterwegs waren. Selten kehrten sie in den wenigen Nachtstunden in ihre Häuser zurück, die ihnen Schutz und Gefängnis zugleich waren.
Melram schob die Haustür auf und das Mädchen hinein. Dann griff er nach dem Beutel mit Salz an seiner Hüfte, um Viandav seinen Wegzoll zu übergeben. Seine Finger schwebten schon über der Schale, die der Gott in den Händen trug, doch unter dem Blick des Mädchens ließ er die Hand wieder sinken. Wieso opferte er seinen kostbaren Besitz einem Gott, der ihn sowieso nicht schützen würde und – wenn man den Priestern glaubte – sowieso nur Leiden bringen konnte? Sinnlos. Hiratja. Sie betete nicht zu den Göttern seines Volkes und sie hatte auch nie über seine gelegentlichen Anwandlungen von Aberglauben gespottet. Was brachte es also, wenn er Gebete für sie sprach und Salz opferte für Götter, unter deren Schutz sie nicht stand? Hatte er sie eigentlich jemals gefragt, welchem Glauben sie stattdessen anhing? Er konnte sich nicht erinnern. Wenn er es sich recht überlegte, wusste er gar nicht, welche Götter die Tiakar verehrten. Hiratja zumindest hatte nie davon gesprochen, auch wenn sie meinte, dass sie einige Lebensmittel nicht essen dürfe und bestimmte Tage nicht für die Jagd hatte nutzen wollen.
Noch immer starrte das Mädchen ihn an, während er auf der Straße stand und in die Luft guckte wie der letzte Idiot. Erneut sah er sich um, als er niemanden entdeckte, trat er ins Haus und schloss die Tür. Es war verlassen. Seine Mutter hatte sich mit einigen Freundinnen treffen wollen, um gemeinsam zu sticken und dabei Sinal mitgenommen. Hisiam und Niram trieben sich wer weiß wo rum und Tivunam musste irgendwo mit Sural sein. Seltsam, dass sie noch nicht eingetroffen waren.
Auf einmal hörte er leise Stimmen. Melram zuckte zusammen und folgte den Geräuschen bis zum anderen Ende des Wohnraumes, wo ein Nebengebäude mit dem Hauptraum verbunden wurde. Dort befanden sich ein Hühnerstall, Vorratskammer und ein kleiner Lagerraum. Er warf einen Blick zu dem Kind, das gebannt den Vorhang anstarrte. Ohne ein Wort zu sprechen, deutete er auf den Vorhang, der die Schlafplätze abtrennte. Das Mädchen verstand und huschte dahinter, wo es sich hoffentlich still verhalten würde.
Er trat heran und lauschte leise. Drüben schien eine angespannte Diskussion ausgebrochen zu sein. Melram hörte Tivunams Stimme heraus, der etwas über die Tiakar und den Fürsten sagte. Jirassam, der Sohn des Nachbarn, war ebenfalls da und entgegnete etwas.
Melram zog den Vorhang beiseite und trat ein. Jirassams Worte erstarben ihm im Mund. Tivunam zog die Augenbrauen hoch und Niram hatte immerhin den Anstand, einen Hauch von Schuldbewusstsein zu zeigen. Sural zuckte dagegen zusammen, vor Angst? Lubiam stieß sich von der Wand ab, an der er bis eben gelehnt hatte und zeigte auf die einzige Melram unbekannte Person.
„Darf ich dir Havina vorstellen, Melram?“
„Selbstverständlich“, entgegnete dieser und versuchte in seine Stimme so viel Wut zu legen, wie es ihm möglich war. Nur musste er trotz des Zorns den Fremden begrüßen.
Havina war ein junger, gut aussehender Mann in Melrams Alter, der die Frisur eines Suchenden Priesters trug. Priester trugen keine Byeros’, doch von denen, die es werden wollten, erwartete man, dass sie es noch taten. Nur die Farben waren ungewöhnlich. Grau und Braun gingen in den Blau- und Grüntonen, die die Byeros’ der anderen Anwesenden prägten, fast unter und wirkten farblos. Grün und Braun. Die Farben Jinuvs, dem Gott der Berge und Schutzherrn von Kantigark.
„Sei mir willkommen, Havina. Es ist mir eine Ehre, einen angehenden Priester in meinem Heim begrüßen zu dürfen.“
„Und es ist mir eine Ehre, deine Bekanntschaft zu machen, Melram. Leider verlangt die Ehre meines Gottes die Anwesenheit bei der heutigen Feier. So muss ich euch leider verlassen.“ Er hatte eine angenehme, fast weiche Stimme, die eine Melodie zu tragen schien.
„Möge Jinuv dich schützen und Hicurath deinen Weg segnen“, wünschte Melram.
„Mit selbigem segne ich dich.“ Und mit diesen Worten trat Havina an dem Hausherrn vorbei, auf den Flur. Wenig später wurde die Haustür geöffnet und fiel gleich darauf wieder zu.
„Was soll das?“ Sein Zorn richtete sich vor allen gegen Tivunam, der als drittältester Sohn seines Vaters verantwortungsbewusst genug sein sollte, um so ein Treffen zu unterbinden.
„Hast du auch nur einen Gedanken verschwendet, was passiert, wenn man erfährt, dass ein Mädchen von zwölf Schattentagen allein mit fünf Männern war?“ Im Gegensatz zu Sural, die neben ihm stand, blieb Tivunam standhaft und zeigte keine Spur von Reue.
„Und zwei davon waren ihre Brüder“, entgegnete er.
„Die beide Kinder sind und dem Gesetz nach vor dem Gericht nicht sprechen dürfen.“ Zornig starrte er seinen Bruder an. Als dieser zum Reden ansetzte, fügte Melram hinzu: „Und es ist völlig irrelevant, ob du in zwei Lichttagen als ein Erwachsener zählst oder nicht. Zu alten Geschehnissen darfst du dennoch nicht aussagen.“
Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie Sural ihrem Bruder die Hand auf den Arm legte und ebenfalls den Mund öffnete.
„Frauen schweigen in Gegenwart der Männer“, fuhr er sie an und deutete ihr an, dass sie gehen sollte. Seine Schwester wandte sich ab, um hinter dem Vorhang zu verschwinden. Ihr langes, silbernes Haar wehte hinter ihr her. Sie ist viel zu hübsch geworden, das ist das Problem, dachte er, bevor er sich den vier verbliebenen Personen zuwandte.
Sein jüngster Bruder stand halb hinter Tivunam.
„Niram, komm hervor.“ Niram war Surals Zwillingsbruder und sah ihr ähnlich mit den feinen Gesichtszügen, der geringen Körpergröße und dem silberblonden, gelockten Haar.
„Du bist alt genug, um Konsequenzen zu erkennen und musst nicht immer deinem Bruder hinterher rennen. Geh und handele nächstes Mal klüger.“
Niram hatte den Vorhang schon erreicht, als er sich noch einmal umwandte und fragte: „Aber wenn es richtig ist, was er tut?“
„Was ihr hier beredet, ist mir gleich, aber ihr werdet es nicht in meinem Haus tun und auch nicht eine Person, die unter meinem Schutz steht, ins Verderben reißen.“
„Dies ist auch mein Zuhause und die Person, von der du redest, ist meine Schwester.“ Die Stärke und der Widerstand in Nirams Stimme überraschten Melram und er fragte sich, wann der Junge so erwachsen geworden war. Dennoch musste auch er wissen, wo die Grenzen lagen.
„Dem Familienoberhaupt ist Respekt entgegen zu bringen.“
„Respekt…“ Der höhnende Klang in seiner Stimme verschwand nach einem warnenden Blick von Lubiam, den Melram sehr wohl bemerkte.
Ohne ein weiteres Wort zu sprechen, wandte sein jüngster Bruder sich ab und folgte seiner Zwillingsschwester nach. Auch Tivunam verschwand kurz darauf, so dass Melram, Lubiam und Tivunams bester Freund Jirassam zurückblieben.
Zunächst sprach Melram zu Jirassam. Auch wenn der Sohn des Steinmetzes vor kurzem das Mannesalter erreicht hatte, war er doch noch ein Junge ohne die Erfahrung und die Stärke, die Lubiam zu Eigen hatte. Es würde einfacher sein, mit ihm zu reden.
„Wenn du wünscht, um meine Schwester zu werben, dann tue das gefälligst auf eine anständige Art und Weise. Jemandem, der sie unvorsichtig ins Gerede stürzt, kann ich sie unmöglich anvertrauen.“
Mit gesenktem Kopf und roten Wangen ging Jirassam. Melram hörte ihn noch einige Worte mit Tivunam wechseln, dann herrschte wieder Stille.
„Dein Bruder hat Recht“, entgegnete Lubiam schließlich und Melram war ihm dankbar, dass er es jetzt tat und nicht vor den anderen, wo es seine Autorität untergraben hätte. Niram mochte er wegbefehlen können, doch Lubiam stand im Rang über ihm und es war sein Großvater gewesen, der Melram und seine Familie einst vor dem Abgrund bewahrt hatte. „Manchmal muss man ein Risiko eingehen, einfach, weil es das Richtige ist.“
Melram ging nicht darauf ein.
„Was ist mit den Tiakarn los? Sie haben ihre Häuser verlassen und ich fand Racavics Tochter alleine vor.“
„Die Tiakar verlassen die Stadt“, meinte der Ältere leise, als ob das ein alltägliches Ereignis wäre. „Sie verlassen die Stadt, weil sie Augen haben, die weiter sehen als unsere und Dinge entdecken, die uns noch unbekannt sind.“ Erneut hielt Ankrams Enkel inne und schwieg, um dieses Ereignis in Worte zu fassen „Die Wappen des Hochtempels ziehen die Straßen von Asinat hinauf und vor dem Heer Kantigarks reitet nicht länger Fürst Antirehm voran.“
„Aber was bedeutet das für uns? Was…“ Schon sein ganzes Leben lang hatte der Fürst Antirehm geheißen und hatte in der Halle Recht gesprochen. Er kannte es nicht anders.
„Für uns?“ Ein dunkler Schatten lag um Lubiams Augen. „Es bedeutet, dass das Recht der Tempel in unsere Stadt Einzug hält. Es bedeutet, dass die Gerichtsbarkeit wieder allein den Götter obliegen wird und wird werden einen anderen Fürsten haben.“
„Aber das bedeutet ja, die Tiakar, dass Hiratja vielleicht ganz anders bestraft wird.“
„Richtig. So wird es sein.“
„Wie kannst du nur so ruhig sein?“, fauchte Melram, „Wir müssen sie befreien, sie retten, bevor die Stadt eingenommen wird.“
Lubiam machte einen Schritt vorwärts, bis er direkt vor ihm stand. „Ist sie das Einzige, an das du denkst?“
„Natürlich nicht“, entgegnete er, auch wenn seine beste Freundin einen großen Teil seiner Gedanken einnahm, „Meine Familie ist…“
„Deine Familie, sicherlich. Ich verstehe, warum dein Bruder dich nicht bei diesem Treffen dabeihaben wollte.“
Mit diesen Worten klopfte er Melram ein letztes Mal auf die Schulter, dann machte er sich ohne einen Abschiedsgruß auf den Weg.
„Wohin willst du? Was willst du machen?“, rief Melram ihm hinterher.
Lubiam wandte sich um.
„Den Hof warnen und die Stadt retten.“ Der Blick, den er ihm zuwarf, war von Mitleid ertränkt, was noch schlimmer war, als wenn es Zorn gewesen wäre. „Und mich um Racavics Mädchen zu kümmern, damit du keine Angst haben musst, dass man sie bei dir entdeckt.“
Dann war er fort und zurück blieb Melram, der nicht wusste, was er tun sollte.
Ihm fiel auf, dass er ganz vergessen hatte zu fragen, welcher seiner Brüder ihn nicht bei dem Treffen dabeihaben wollte.
Melram lehnte sich gegen die Wand und ganz langsam, ohne dass er es wirklich bemerkte, sank er hinab. Er vergrub den Kopf zwischen seinen Händen und hatte das Gefühl, dass ihm sein Leben von einem Moment zum anderen entglitt. Jenes Leben, das er all die Schattentage sorgfältig beschützt und behütet hatte.
Er wusste nicht, wie es noch schlimmer sein konnte.