Nisirehm träumte. Er träumte von Leben und Tod, von Licht und Dunkelheit und fürchtete sich. Seit er sich erinnern konnte, träumte er, doch keiner zu dem er gegangen war, hatte ihm erklären können, was er träumte. Als er zu seiner Mutter gegangen war, hatte sie ihm tröstend die Hand auf sein Haar gelegt und ihm beruhigende Tränke des Hasimiv-Priesters bringen lassen. Asarak dagegen hatte gelacht und sein Vater erklärte ihm, dass in Träumen Ereignisse des Tages verarbeitet wurden. Freilich hatten weder Lachen noch ausschweifende Erklärungen etwas an seinen Träumen geändert, weshalb Nisirehm nie wieder jemandem von diesen Geschehnissen erzählt hatte.
Stattdessen ertrug er seine Träume und gewöhnte sich mit der Zeit an sie. Doch dieser Traum überraschte selbst ihn.
Wie jede Nacht begann es damit, dass er von Dunkelheit umgeben war. Dunkelheit, die aus grausigen Fratzen und unheimlichen Geräuschen bestand. Um ihn herum waren anderen Menschen, er spürte nur ihre Gegenwart, doch nie konnte er sie finden. Dann kam die Fratze, die ihn entdeckte, ihn sah und begann, ihn zu verfolgen. Nisirehms Herz schlug panisch, während er durch die Dunkelheit hastete und Hilfeschreie ausstieß, die ungehört verhallten. Gleich würde er fallen, er wusste es, spürte das tiefe Nichts, das irgendwo vor ihm lag. Den schleichenden Atem seiner Verfolger im Nacken, stolperte Nisirehm vorwärts – und fiel. Panisch breitete er die Arme auf, um sich irgendwo festzukrallen, aber da war nichts. Hilflos stürzte er tiefer und tiefer in das Loch, sein Schrei hallte durch die Windungen. Da unten warteten sie mit Netzen, davon war der Fürstensohn überzeugt, und dann würden sie ihn fressen.
Doch dann fiel er nicht länger, sondern schwebte. Nisirehm öffnete die Augen, die er zuvor fest zusammengepresst hatte und erblickte einzelne Federn, die er nun auch spürte. Es war ein gewaltiger Adler, der ihn aufgefangen hatte und dessen Gefieder wie Gold schimmerte und glänzte. Es war das schönste und reinste Gold, das Nisirehm je erblickt hatte. Herrlicher als die goldenen Schalen in den Tempeln, die so rein waren, dass man sich in ihnen spiegeln konnte, schöner als er es in Worte fassen konnte.
Es war weiterhin finster, doch strahlte der Adler so hell, dass jegliche Angst vergessen war. Die finsteren Gestalten, die ihn eben noch gejagt hatten, wagten sich nicht an das Tier heran und so war Nisirehm in Sicherheit.
Jetzt erblickte er zum ersten Mal überhaupt auch die Menschen, nur dass sie ihn nicht sahen. Einige wenige blickten zu dem Adler hoch, der über ihnen schwebte, doch wandten sie sich kurz darauf wieder ab und rieben sich die Augen, als wäre das alles nur eine Täuschung gewesen.
„Hallo!“, rief er, „Hier oben!“
Aber sie hörten ihn nicht. Seltsamerweise fürchteten sie sich auch nicht vor den finsteren Gestalten, stattdessen schien es so, als ob sie diese gar nicht bemerkten und einfach nur vor sich her lebten, ohne einen Blick für ihre Umwelt zu haben.
„Jemand muss ihnen doch sagen, wie sie leben“, meinte er zu sich selbst, auch wenn seine Stimme laut durch die Luft getragen wurde. Jemand. Aber wer? Außer ihm und dem Adler war niemand hier, der die Finsternis auch sah.
Dort. Nisirehm rieb sich die Augen. Tatsächlich war da hinten im Südwesten ein Lichtpunkt.
„Dahin“, bat er und sogleich trug ihn das getreue Tier dorthin.
Der Punkt wurde größer und größer, während unter ihm das Land hinweg zog. Und das Land…Es erinnerte ihn an etwas. War er nicht bereits hier gewesen? Die Bezeichnung lag ihm auf der Zunge, war nur noch einen Lidschlag entfernt, aber dann überströmte ihn das Licht urplötzlich.
Nisirehm schlug die Augen auf und schwebte auf einmal nicht länger auf einem Adler, sondern lag in seinem Bett. Das faltige Gesicht Elonis, dem Vorstand seiner Dienerschaft beugte sich über ihn und Nisirehm wurde sanft geschüttelt. Allein daran, dass er ihn anfasste, war er zu erkennen. Die niederen Diener würden ihn nie ohne seine Erlaubnis berühren. Aber Eloni war schon in seinem Dienst, als seine Mutter und die Mutter seines Vaters noch gelebt hatten.
„Prinz Nisirehm!“
Er setzte sich auf und ein zufriedenes Lächeln strich über das Gesicht des Alten.
„Guten Morgen, mein Prinz. Möge Jinuv seine schützende Hand an diesem Tag über Euch halten und Pinduth Euch erfreuen!“
„So soll es sein!“, stimmte er zu, während er sich von seiner Bettstatt erhob.
„Wie wünscht Ihr Euch am heutigen Tag zu kleiden?“
Nisirehm bat nicht wegen des heutigen Tages um das mit Goldstickereien und Perlen besetzte Hemd und seinen schönsten Byeros, sondern weil heute sein Vater heimkommen würde. Das hatte er so versprochen, ehe er geritten war, um einen Krieg zu kämpfen, den er nicht gewollt hatte.
„Lasst zu meiner Schwester schicken und sie bitten, heute hier mit mir zu frühstücken“, befahl er einem seiner Diener, der soeben die seitlich geschlitzte Hose zuknöpfte, die Nisirehm heute trug.
Der Mann nickte und eilte, sobald er fertig war, davon.
Als er wiederkam, war Nisirehm fertig angekleidet und fühlte sich bereit, unter die Leute zu gehen.
Der junge Mann verneigte sich vor ihm.
„Verzeihung, mein Prinz. Eure Tante lässt ausrichten, dass die verehrte Tochter Eures ehrenwerten Vaters unpässlich ist.“ Nisirehm runzelte die Stirn. Isachan war unpässlich? Lisarehm war wahrlich mit einer schwachen Gesundheit gesegnet, aber niemand würde dies auch für dessen Schwester behaupten. Nisirehm konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals wirklich krank gewesen war. Nun gut. Wenn sie nicht zu ihm kommen konnte, würde er zu ihr gehen.
Als er fertig war, machte er sich begleitet von zweien seiner Wachen auf den Weg. Da Isachan noch nicht erblüht war, befanden sich ihre Gemächer im Turm der lachenden Frau. Warum das Gebäude so genannt wurde, hatte Nisirehm niemand zufrieden stellend erklären können. Über den Geist einer Fürstentochter, die am Gelächter des Wahnsinns gestorben war und dort umherstreifte, bis zu dem Gerücht, dass für den Bau des Turms ein Felsen zerstört worden war, der wie eine Frau geformt gewesen war, hatte er bisher vieles gehört. Mit Isachan hatte er sich des Nachts auf die Lauer gelegt, doch das Einzige, was sie aufgestöbert hatten, waren Ratten gewesen.
„Kündigt mich an“, befahl Antirehms Sohn.
Es war Etiaychan, die heraustrat. Sie sah ihrem Bruder, dem Fürsten, ähnlich. Nur dass das spitze Kinn, die hohe Stirn und das schmale Gesicht, die Antirehm einen ernsten Gesichtsausdruck verliehen, sie eckig und unfreundlich erschienen ließen. Auch sie war groß gewachsen, aber sehr hager. Zwei Ehemänner hatte sie überlebt und Schattentage deren Grafschaften mitregiert, dem ersten hatte sie zwei Töchter, dem zweiten drei Söhne geschenkt. Nach dem Tod ihres zweiten Mannes hatte der neue Graf und ihr Sohn sie zu ihrem Bruder zurückgeschickt, wo sie die Erziehung von deren Töchtern übernommen hatte. Und so stand seine Tante ihm nun gegenüber und musterte ihn.
„Lasst uns allein“, gab Nisirehm nach einem unmissverständlichen Blick Etiyachans seinen Wachen bekannt, die daraufhin an das Ende des Flurs gingen.
„Ist meine Schwester da?“, fragte der Prinz, „Ich wünsche mit ihr zu speisen.“
„Diesen Wunsch habe ich vernommen, doch aufgrund der Umstände habe ich ihr geraten, diese Einladung abzulehnen.“
„Aber wieso?“ Es ist eine kindliche Frage, die ihm herausrutschte, bevor er darüber nachdenken kann. Eigentlich meinet er damit: Was hatte sich verändert? Was war heute anders als gestern. Heute war sein Tag. Aber konnte sich deshalb wirklich alles ändern?
„Ihr ward ein Junge, ein Mann seid Ihr nun.“
Er versuchte sich zu erinnern, von welchem weisen Lehrer das war, doch hatte er mit seinem schlechten Gedächtnis für weise Sprüche und Lieder schon so manchen Lehrer zum –
„Eure Schwester ist ein Mädchen aus edelstem Geblüt. Viele Männer werden um sie werben oder werben schon jetzt. Sie wird eine Mutter von Fürsten und Fürstinnen sein und jedes schlimme Gerede kann sie ins Unglück stürzen. Ihr seid nun ein erwachsender Mann und müsst daran denken, den Ruf einer Frau zu schützen. Ein Frühstück mit ihr alleine wäre deshalb höchst unklug, vor allem, da der Fürst nicht anwesend ist.“ Er hatte nie die engste Beziehung zu der älteren Schwester seines Vaters, aber verstand er, dass sie es in diesem Moment nur gut meinte und sie schützen möchte.
Er nickte.
Etiyachan legte ihm die Hand auf die Schulter und meinte: „Was haltet ihr davon, wenn ihr stattdessen Zeit mit Eurem Bruder verbringt?“
„Natürlich.“ Nisirehm hob die Hand zum Abschiedsgruß und wandte sich von seiner Tante und der Tür, hinter der garantiert seine Schwester lauschte, ab. Er seufzte tief. Natürlich liebte er seinen Bruder, nur hatte es einen Grund, weshalb er Isachans Gegenwart und nicht Lisarehms gesucht hatte. Isachan hätte ihn mit ihrem unaufhaltsamen Geplapper und ihrer Überschwang abgelenkt und jeglicher Gedanke an den Traum wäre in weite Ferne gerückt. Aber sein Bruder war so mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, ruhig und gelassen. Schon jetzt wusste er, dass Lisarehm nachfragen würde, wie es ihm ging, ihn besorgt anblicken und sich erkundigen würde, wie er ihm helfen konnte. Es gab Momente, da zog er Lisarehms Gegenwart der seiner Schwester vor, jene Tage, wenn er Ruhe und Zeit zum Nachdenken brauchte, aber nicht jetzt.
Dennoch folgte er dem Vorschlag seiner Tante und verließ mit seinen Wachen den Turm der lachenden Frau, um durch die verspiegelten Gänge über Jinuvs Halle zum Westflügel zu gelangen, wo sich die Gemächer seines Bruders befanden.
Und es kam genauso, wie er es erwartet hatte. Lisarehm fragte ihn, wie es ihm ging und so erzählte er von seinem Traum. Doch bevor Lisarehm seine Meinung dazusagen konnte, wurden sie von Nisirehms Beratern unterbrochen. Besiur, der Truchsess höchstpersönlich ließ sich ankündigen und stürzte heran. Schweißtropfen glänzten auf seiner Stirn. Der kleine Mann war in höchster Aufregung.
„Mein Prinz. Es gibt Neuigkeiten, die Eure sofortige Anwesenheit im Thronsaal erfordern.“
Sogleich sprang Nisirehm auf. Bisher hatten sie sich noch nie im Thronsaal versammelt, der in Abwesenheit seines Vaters verwaist war. Stattdessen waren die Angelegenheiten des Fürstentums in kleineren Versammlungs- und Ratsräumen geregelt worden.
„Wird meine Anwesenheit ebenfalls benötigt?“ Lisarehms ruhige Stimme drang durch die Hektik, die sich breit gemachte und ließ seinen Bruder innehalten.
Besiur zog ein Tuch hervor und begann sich die Stirn abzutupfen.
„Ja.“ Er zögerte. „Dies wird auch Euch beschäftigen, Prinz.“
Nachdem sich Nisirehm auf dem Thron des Fürsten niedergelassen hatte und sein Bruder neben ihm saß, wurde der Bote hereingeführt. Er sah lächerlich aus, dass wusste Nisirehm, er spürte es in den Blicken, die ihm die Mitglieder des Rates zuwarfen. Die drei Vertreter des Tempels, ein Jinuv-Priester mit dem Namen Tuvos, der Viandav-Priester Jarisos, sowie die einzige Frau in der Runde, die Mintasath-Priesterin Fialat tuschelten miteinander. Dabei ignorierten sie die Autorität des Prinzen vollends. Immerhin schwieg der zweite Viandav-Priester, Kanzler Swerolas, was jedoch auch an seinem Alter liegen mochte. In sich zusammengesunken saß er da und da sein Augenlicht in den Schattentagen seines Lebens so weit geschwunden war, dass er die Dokumente, die zu verwahren er verpflichtet war, nicht mehr lesen konnte, saßen zwei weitere junge Priester an seiner Seite. Schatzmeister Hanieg und Besiur saßen so weit auseinander, wie es ihnen möglich war, denn verabscheuten sich die beiden bekanntermaßen. Dennoch erfüllten sie ihre Aufgaben, so dass Antirehm ihnen ihr Amt belassen hatte. Zwei Plätze blieben leer. Darijar-Si, der gewöhnlich an der rechten Seite des Fürsten saß, war mit dem Fürsten gezogen. Genauso Ravineg, der Stallmeister, ein ernster und pflichtbewusster Mann, mit dessen Söhnen Nisirehm unterrichtet wurde.
Einzig und allein Lisarehm, dessen ruhige Atemzüge er neben sich vernahm, beruhigte ihn und half ihm, sich auf das vorzubereiten, was nun kommen möge.
Der Bote, der hineinkam, war gut gekleidet und trug die Frisur eines niederen Adeligen.
Vor dem Thron verneigte er sich zunächst und warf sich dann nieder.
„Mein Herr! Ich bringe Nachricht aus Tijosos.“
Nisirehm richtete sich auf. Tijosos war eine der acht Grafschaften, die momentan zu Kantigark gehörten und wurde von dem jüngeren Bruder seines Vaters regiert. Sie lag nordöstlich von Kantigark, besaß fruchtbares Land und zudem den größten Hafen des Fürstentums, in dem die fürstliche Flotte vor Anker lag.
„Euer Oheim Joressrehm ist verstorben.“ Joressrehm. Er hatte den Mann gemocht, der weniger ernst als sein Vater gewesen war und ebenso gemalt hatte wie er selber. Häufiger hatte Joressrehm ihm neue Farben mitgebracht, wenn er in Kantigark zu Besuch gewesen war.
„Wie ist er gestorben?“
„Er stürzte bei einem Ritt und erlag noch am darauf folgenden Tag seinen Verletzungen.“ Konnte das wirklich sein? Nisirehm erinnerte sich noch an die Schreie, die an jenem Tag über den Hof und durch die Gänge gehallt waren. Die Fürstin! Sie ist gestürzt! Das Kind, es kommt zu früh. Es war jener Tag gewesen, an dem sein Bruder geboren und seine Mutter gestorben war. Damals war es ein Pferd gewesen und jetzt schon wieder.
„Was ist mit seiner Frau? Seinen Kindern?“
Verwirrt blickte der junge Mann auf. „Ihnen geht es gut. Sie weilen noch in der Feste.“
„Noch, noch.“ Besiur sprang auf. „Wenn die Nachricht im Fürstentum bekannt wird, werden die Aasgeier sich rasch sammeln. Graf Flojareg wird ohne zu zögern, nach Tijosos einmarschieren, sich das Land einverleiben und seinen ältesten Sohn entweder mit der Mutter oder gleich mit einer Tochter vermählen. Sofern ihm nicht die Grafen von Matorl und Lantey zuvor kommen, versteht sich. Wir müssen sogleich handeln, wenn wir einen Bürgerkrieg vermeiden wollen.“
„Ich sagte Jirassam schon beim letzten Mal“, hob Hanieg seine Stimme, „Dass er sich eine Zweitfrau nehmen soll. Zwei Töchter hinterlässt er und keinen Sohn…Seine Frau, das letzte Mitglied ihrer Familie. Natürlich gibt das ein Unglück.“
„Redet nicht so von meinem Oheim“, befahl Nisirehm, auch wenn seine Stimme nur halb so laut war, wie die des Schatzmeisters. Doch es war Hanieg, der ihn zumindest akzeptierte, ihn – oder die Rolle, die er einnahm.
„Dann sagt uns, was wir tun müssen“, mischte sich Fialat ein und fügte ein Prinz hinzu, das höchst verächtlich klang.
Der Prinz ging nicht auf diese Stichelei ein. Was nun, Vater? Ihr habt versprochen, dass ihr spätestens am heutigen Tag heimkommt und habt mir geraten, aufzuschieben, was aufzuschieben geht. Doch das hier lässt sich nicht aufschieben. Was soll ich nur tun? Es waren seine Basen, die hier in Gefahr waren.
„Das Recht des Fürsten muss durchgesetzt werden“, verkündete er laut, „Und wenn der Fürst abwärts unterwegs ist, spreche ich in seinem Namen. Schickt Soldaten, die dafür sorgen, dass der Leichnam meines Onkels hierher gebracht wird, denn er soll seine Ruhestätte bei den Mitgliedern seiner Familie finden. Zugleich geleiten diese sein Weib und seine Töchter hierher. Bis der Fürst zurück ist, wird die Grafschaft unter die Verwaltung Kantigarks gestellt.“
„Gebt den Befehl einem fähigen Mann, dem ihr vertrauen könnt“, forderte Swerolas mit zitternder Stimme. „Das Recht des Fürsten und der Götter muss durchgesetzt werden
Alle nickten bestätigend. Es war ja auch sinnvoll und richtig. Dennoch war da etwas in ihm, dass Unwohl verursachte und ihn sich misstrauisch umsehen sah.
„Genau, einem fähigen Mann!“ Hanieg lächelte dem Sohn seines Fürsten zu. „Wie wäre es mit dem Anführer Eurer Wache? Wie heißt er noch gleich? Sinijar.“
Schickt Eure Wachen nicht weg, um nichts in der Welt. Sie sind der Schild, der für Eure Sicherheit garantiert. Er sah zu seinem Bruder, der mit gerunzelter Stirn zu Hanieg blickte. Er sieht es auch! Nur was ist es?
Er musste etwas antworten, sonst würden sie ihn für schwach und unentschlossen halten. „Es stimmt, dass Sinijar ein zuverlässiger Beschützer ist, der seine Aufgabe vortrefflich erfüllt. Nur wäre er auch für eine diplomatische Mission geeignet, die vielleicht erforderlich wäre? Ich wage es, zu bezweifeln.“
Dieses Mal war es Jarisos, der zuerst antwortete. „In erster Linie ginge es doch um den Schutz der Gräfin und ihrer Kinder und für dies ist Sinijar ohne jeden Zweifel reichlich qualifiziert.“
„Aber die Sicherheit einer Gräfin einem einfachen Soldaten anzuvertrauen, ist einfach unverantwortlich.“ Viaras betonte das letzte Wort in jeder einzelnen Silbe und kostete sie aus. „Das gehört sich einfach nicht!“
„Aber wenn es doch um ihre Sicherheit geht, sollte man meinen, dass die Frage der Herkunft…“ Diese Worte stammten von Fialat, die, wenn man den Gerüchten Glauben schenken wollte, dem Bürgertum entstammte. Somit hätte die Priesterin ein berechtigtes Interesse sich dafür einzusetzen, und dennoch…Er ließ sie diskutieren, während er selber nachdachte.
Es ist so statisch, ihre Meinung sind fertig gebildet, so als wäre es abgesprochen und sie würden nur noch einen Text vorsprechen. Aber warum? Weil sie wollen, dass Sinijar verschwindet. Nur wofür?
Ohne auf seine Ratgeber zu achten, erhob Nisirehm sich.
„Es ist mein Wille, dass - Hanieg - Euer Sohn Trejar, der als Hauptmann treu und gut dient, mit Njuseg, dem Sohn des abwesenden Ravineg, den Oberbefehl über fünfzig Mann erhält und sogleich aufbricht, damit der Gerechtigkeit und Sicherheit des Fürsten und der Götter genüge getan wird.“ Ohne die Worte des Protests, die sogleich ausbrachen, zu beachten, verließ Nisirehm, gefolgt von seinem Bruder, den Thronsaal.
„Meine Beine zitterten so sehr, dass ich fürchtete, ich fiele“, gestand Nisirehm, als die Geschwister durch den Gang der Hoffnung liefen.
Lisarehm musterte ihn. „Werden sie sich weigern?“, fragte er schließlich. „Und was tust du, wenn sie es tun?“
„Das werden sie nicht“, erwiderte der Ältere, der sich so viel jünger fühlte. Erinnere dich an den Schädel! Vergiss ihn nie. Niemals soll dies wieder geschehen. „Es war nur eine Kleinigkeit, bei der sie sich ausprobieren wollten. Sie wollten nicht weiter gehen, so als…“ Er hielt inne. Seine Hände glitten über die Blätter der Steinblüter. Es war erst der Beginn der Nacht und so war ihr Licht noch schwach, aber schon jetzt krochen blau, grün und lila die Wände hinauf und spielten mit den Schatten. Nisirehm drehte sich zu seinem Bruder um. Dunkelheit um ihn herum.
„Was ist?“
Seine Hand ballte sich um eine Blüte. Schmerz durchfuhr seine Hand, als ein vereinzelter Dorn, den die Gärtner wohl übersehen hatten, sich mit dem Fleisch vereinte. Blut tropfte zu Boden. Ein Makel auf den ansonsten reinen Fliesen.
„…ob uns etwas bevorstehen würde. Sie wollten mich von Sinijar trennen, verstehst du? Meine Wache, sie wollten, dass ich in nächster Zeit mit geringerer Bewachung auskomme! Wieso?“
Ein anderer hätte gesagt, dass dies ein Zufall oder ein Missverständnis wäre und diese Theorie nur ein Hirngespinst. Doch es war Lisarehm, der neben ihm ging. Und sein Bruder nickte, was für ihn mehr Anerkennung war als jedes ausschweifende Wort seiner Ratgeber.
Zwei Diener, die mehrere Deckenstapel trugen, kamen soeben an ihnen vorbei.
Nisirehm winkte sie heran.
„Lasst Eure Arbeit liegen und schickt nach Sinijar. Er soll sogleich in meine Gemächer kommen, egal, was er gerade tut.“ Ohne zu zögern, ließen die beiden jungen Männer ihre Deckenstapel liegen, verneigten sich und gingen auf ein Zeichen des Prinzen hin ihren Auftrag erfüllen.
Ohne anzuklopfen, kam Sinijar herein. Er war ein großer, kräftiger Mann mit einer Narbe über der linken Wange und einer von der Sonne ungewöhnlich stark verbrannten Haut. Einmal hatte Nisirehm seinen nackten Rücken erblickt und die Narben, die ihn dort zierten, als ob er einst ausgepeitscht worden war. Selten sprach er von seiner Familie oder Vergangenheit und noch seltener von dem, wovon er träumte und was er sich wünschte. Jedoch diente er Antirehm seit drei Schattentagen herausragend und hatte nie Zweifel an seiner Treue aufkommen lassen, so dass er innerhalb von kürzester Zeit zum Anführer von Nisirehms Wache aufgestiegen war.
„Wie kann ich Euch dienen, Prinz?“ Er hatte eine knappe, prägnante Sprache, die manchmal anmaßend erscheinen konnte, Nisirehm jedoch gefiel. Man kam mit ihr viel schneller zum Ziel, als bei der ausgefeilten, komplizierten Sprache der Politik und hohen Gesellschaft.
Rasch erklärte er die Situation und ließ sich von Lisarehm ergänzen.
Normalerweise fiel es ihm schwer, in Sinijars Gesicht zu lesen, doch jetzt war es ohne jeden Zweifel Sorge, die es zeichnete.
„Es ist ein kurzfristiges Ereignis, das sie beschäftigt. Wenn Euer Oheim nicht gestorben ist und diese ganze Aktion erdacht ist, würde es spätestens auffallen, wenn die von Euch geschickten Soldaten Euren Oheim gesund auf seinem Thron vorfinden werden. Weshalb auch immer, sie mich auch immer aus dem Weg haben wollten – wenn sie es denn vorhatten – es wird bald geschehen.“
„Glaubst du mir nicht?“
Sinijar musterte ihn. „Es ist gleich, was ich glaube oder nicht, Prinz. Meine Aufgabe ist es, für Eure Sicherheit zu sorgen und genau das werde ich tun.“ Für einen kurzen Moment hielt er inne. „Die Wachen werden verdoppelt werden, ich werde mir den Boten vornehmen und meine Männer nach Ungewöhnlichkeiten Ausschau halten lassen.“
Auch wenn Nisirehm Ersterem nicht zustimmte, nickte er nur. „Habt Dank.“
„Ich tue nur meine Pflicht.“ Nach einer Verbeugung, die ebenso knapp ausfiel wie seine Gesprächsbereitschaft, verließ er sie.
Sinijar mochte seine Pflicht kennen und gemäß ihr handeln, aber wer konnte Nisirehm schon sagen, was die seine war? Herrschen? Regieren? Wieso nur fühlte sich all das hier so unbefriedigend an? Wieso nur wollte er nur fort von hier, sich hinter seinen Farben und Pinseln verstecken und einfach nur eintauchen in die Welt seiner eigenen Gedanken? Stattdessen entglitt ihm alles mehr und mehr. Erneut stand er am Rande des Abgrunds, wusste dass dieser da war und dass er fallen würde, aber nicht nach wie vielen Schritten.
Fallend.
Ertrinkend.
Mit einem Licht, das er nicht sah.
„Was soll ich tun?“, fragte er seinen Bruder, der immer noch da stand, still und beobachtend.
Schweigen.