Wenn Tiruah schreibt, dass die Tiakar keine Kultur haben und deshalb dem Gesetz nach unter unserem Volk stehen müssen, widerspricht sie sich selbst. In Wege des Fortschritts definiert sie Kultur als alles, was ein Mensch gestaltend hervorbringt und was nicht unmittelbar lebensnotwendig ist, sondern bewusst Freude bringen soll. Die tiakarische Poesie kannte Stabreime und Metrum schon, bevor Rivoros, den wir so sehr verehren, geboren war. Ihr Skolasepos ist genauso wie unser Lied der vierundvierzig Gesänge eine schriftstellerische Meisterleistung. Es ist richtig, dass wir kaum architektonische Zeugnisse ihrer Frühzeit haben, doch umfasst Kultur, wie Tiruah richtig feststellt, mehr als nur prächtige Gebäude zu errichten. Somit ist ihre These nichtig und die tiakarische Kultur steht der unserem in nichts nach.
Aus Mirvuh, Hohepriesterin der Eandelath: Ansichten über die Tiakar in der jüngeren Tempelliteratur, Kapitel 7: Das Absprechen von Kultur und die dargestellte Minderwertigkeit in jüngeren Texten, veröffentlicht im 4. Schattentag des Eraz, MAE
Aus den Augenwinkeln musterte Melram Havina, der neben ihm ging. Der Suchende Priester war ein gutaussehender, junger Mann. Seine Haut war hell, fast durchsichtig, so dass die blauen Adern darunter durchschimmerten, sein Körper schlank und zugleich kraftvoll. Kein Bart schmückte sein Gesicht, stattdessen war er glattrasiert wie die meisten Priester, während sein gewelltes Haar bis auf die Schulter hinab fiel. Es hatte die Farbe reines Silbers und war nicht durchsetzt von einzelnen, dunkleren Strähnen, wie es häufig der Fall war. Ein einzelner Zopf, der denjenigen ähnelte, die der Hochadel trug, zeigte, dass er noch kein vollwertiger Priester war. Der einzige Unterschied bestand darin, dass beim Hochadel die vorderen Strähnen beider Seiten nach hinten gebunden wurden, während Havina Haare vom Hinterkopf genommen hatte.
Seine Kleidung allein war mehr wert als Melram je besitzen würde. Die Schlichtheit des Byeros in Brau und Grau, den er zu tragen verpflichtet war, komprimierte Havina mit einem prachtvollen Rolinke, einem Umhang der höheren Schichten, der nach neuster Mode in zwei Farben geteilt war. Links ein helles Grün, rechts ein dunkles, fast schwarzes Blau. Bei seinem Mindo, ein knielanges Hemd, das auch Melram trug, waren die Farben genau andersrum. Er schien sich viel damit zu beschäftigen, wie er sich kleidete und nichts daran wirkte fehl am Platz.
Und das ist der Mann, dem du das Schicksal deiner besten Freundin anvertraut hast, dachte er, während ihre Schritte durch die Gassen hallten. Er traute Havina nicht wirklich. Aber das galt für alle Priester. Nur konnte er es sich nicht leisten, dessen Angebot abzulehnen.
Kurz darauf erreichten sie das westliche Stadtgefängnis unterhalb des Jinuvshügels. Es befand sich zentral unterhalb der Burg. Hier warteten die größten Verbrecher auf ihre Strafe, diejenigen für deren Taten häufig die Todesstrafe verhängt wurde. Im Volksmund wurde es der ‚Knochen’ genannt, auch wenn niemand mehr genau wusste wieso. Es war ein flacher, unauffälliger Bau mit nur einem einzigen schmalen Eingang, vor dem zwei Soldaten der Stadtwache Dienst hatten. Hinter der Brüstung des Flachdaches standen weitere von ihnen, dazwischen blitzte das Gold von den Helmen der Götterschildler auf.
„Seit wann sind die Goldenen hier?“, zischte Melram seinem Begleiter zu, einen deutlich mehr passenden Ausdruck schluckte er rechtzeitig wieder hinunter.
„Das ist Tempelrecht“, lautete die Antwort, „Sie sind immer da.“ Die Art, wie Havina die Worte aussprach, erinnerte Melram daran, dass er vorsichtig sein musste. Havina war ein Priester und man wusste nie, was für ein Spiel diese spielten.
„Aber nicht in dieser Anzahl“, knurrte er, blickte zu den Götterdienern hinauf und verfluchte die Tatsache, dass Havina ihn überredet hatte, seinen Dolch daheim zu lassen.
„Tue nichts Unüberlegtes, sondern halte dich an den Plan“, zischte der Priester, während sie offen auf das Gebäude zumarschierten. Sein Mitverschwörer ging aufgerichtet und mit einer Lockerheit, die Melram beneidete. Er selbst spürte, wie seine Hände zitterten, sein Atem stockte und Schweiß seine Stirn nässte.
Immer näher kamen sie, bis er die Scharten in den Speeren sehen konnte, mit denen die Wächter bewaffnet waren. Schritt für Schritt. Er konnte ihre Blicke spüren, wie Dolche, die seine Absichten aus seinen Gedanken herausschnitten. Sie mussten es doch sehen. Die Gefühle hinter seinen Augen, die ihn vorwärts trieben, obwohl er selbst sie nicht lesen konnte.
Aber der befürchtete Zusammenstoß geschah nicht. Sie traten einfach durch die Wachen hindurch und Melram musste sich zwingen, keinen Satz zu machen, um rasch aus der Reichweite der Waffen zu gelangen. Sie überschritten die Schwelle und eine Welle der Anspannung ebbte in Melram ab, nur um gleich darauf wieder anzusteigen, als er die beiden Männer erblickte, die sich in dem Hauptraum befanden. Sie saßen gemeinsam an einem auf einem Podest erhöhten Tisch, der den Raum in zwei Hälften teilte und Melram sich automatisch als ein Bittsteller fühlen ließ. Der eine trug das Band eines Hauptmannes im grauen Haar, blickte wachsam auf die Ankömmlinge und musterte sie genau. Neben ihm saß ein Bareslav-Priester, der genauso bewaffnet, aber deutlich jünger war. Als er seinen Priesterkollegen erkannte, hellte sich sein Gesicht auf und er legte die Akten beiseite, mit denen sie sich zuvor wohl beschäftigt hatten.
„Womit können wir Euch dienen?“, fragte der alte Hauptmann, die Stimme mürrisch und unfreundlich. Kein Wunder, dachte Melram, wer in dem Alter noch als Hauptmann dient, hat einige Beförderungen verpasst und versauert in einem Gefängnis.
Melram überließ Havina das Reden, hielt sich im Hintergrund und versuchte, die Gefahren der Situation einzuschätzen. Zwar waren keine weiteren Männer zu sehen, aber wer wusste, wie viele von ihnen sich in den Gängen unter dem Gebäude noch verbargen. Selbst wenn – zwei Männer könnten diese enge Kammer, deren Breite schon durch einen einzigen Tisch erreicht wurde, lange verteidigen. Und dennoch was machte das schon? Hiratja war irgendwo da unten und brauchte ihn.
Er war erleichtert, dass Havina sprach, seine eigene Stimme hätte sich mit ihrer Ungeduld nur allzu leicht verraten.
„Wir haben Anweisung eine Gefangene, Moment“ Der Priester holte einen Zettel hervor, auf dem Melram nichts mehr als wirre Zeichen, die ihm nichts sagten, sehen konnte und las ab, „mit dem Namen Hiratja zu verhören.“
„Welchen Verbrechens ist sie angeklagt?“, mischte sich der Bareslav-Priester ein, ob er etwas ahnte, konnte Melram anhand der Stimme allein nicht erkennen.
„Illegalem Bücherhandel“, entgegnete Havina gelassen.
„Ah, ich erinnere mich an dieses Weib“, meinte der junge Gottesdiener, „Grausig, wenn man sich vorstellt, welche kostbaren Werke durch diese schmuddeligen Hände besudelt worden sind.“ Hinter seinem Rücken ballte Melram die Fäuste, bis die Nägel in das Fleisch seiner Handflächen schnitten.
„Ja“, stimmte Havina mit einem Kopfschütteln zu, „Schrecklich, was das Gesindel sich heutzutage alles traut.“ Er setzte eine angespannte Miene auf. „Und du kannst sicherlich verstehen, dass herausgefunden werden muss, woher diese blasphemischen Gedanken kommen.“
„Bist du dafür nicht etwas zu jung?“, fragte der Priester ungewöhnlich offen – obwohl er selber nicht viel älter als Havina war.
Jetzt lächelte Melrams Begleiter etwas verhalten. „Es ist eine Idee, die aus dem Eandelath-Hochtempel herübergeschwappt ist. Die demütigste Hohepriesterin Mirvuh lässt alle Suchenden Priester die Gefängnisse besuchen.“
„Und deiner war davon angetan?“
„Richtig“, meinte er und zuckte mit den Schultern.
Der am Tisch sitzende Graubart runzelte die Stirn.
„In die Belange der Priesterschaft mische ich mich nicht ein“, erklärte er und ein Lächeln huschte dabei über das Gesicht des Bareslav-Priesters, das erkennen ließ, dass die beiden gut befreundet waren.
Er reichte dem Priester einen Schlüssel. „Panas wird Euch hinführen.“
Panas entpuppte sich als ein junger Priester, der sich mit Havina in ein angeregtes Gespräch über die aktuelle Tempelpolitik stürzte.
Melram hörte nicht zu. Er sah nur das Kurzschwert des Priesters und die Treppenstufen, die sie hinabstiegen. Immer tiefer schritten sie die Treppe, die von dem Vorraum in den Bauch der Erde führte, hinab. Tiefer und Tiefer. Und irgendwo wartete Hiratja.
Sie erreichten einen weiteren Raum, deutlich kleiner als der oben und ohne natürliches Licht. Sechs Soldaten saßen im Kerzenlicht eng gedrängt bei einem Kartenspiel an einem Tisch, erkanten Panas und erhoben sich, um die beiden Priester zu begrüßen und ihnen Ehre zu erweisen.
„Gefangenenbefragung?“, fragte ein älterer Mann.
„Richtig, die kleine Tiakar ganz hinten“, antwortete Panas.
Respektvoll neigte der Soldat den Kopf. „So sei es.“
Panas gab ihnen das Zeichen, sich wieder zu setzen. Leise klirrten dabei die Waffen. Die Kurzschwerter, mit denen die Männer bewaffnet waren, würden hier nicht viel helfen, beobachtete Melram. Der Raum war viel zu eng und mit dem Tisch zu vollgestellt, um sie richtig einzusetzen. Hier brauchte es ein gut gehandhabtes Messer, Körperkraft und rasche präzise Schläge. Aber dafür müsste er schnell handeln und sie überwältigen, bevor sie reagieren könnten. Zwei Männer mindestens. Auf diesem engen Raum könnte er nicht rasch fliehen. Es gab nur einen Ausgang: Den, den sie gekommen waren und eine Tür, die weiter ins Innere führte und in einen Gang mündete.
Melram war noch nie hier gewesen, aber er wusste, dass es nur ein kleines Gefängnis war. Gewaltsam war das Gebäude in den Erdboden getrieben worden. Tief unter der Erde wurden die schlimmsten Verbrecher, die es dem Gesetz nach in Eletak gab, verwahrt, um sie später dem Recht der Götter zu überantworten.
Er überlegte, wie man bei einer Befreiungsaktion am klügsten vorgehen konnte, kam jedoch zu keiner Lösung, je mehr er sah. Es gab nur den einen Eingang und der Gefangenentrakt war wie ein Schlauch aufgebaut, bei der sie noch mehrmals Wachkammern durchqueren mussten, bevor endlich Hiratjas Zelle erreichten. Es war die hinterste Zelle, auf die der Priester zusteuerte. Ratten huschten davon, das dutzendfache Trippeln hallt laut von den Wänden wieder und mischte sich mit dem beständigen Tröpfeln des Wassers. Melram sah zur Decke. Es versickerte, was bedeutete, dass die Decke durchlässig sein musste. Deckte sich der unterirdische Trakt vollständig mit dem oberen Stockwerk oder gäbe es wohlmöglich eine Möglichkeit, die Decke zu durchbrechen? Aber selbst wenn. Das würde Zeit brauchen. Zeit, die er nicht besaß.
Leise fluchend folgte er den beiden Priestern. Schließlich vergaß er selbst, sich umzusehen, weil sie endlich die Zelle erreichten. Die Zellenwände waren aus demselben Stein alles hier – Kantigark lag eben im Gebirge. Die Tür bestand aus Eisenstangen, sorgfältig und dick geschmiedet bildeten sie ein Gitter, das sich nur schwer bewegen ließ. Er konnte Hiratja sehen, wie sie aufsprang und auf Aufforderung an die Rückseite der Zelle trat.
Der Schlüsselbund des Bareslav-Priesters klirrte verheißungsvoll, als er die Tür aufschloss.
„Meine Güte. Sehen die Tiakar nicht blasphemisch aus? Allein mit ihrem Aussehen sind sie eine Beleidigung für die Augen der Götter!“, bemerkte Havina.
Der andere Priester, dessen Namen Melram schon vergessen hatte, antwortete: „So ist es. Der Zorn Viandavs verlangt, dass wir uns vor der Sonne verbergen. So ist es gegeben und so soll es sein.“ Anklagend hob er den Finger. „Die Tiakar brechen dieses Gebot tagtäglich. Ihre dunkle Haut ist ein Zeichen, dass Viandav sie verstoßen und mit seinem Makel gekennzeichnet hat.“ Die Fingernägel schnitten Melram tief in seine Handinnenflächen. Es war Hiratja, die ihm half, sich zu fokussieren. Er blickte auf sie und fand in dem Zorn in ihrem Gesicht die Bestätigung für seinen eigenen. Dunkel glänzte es, die eine Hälfte im Schatten verborgen, die andere Seite schimmernd im Licht der Fackeln. Schwarz und entflammt. Beides in einem.
„Kein Wunder, dass dieses Weib keines Respekt vor den heiligen Büchern hatte.“
„Wollen wir jetzt mit der Befragung beginnen?“, mischte er sich in das Gespräch mit ein, die Hände demütig hinter den Rücken gelegt, um das Zittern zu verbergen.
Havina wandte sich ihm zu. „Natürlich.“ Er klopfte dem Priester auf die Schulter. „Verzeiht Panas, aber es scheint, als sollte ich mich, so sehr ich das Gespräch mit dir auch genieße, mich nun meinen Pflichten zuwenden.“
„Gewiss.“ Panas musterte zuerst Havina, dann Melram. „Braucht ihr noch irgendetwas?“
Sie hatten ihre Waffen alle abgeben müssen, also war seine Frage berechtigt, aber Havina schüttelte den Kopf.
„Tiakar sind Feiglinge, das weiß jedes Kind. Dafür braucht es nicht viel.“
Der junge Priester zuckte mit den Schultern. „Wie ihr meint. Ich werde in der nächsten Wachstube warten. In die Angelegenheiten anderer Tempel mische ich mich nicht ein.“
„Was sehr klug von dir ist.“ Havina lächelte kurz, wartete bis der Mann einige Schritte entfernt war, dann trat er in die Zelle. Melram folgte ihm, den Blick immer noch auf seine beste Freundin gerichtet.
„Hiratja!“ Er wollte auf sie zu rennen, riss sich aber nach einem raschen Seitenblick auf Havina zurück. Langsam ging er auf sie zu, sog ihr Bild, ihre Gegenwart in sich ein.
„Wie geht es dir?“, fragte er.
Äußerlich schien sie nicht schwer verletzt zu sein. Ihre Kleidung war schmutzig, ihr Haar zerzaust und einige Blutergüsse und Kratzer zierten ihr Gesicht.
Sie lächelte.
„Das ist Kantigark, mein Lieber, eine sanfte Mutter im Vergleich zu der Räuberin Hasuhar.“ Sie versuchte ihn zu beruhigen, seine Sorgen zu nehmen, aber er wusste, dass auch dieser Gefängnisaufenthalt Spuren hinterlassen würde.
Dennoch ging er auf ihr Spiel ein. Sie beide waren allzu gut darin, ihre Ängste voreinander zu verbergen.
„Dann bin ich froh, dass es nur Kantigark ist“, entgegnete er mit einem aufgesetzten Lächeln, „Immerhin wirst du jetzt nicht nach Hasuhar ziehen können, um dort Handel zu treiben. Du wirst also nicht in Gefahr laufen, dem dortigen Gefängnis einen Besuch abzustatten.“
„Das war auch nie mein Ziel“, erklärte sie ungewöhnlich Ernst. Er wusste, dass in diesem Moment etwas aus seiner Vergangenheit sie einholte.
„Was ist dort geschehen?“, fragte er, auch wenn ihre Zeit knapp bemessen war.
Sie blickte ihn an. Ihre Augen waren dunkel wie die Nacht. Verletzlich. „Mein Vater war dort. Er konnte entkommen, aber war er danach nie mehr derselbe.“
Halte diesen Moment fest! Sie sprach selten von ihrer Familie und immer nur in der Vergangenheit. Er drückte ihre Hand.
„Das wird dir nicht geschehen“, versprach er, „Ich werde dich befreien.“
„Du, Melram?“ Sie lächelte und er hatte das Gefühl, das sie ihn nicht ernst nahm.
„Ja!“ Sein Blick verfing sich in ihrem Haar. Kraus und verfilzt hing es ihr offen über die Schulter. In seiner Kultur trugen es nur die Priesterinnen so.
„In zwei Tagen ist Bareslavs Fest, da werden alle trunken sein.“
„Ach, Melram.“ Manchmal erschien sie ihm so viel älter. „Du weißt nichts von der Welt und wie sie funktioniert. In zwei Tagen wird vieles geschehen sein.“ Sie wusste etwas, genauso wie Lubiam.
„Die Tiakar“, fiel ihm ein, „Sie verlassen die Stadt. Weißt du etwas darüber?“
Ihr Blick verlor sich in der Ferne. Jetzt war sie bei ihrem Volk, trieb sich über ferne Märkte und kämpfte sich durch die Wüste.
„Es ist eine Versammlung einberufen worden“, begann sie leise, „Ich wollte auch zu ihr, deshalb sind einige in letzter Zeit aufgebrochen. Doch die kurzfristigen Aufbrüche liegen an dem Heer, das Kantigark entgegen reitet. Ein Heer, das vom Hohepriester höchstselbst angeführt wird. Noch heute werden sie in der Stadt sein. Meine Leute aus der Wüste haben die Entdeckung weitergeleitet.“
Er starrte sie an. Und in diesem Moment nahm er sie zum ersten Mal bewusst als erwachsene Frau wahr. Sie mochte sich im Gefängnis befinden, aber ihre Körperhaltung war die einer Frau, die den Überblick hatte, einen Plan und ein Ziel hatte. Für ihn waren ihre Reisen immer nur eine Zeit gewesen, in der sie fort gewesen war, aber nun erkannte er, dass sie sich eine Machtbasis aufgebaut hatte. Vielleicht war sie klein, aber sie war mehr als Melram hatte.
„Hiratja, ich…“ Er brach ab. Was sollte er auch sagen. Bisher hatte er sich immer als den Älteren, den Erwachsenen, Vernünftigeren gesehen, der sie zwar als gleichberechtigt ansah, aber doch eine leitende Position einnahm. Nun stellte er fest, dass er die ganze Zeit das Kind gewesen war, das nicht erkannt hatte, was um es herum geschah. Und doch…
Er stöhnte auf. „Hiratja, ich kann dich doch nicht einfach hier lassen.“
Sie trat auf ihn zu, ihre dunklen Augen spiegelten Bilder, die er nicht zu sehen vermochte.
„Du musst und wirst gehen, Melram. Habe keine Angst um mich, sorge dich um deine Familie. Deine Geschwister und deine Mutter brauchen dich…in dieser Zeit.“
Die Art, wie sie die letzten Worte betonte, ließ ihm Schauer über den Rücken laufen.
„Ich kann nicht.“ Er schüttelte den Kopf, blickte sie nur an, so viele Erinnerungen im Kopf, dass ihm schwindlig wurde von dem Glück, sie zu haben und der Angst, sie zu verlieren.
„Melram!“ Da war der Ärger in ihrer Stimme, das Feuer, die Kämpferin. Im ersten Moment war er froh, dass es die Kriegerin und nicht das Mädchen war, dem er gegenüberstand, aber kurz darauf wünschte er sich, dass sie ihn um Hilfe fragen würde, ihn an die Hand nehmen würde, um sich gemeinsam durch die Wachen da draußen zu kämpfen.
Mit einem Schritt überwand er die Distanz zwischen ihnen, stand ihr so dicht gegenüber, dass er die schmale Narbe oberhalb ihrer rechten Augenbraue sah. Havina war vergessen. Er ergriff ihre Hände und wunderte sich zugleich selbst über seinen Mut.
„Ich hole dich hier raus, ich verspreche es dir.“
Hiratja lächelte und entwand ihre Hände den seinen. Noch lange danach konnte Melram die Wärme ihrer Finger spüren. Stumm starrte er auf die Distanz, die sich wieder zwischen ihnen aufgetan hatte.
„Mache dir um mich keine Sorgen. Meine Leute werden mich befreien. Bleib du bei deiner Familie.“ Ihre Leute. Und er war kein Teil von ihnen. Sie verließ sich mehr auf ihr Volk als auf ihn, ihren einzigen und besten Freund hier.
„Bitte Melram, glaub mir. Du bist nicht geschaffen für ein Leben jenseits des Gesetzes. Du gehörst hierher.“
„Das Mädel ist vernünftig“, erklang Havinas Stimme hinter ihnen.
Melram zuckte zusammen und rückte von Hiratja fort. Die Anwesenheit des Priesters hatte er völlig vergessen.
Oh, wie Melram Menschen hasste, die sich überall so bewegten, als ob ihnen der Ort gehörte. Havina war einer von diesen. Wenn man seine eleganten trippelnden Schritte beobachtete, könnte man meinen, er befände sich auf einer Tanzbühne und nicht in einem Gefängnis.
„Wir sollten jetzt gehen.“ Auf einmal verspürte er eine unglaubliche Wut auf den Priester, der mit ein paar Worten jederzeit zu Hiratja gelangen konnte, während er…er trotz seiner Worte den Umständen gegenüber völlig machtlos war. Ihm gelang es ja gerade, seine Familie zu ernähren.
Im Versuch ihn zu ignorieren, drehte er sich zu Hiratja um.
„Ich verspreche es dir.“
„Geh jetzt, Melram.“ Wie konnte sie das nur sagen? Sie brauchte ihn doch!
„Aber ich komme wieder.“
„Melram, bitte.“ Seine Freundin wirkte eher wie eine Königin denn wie eine Gefangene. Aber Bewegungen, die bei Havina überzogen aussahen, waren bei ihr elegant, Worte, die aus seinem Mund unsinnig klangen, ließ sie weise wirken,
Sie lächelte. „Pass auf dich auf, Melram.“
„Das werde ich“, entgegnete er mit rauer Stimme.
Havina schob ihn hinaus und rief nach dem Priester, damit dieser die Tür wieder abschloss. Es fühlte sich wie ein Verrat an, dass er ging, obwohl er versprochen hatte zu bleiben und sich um sie zu sorgen. Sie brauchte seine Hilfe, auch wenn sie es anders sagte, das wusste er. Das Klicken der Eisenstangen ließ Melram zusammenzucken und die abfälligen Kommentare des Mannes ihn zornig werden. Immer wieder beobachtete er Hiratja, während sie den Gang entlangliefen und der Zugang zur Zelle immer kleiner wurde. Da waren noch andere Zellen mit anderen Menschen, aber wirklich wahrnehmen tat er nur Hiratja. Als sie die Treppe erklommen und wieder hinaufstiegen, fühlte es sich an, als hätte er einen Teil von sich verloren.
„Du hast einen sehr schweigsamen Begleiter“, merkte der Priester soeben an.
Melram blickte den Mann feindselig an.
„Oh ja.“ Havina grinste. „Nicht sehr gesprächig ist er, dafür erfüllt er seine Aufgaben umso besser.“
„Na dann.“ Der Priester schlug ihm auf die Schulter, „Bei den Tiakarn kann’ste auch nicht viel verkehrt machen. Wenn du mich fragst, sollte man die alle gesammelt unter das Recht der Götter stellen. Nur die Informationen geben sie nicht leicht her.“
Ausnahmsweise war Melram über die Anwesenheit Havinas erleichtert. Dieser schob sich zwischen ihn und den verdammten Priester und legte diesem brüderlich den Arm um die Schulter.
„Sie hat auch was gesagt, aber wir müssen das erst mit den bisherigen Informationen abgleichen. Kann sein, das wir dann noch einmal wiederkommen müssen.“
Der junge Mann zögerte. „Das muss ich dann aber erst mit meinem Vorgesetzten absprechen. Ach ja, ich brauche auch noch deine Unterschrift oben, damit wir das gegenzeichnen lassen können. Da gab es letztens schon Probleme und mein Vorgänger wurde deshalb in die Marktaufsicht versetzt. Man stelle sich das vor! Ein Priester des Bareslav in der Marktaufsicht! Eine Ungeheuerlichkeit. Es wird Zeit, dass das Recht der Götter hier wiederhergestellt wird. Kantigark ist ein Schrecken in den Augen der Götter. Hast du es schon gehört?“ Das letzte sagte er leise, als wäre es ein Geheimnis, das Melram nicht erfahren sollte. Ihn interessierte das nicht. Er dachte an Hiratja, die abfällige Wortwahl des Priesters und wie er sie am besten befreien konnte.
Er war erleichtert und traurig zugleich, als sie wieder im Freien standen. Dort drinnen moderte Hiratja im Dunkeln und er konnte ihr nicht erzählen, wie wunderbar sich das Licht der Monde in den Häuserdächern spiegelte und das Licht weiter reflektierte.
„Wie wäre es mit einem Dank?“
„Was?“ Melram unterbrach seinen Versuch, die Wächter zu zählen und sah zu seinem Begleiter.
„Ich musste eben nur meine Unterschrift für dich fälschen. Mein Priesterlehrer wird begeistert sein, wenn er davon erfährt.“
Verwirrt runzelte Melram die Stirn.
„Was für eine Unterschrift?“
„Du hast wirklich gar nichts mitbekommen?“ Der Priester schüttelte den Kopf, sodass sein langes Haar flog.
„Warum hilfst du uns überhaupt?“ Havina lachte auf und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sofort spannte Melram sich an. Wie er es hasste, dass diese Priester ihre Überlegenheit immer durch Berührungen zeigen mussten. „Entspann dich einfach, Melram. So schnell geschieht ihr nichts. Die Bürokratie des Tempels braucht lange und illegaler Bücherhandel ist in der jetzigen Situation wirklich nicht das wichtigste Problem, was wir haben.“ Er log. Melram glaubte nicht, dass ihm nicht bewusst war, dass sich ein Heer unter Befehl des Hohepriesters auf die Stadt zu bewegte. Natürlich war Hiratja in Gefahr. Damit würde das Tempelrecht wieder gelten, was bedeutete, dass seine Freundin bald verurteilt werden würde.
„Wieso hilfst du uns?“, fragte er erneut und schüttelte den Arm des Priesters ab.
Dieser verdrehte die Augen, dann kicherte er. „Meine Güte. Die Götter schützen mich vor liebestollen Narren.“
Fassungslos blickte Melram ihn an. Wie konnte er nur lachen, wenn seine Freundin so in Gefahr war?
Stumm wandte er sich ab und ging, während hinter ihm Havina vor einem Gefängnis stand und lachte und lachte und lachte.