Die Verabschiedung des freien Priesterrechts im zweiten Schattentag des Dez führte zu einem Widerstand unter dem Adel, wie es in der Geschichte Eletaks einmalig ist. In Tempelschriften wird als Rädelsführer stets Nisirehm I. von Kantigark genannt, wer ihn unterstützte, bleibt im Dunkeln. Doch schreibt Horius in seiner Chronik der Fürsten Nisorats, dass dem Fürst das Schicksal seiner Tochter missfiel und hält ein Gastmahl im Schattentag fest, bei dem sich „viele Edle trafen, um zu besprechen, was wichtig war“ Der Widerstand schien also viel größer zu sein, als nach bisherigen Erkenntnissen, auch wenn Nisirehm I. Motivator und Anführer war, um den sich die anderen scharrten. Mit seiner Gefangennahme und seiner Hinrichtung zerbrach auch das Bündnis. Warum sollte es heute nicht möglich sein, einen ähnlichen Widerstand aufzustellen? Wenn es uns gelingt, eine Erkenntnis über die möglich sehr einschneidenden Folgen der in den letzten Schattentagen verabschiedeten Gesetze zu verbreiten, wäre ein Bündnis aus verschiedenen Fürsten möglich.
Aus den Aufzeichnungen Fürst Dirasrehms von Asinat
Die verlassene Bergefeste klammerte sich an die Felsen, aus denen sie errichtet worden war und blickte gleich einer Königin über ein ebenso verlassenes, tief eingeschnittenes Tal. Weder erreichten viel Sonnenlicht noch viel Mondlicht den Grund des Tals. Es war ein zweischneidiges Schwert, auf das die Pflanzen, die hier in der Dunkelheit wuchsen, sich eingestellt hatten. Lange Ranken mit weit geöffneten Blüten schlängelten sich am Fels empor, um möglichst viel Mondlicht aufzufangen. Wenn die Dämmerung einsetzte, würden sie sich einrollen und dünne Steinplatten um ihre kostbaren Blüten ausbilden. Steinblüter waren eine der am weitesten verbreiteten Pflanzen. Auch dünne Stängel von Sikoas-Gras reckten sich der Lichtquelle entgegen, zogen sich aber blitzschnell in den schützenden Bauch der Erde zurück, als sie die Erschütterungen, hervorgerufen durch Pferdehufe, vernahmen. Größere Gewächse sah Mechan nicht, als sie durch das Tal ritten, stattdessen Felsbrocken, über die sich Panzerschnecken und Felsschließer bewegten.
Sie ritt neben ihrem Oheim an der Spitze des Zuges. Niemand hatte etwas dagegen eingewandt, obwohl sich ihre neuen Kturas, ihre edlen Dienerinnen, an ihrem gewohnten Platz in der Mitte des Zuges befanden. Mechan hatte keine Dienerinnen mit sich geführt und das war in Ordnung gewesen, als sie nur von ihren Eunuchen begleitet worden war. Jetzt mit Nochrehms Soldaten musste die Tradition gewahrt werden. Es stand zu viel auf dem Spiel, als dass sie schlechtes Gerede über ihre Ehre erst entstehen lassen könnte. Deshalb hatte ihr Oheim ihr seine Stieftochter und seine zweite Ehefrau als Gesellschafterinnen angeboten.
Ebenso wie Tavirehm ihr einen Platz auf seinem Pferd angeboten hatte. Widerstrebend hatte sie angenommen. So saß sie nun hinter ihrem Vetter, der zu Beginn noch versucht hatte, sie mit Witzen zum Lachen zu bringen, jetzt aber schwieg und zu der Festung empor sah.
„Wer hat sie errichtet?“, fragte sie den Bruder ihres Vaters leise.
„Ich weiß es nicht“, entgegnete dieser und blickte sie mit ernster Miene an, „Sie ist alt, älter als Asinat, aber jünger als Kantigark. Das erste Mal wurde sie im vierten Schattentag des Dez erwähnt und kurz darauf aufgegeben.“
„Wieso?“, fragte sie, „Sie liegt abseits der Handelsrouten, doch ist sie als versteckter Rückzugsort ideal.“
Nochrehm seufzte.
„Das ist eine Geschichte für spätere Tage“, erklärte er schließlich.
Die Festung war lange verlassen. Gebäude und Mauern waren zerfallen und diejenigen, die noch halbwegs bewohnbar waren, stanken nach Tierkot und Schimmel. Mechan ignorierte die Hand ihres Vetters, der ihr hinabhelfen wollte und ließ sich vom Rücken des Hengstes gleiten. Fast wäre sie dabei über einen herausgebrochenen Pflasterstein gestolpert. Sie kniete sich hin und legte ihre Hand auf die abgeriebenen und unregelmäßigen Steine, die den Burghof früher gepflastert hatten. Sie würden auf die Pferde achten müssen. Ihre Augen huschten über den Burghof und sie fand sich in ihren Befürchtungen bestätigt.
Sie trat zu ihrem Oheim. „Wir müssen die Flammsteine unbedingt noch heute einsammeln“, meinte sie zu ihm, „Wenn sie vorzeitig explodieren…“
„Es ist nicht da Einzige, was zu tun ist“, seufzte er, dann befahl er mit lauter Stimme, Unterkünfte für die Nacht zu suchen und zu sichern, die Flammsteine einzusammeln und die Umgebung zu erkunden.
„Es ist…“, begann er.
„Wie sollen diese Männer mir folgen und vertrauen, wenn sie nur auf Eure Befehle hören?“, fragte sie leise.
Ein Hauch von Zorn umspielte seine Mundwinkel, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle.
„Das sind meine Truppen“, entgegnete er, „Wenn ich von Euch Befehle annehme, werde ich meine Ehre in den Augen der Männer annehmen.“
„Und die Grafschaft, mit der Ihr diese Männer bezahlst“, fuhr sie fort, nicht im Geringsten bereit zurückzuweichen, „wurde Euch von meinem Vater verliehen.“
„Dessen Tochter auf meine militärische Hilfe angewiesen ist“, parierte er mühelos. Doch dann zuckte ein Lächeln über sein Gesicht, das schließlich in einem breiten Grinsen mündete.
„Man hat Euch gut unterrichtet, Nichte.“ Seine grauen Augen blickten starr auf sie herab, aber sie freute sich über dieses Lob. „Ihr werdet eine bessere Diplomatin als Euer Vater sein. An Eurer direkten Sprache solltet Ihr allerdings noch arbeiten.“
Sie beließ es dabei. Es war nicht klug diese Diskussion an diesem Ort zu vertiefen. Aber sie musste ihre Autorität durchsetzen.
Sie legte ihm die Hand auf den Arm und drückte ihn leicht – eine Geste, die eigentlich dem Älteren zweier Familienmitglieder zustand. Somit erhob sie sich über ihm. Würde er ablehnen, wäre es eine Beleidigung, täte er dasselbe eine Zugestehung an ihre Stärke. Er tat Letzteres und auch wenn er ihr dabei zuzwinkerte, wusste sie, dass sie nicht viel weiter gehen durfte.
Deshalb ließ sie ihn sich als Ersteres abwenden und den traditionellen Gruß ausführen, bevor sie es ihm nachtat. Dann wandten sie sich beide ab, um die Arbeit zu tun, die getan werden mussten.
Nur mit Mühe konnte sie ein Gähnen unterdrücken, als sie über den Burghof schritt. Dann fiel ihr etwas ein. Sie winkte ihren Onkel erneut zu sich, der zur ihrer Erleichterung sogleich herantrat.
„Es soll ein Treffen einberufen werden“, befahl sie, „Alle Hauptmänner und Befehlsmänner sollen sich versammeln.“
Und so war sie zur Zeit der Morgendämmerung erschöpft und von Gedanken erfüllt, als sie sich in die Gemächer zurückzog, die man für sie bereitet hatte. Sie befanden sich im zweiten Geschoß des einzig nicht verfallenen Turmes. Im Vorzimmer schliefen die Stieftochter und die Ehefrau ihres Onkels, da sie diese nicht in ihrem Schlafraum hatte haben wollen. Sie benötigte Ruhe und keine neugierigen Augen.
Die Feste war zu klein, um alle Soldaten zu beherbergen, so dass einige in den umliegenden Höhlen und im Tal Zuflucht gesucht hatten.
Kienspannhalter waren an den Wänden befestigt und entzündet worden, um das ewige Zwielicht zu erhellen. Helle Flecken zeigten an, wo sich früher Wandteppiche befunden hatten, aber jetzt waren die Wände ebenso kahl und leer wie die Gemäuer. Weil keine Möbel vorhanden gewesen waren, hatte man Teppiche und Decken auf dem Boden ausgebreitet. Es war nicht die bequemste Art zu nächtigen und wahrscheinlich hielt sich alles mögliche Viechzeug in den Ecken auf, aber es war das Einzige, was sie hatte.
Mit einem Seufzen ging sie zu ihren Sachen, die unausgepackt in einer Ecke lagen. Sie hatte den Befehl gegeben, dass niemand die Sachen anrühren durfte. Es war nicht viel, was sie nun wieder ordentlich zusammenfaltete. Den Anfang machte ihr Ersatzreisemantel, der hervorragend vor Kälte schützte. Ein leichtes Reitkleid, wie eines das sie jetzt trug, wanderte neben ein Paar guter Lederstiefel. Darauf legte sie die zwei Alltagskleider, die sie hatte, mit Borten und Stickereien verziert waren sie prächtig genug, um ihren Stand auszudrücken und zugleich einfach gehalten, damit sie diese auch in einer Verkleidung als niedere Adelige oder reiche Händlerin tragen konnte. Das Tanzkleid aus dunkelblauer Seide wickelte sie wieder sorgfältig in Tücher, um es vor Schmutz zu schützen. Zwei Byeros’ kamen ebenfalls auf den Stapel und daneben der kleine Beutel, in dem sie die Tücher für ihre Monatsblutung aufbewahrte. Oben drauf legte sie die feinen Schleier und Mundtücher, die sie als ehrbare Frau zu tragen verpflichtet war. Teile ihrer Kleidung hatte sie selbst als Ersatzkleidung dabei gehabt, als sie ihren Bruder auf der Mauer besucht hatte, den Rest hatten ihr Frau und Stieftochter ihres Oheims geliehen.
Dann kam der Rest ihrer Besitztümer: Ihre Steinsammlung, den kleinen Eisenring, den ihr Vater ihr geschenkt hatte, ein gemaltes Bildnis ihrer Brüder. Doch die kostbarsten Besitztümer waren die Bücher, die ihr Vater ihr vermacht hatte. Fünf Stück waren es. Zwei schmale Bände zierten die geschwungene Schrift Dirasrehms, die anderen waren von anderen Autoren verfasst. Gesammelte Gesänge und Zeugnisse der frühen Besiedlung Eletaks war ein dicker, in rotes Leder gebundener Band, dessen Autor ihr nicht das Geringste sagte. Von Ravorit, der Autorin von Studien über die Religion der Tiakar, hatte sie zumindest den Namen einmal gelesen. Beim letzten Buch stockte sie, denn auf den Titel war schon oft in Büchern, die sie gelesen hatte, verwiesen worden, doch stets mit dem Vermerk, dass er verschollen sei. Nun lag Wandel der Zeiten. Inwieweit die dunklen Jahre als dunkel gelten können vor ihr. Zögernd schlug sie das Buch auf. Aber schon bald verschwammen die Buchstaben vor ihren Augen und sie nahm sich vor, es zu einem anderen Zeitpunkt erneut zu versuchen. Stattdessen griff sie zu den Büchern ihres Vaters. Die schmale, geschwungene Schrift bedeckte Seite um Seite. Wahllos schlug sie das Buch in der Mitte auf und begann zu lesen. Vielleicht um hier Antworten zu finden.
Die Javkarater Höhlenmalereien sind ein unglaubliches Zeugnis unserer frühen Geschichte. Ihre Zerstörung bei der Eroberung der Seekönige im 6. Schattentag des Gagoz, LRO, war eine Tragödie, die sicherlich nicht unbeabsichtigt herbeigeführt wurde. Ich bin mir sicher, dass die Abbildung, die ich in Asinat erwerben konnte, die Einzige ihrer Art ist. Die Zeichnungen sind ordentlich und wissenschaftlich korrekt angefertigt. Der Zeichner scheint noch ein paar Anmerkungen darunter geschrieben zu haben. Darin folgt er der Theorie des Kariz (gleichzusetzen mit Karicak in der Chronik des Zloras?) und ordnet die Höhlenmalereien in das fünfundzwanzigste Jahr d.c. ein. Eine Zeit, in der unsere Zeitrechnung noch nicht einmal erfunden war! Falls dies der Wahrheit entsprechen sollte, haben wir hiermit das frühste Zeugnis für die Besiedlung Eletaks. Ihr Wert ist deshalb unermesslich. Aus genau diesem…
Sie brach ab und wischte sich ärgerlich die Tränen weg, die ihr auf einmal über die Wangen liefen. Auf einmal tat es ihr Leid, dass sie sich so selten mit der Forschung ihres Vaters, seinem Lebenswerk beschäftigt hatte. Auch sie hatte es genossen, in der Bibliothek zu lesen und zu stöbern. Aber sie hatte sich nie so in ein Thema festbeißen können wie ihr Vater. Dafür waren zu viele Sachen interessant gewesen. Jetzt tat es ihr leid. Gleichzeitig erinnerte sie die vertraute Schrift, an all die gemeinsame Zeit, die nun einfach verloren sein würde. All die Lichttage, die ihnen noch verblieben wären, waren fort. Vielleicht lebte er bereits nicht mehr. . Immer war ihr Vater anders als die Anderen gewesen. Seine Bücher hatte er nicht in der Tempelsprache Daerai verfasst, in der nahezu alle Literatur verfasst worden war und heute verfasst wurde. Stattdessen hatte er in Hohem Taksori geschrieben und dabei das Daeraiische Alphabet verwendet, weil Taksori zu einer rein mündlich gebrauchten Sprache geworden war. Laute, die es in Daerai nicht gab, hatte er mit azasistischen oder ajokischen Buchstaben ausgedrückt. Auch wenn ihre Augen sich nicht mehr auf den Text fokussieren konnten, fuhren ihre Finger immer noch darüber, suchten die schmale Spur Leben, die ihr Vater den Buchstaben eingehaucht hatte. Was sie hier in den Händen hielt, war nicht weniger als sein Lebenswerk. Er muss es gewusst haben, dachte sie, gewusst, dass er seine Schätze nicht bewahren kann. Ein weiterer Gedankenfetzen. Versprich es mir, Mechan. Sie muss sie erhalten. Rasch schob sie ihn beiseite. Bevor sie sich um so etwas kümmern konnte, musste sie erst einmal selbst überleben. Trotz dieser Aussage hörten die Tränen nicht auf zu fließen.
Sie hatte sich vorgenommen, stark zu sein. Aber ihre Reise begann mit Furcht und Tränen.
Als Mechan am nächsten Morgen erwachte, fand sie Blutschlieren auf dem Laken und in ihrem Unterkleid. Mit einem tiefen Seufzer erhob sie sich und holte eine der Stoffbinden aus Bauchkrämpfe würde sie überstehen, doch galt sie in diesen Tagen als unrein und hatte jeden Kontakt mit Männern zu meiden. Und das war etwas, was sie sich absolut nicht leisten konnte.
Mit spitzen Fingern nahm die obere Deckenlage hinfort und legte es zusammen mit dem Unterkleid in eine Ecke. Dann kleidete sie sich in ein unbenutztes Unterkleid, über das sie das blaue Alltagskleid anzog. Es war mit goldenen Fäden an den Ärmeln und dem Ausschnitt besetzt und zusätzlich mit kleinen Perlen verziert. Was sollte sie jetzt tun? Dem Gesetz nach müsste sie die folgenden Tage in ihren Gemächern verbringen und nur mit Frauen sprechen. Wenn sie jetzt nicht an der Besprechung teilnehmen könnte, würden andere ihre Position einnehmen und sie könnte nicht die Autorität gewinnen, die sie brauchte. Sie verwarf es sogleich, mit ihrem Onkel zu sprechen. Er würde von ihr verlangen, der Tradition Genüge zu tun.
Mit einem Blick vergewisserte sie sich, dass die Blutflecken nicht auf den ersten Blick ersichtlich waren, dann öffnete sie die Tür und winkte die Stieftochter ihres Onkels zu sich.
„Hilfst du mir?“, bat sie und hob ihren Schleier hoch. Tuvinef entstammte der ersten Ehe von Niuref, der ersten Frau ihres Oheims und Mutter seiner Zwillingssöhne. Als mittellose Jungfrau war sie von ihrem Stiefvater abhängig und der Höhe des Mitgiftes, das er ihr zugestehen würde. Mechan stand im Rang deutlich über ihr und so wagte die junge Frau es nicht, zu widersprechen, auch wenn sie diese Arbeit nicht gerne zu tun schien. Aus den Augenwinkeln musterte sie Tuvinef, während diese den Schleier vorsichtig auseinanderfaltete. Sie war soviel hübscher als sie selbst. Die Locken, die momentan unter hochadeligen Frauen modern waren, waren bei ihr natürlich. Sie hatten die Farbe von einem so hellen Silberweiß, wie Mechan es bisher noch nie gesehen hatte. Auch ihre Haut war hell und nicht teilweise von sonnenverbrannten Stellen übersäht wie sie es bei Mechan war. Ihre Gestalt entsprach dem Ideal: Sie war gut einen Kopf kleiner als die Fürstentochter und zierlich. Genauso wie eine adelige Frau zu sein hatte. Mit einem Seufzen zwirbelte Mechan eine ihrer hellroten Strähnen, die viel zu dunkel waren. Nein. Mit schönem Aussehen würde sie nie einen Gemahl gewinnen können.
Tuvinefs Finger waren sanft, als sie den Schleier vor Mechans Mund legte und die mit Perlen geschmückten Bänder um die Ohren festband, die Enden verflocht sie in den Zopf, den Mechan zu tragen verpflichtet war. Der Schleier bedeckte allein den Mund und ließ Nase und Augen unbedeckt.
„Habt Dank“, murmelte sie abwesend, als ihre Stiefbase zurücktrat und einen knappen Knicks ausführte.
Das Problem war damit zwar noch nicht gelöst, aber mit Kleidung konnte sie hervorragend ihren Stand anzeigen und überzeugender wirken.
Mit einem Winken befahl sie Tuvinef die Tür zu öffnen, was diese tat. Ihre Eunuchen Fladjub und Tjarub hielten Wache vor den Frauengemächern, gemeinsam mit zwei ihr vage bekannt vorkommenden Männern ihres Onkels.
„Hoheit“ Fladjub verneigte sich und trat zu ihr. Nach Liubs Tod war er sein Nachfolger als Anführer ihrer Wache geworden. Er war auf seine Art ein guter Mann, aber nicht der Berater und der Freund, den sie in Liub gefunden hatte.
Auf ihren Befehl hin folgte er ihr in ihren Raum. Sie schloss die Tür.
„Würdet Ihr mir einen Gefallen tun?“, fragte sie und musterte ihn ganz genau.
„Gewiss, Herrin, sofern es in meiner Macht liegt.“
Sie deutete auf den blutbefleckten Haufen. „Kannst du das waschen, ohne dass dich jemand dabei sieht?“
Er blieb stehen. „Seid Ihr sicher, dass Ihr das tun wollt, Herrin?“, stammelte er.
„Ob ich sicher bin?“ Ihr Gesicht verzog sich leicht. „Ich bin sicher.“
„Wenn herauskommt, dass Ihr die Gesetze des Tempels gebrochen habt, kann das gegen Euch verwendet werden“, gab er leise zu bedenken.
„Möglicherweise, aber ich muss jetzt Stärke und Präsenz zeigen. Also tue es.“
Es störte sie, dass sie schon wieder mit einer ihrer Leibwachen diskutiert hatte. Warum ging sie nur immer darauf ein? Konnten sie nicht einfach ihren Befehlen gehorchen? Vor allem Tjarub machte ihr Sorgen. Seit der Diskussion nach der Rettung des Kindes verhielt er sich ihr gegenüber abweisend. Sie hätte ihn entlassen, aber in Ermangelung weiterer Eunuchen war ihr dies nicht möglich.
Ohne ein weiteres Wort nahm Fladjub ihre blutige Wäsche und verbarg sie unter seinem Umhang. Sein Gesichtsausdruck war weiterhin neutral, aber sie spürte seinen Ekel. Doch er war ihr ergeben, verbeugte sich vor ihr und ging dann.
„Morgen wieder das gleiche“, rief sie ihm hinterher.
Er wandte sich nicht um. Mechan zuckte mit den Schultern und war zugleich erleichtert, dass das Problem so erledigt war.
Nach dem Gespräch ließ Mechan ihre Eunuchen zurück und verließ die Festung durch das Tor, das früher gewaltig gewesen und jetzt zerfallen war. Der Weg, der hinabführte, war steil und von feinen Kieselsteinen besetzt, die ein schnelles Vorwärtskommen von unten unmöglich machten. Sie folgte ihm ein kleines Stück, dann verließ sie ihn und wandte sich nach rechts zwischen die Felsen. Der Hang war steil, aber zu ihrem Vorteil von Felsbrocken übersäht, die ihr halfen, sich abzustützen. Es tat ihr gut zu laufen, die Gedanken fließen zu lassen und dem ewigen Sitzen zu entkommen, das von ihrem Geschlecht verlangt wurde. Die kühle Luft auf ihrer Haut, der Boden, der unter ihren Füßen rutschte, die Felsen, an denen sie sich auffing, all das vermittelte ihr ein Gefühl der Wirklichkeit, das ihr die Gespräche und Beratungen nicht geben konnten.
Sie ging nicht weit, sondern kletterte wieder hinauf, bis sie wieder auf der Höhe der Festung war. Gestern hatte sie ein ausgetrocknetes Flussbett erblickt, der in den Schattentagen in einem Wasserfall über die Felsen ins Tal stürzen würde. Als sie auf das Flussbett traf, stieg sie hinein und folgte dem Verlauf bis zum Ende. Es war kein sonderlich breites Bett, aber so tief, dass auch hier Sikoas-Gras wuchs. Wenn sie einen Moment still stehen blieb, kroch es wieder aus seinen Löchern heraus, um bei der nächsten Bewegung ihrerseits wieder zu verschwinden. Als Kind hatte sie immer versucht, die schmalen, blaugesprenkelten Halme zu fangen und war jedes Mal daran gescheitert. Shurehm war jedoch sehr geschickt gewesen. Sie stellte sich vor, wie er den Spuren der folgen würde, die sie gesehen hatte. Shurehm. Erst jetzt brach die Erkenntnis, dass er wirklich tot war, über sie herein. Sie hatte die Tränen zurückgehalten, den Zorn in sich hineingefressen, aber jetzt liefen sie ihr über die Wange und sie schrie ihren Zorn über diese Ungerechtigkeit heraus. Ihre Schreie hallten durch das Tal, mischten sich mit ihren trommelnden Schritten und ihrem rasenden Herzschlag. Keuchend rannte sie das Flussbett entlang und hielt erst inne, als sie die Klippe erreichte. Zitternd stand sie da, würgte und weinte. Ihr Bruder war tot. Ihr Vater und ihre beiden verbliebenen Brüder vielleicht auch. Sie hatte ihre Heimat verloren.
Bilder über all die gemeinsame Zeit schossen ihr durch den Kopf. Ifurehm und Shurehm, die auf ihren Hengsten lachend um die Wette ritten, Djurehm, der ihr mit leuchtenden Augen irgendwelche verrückten Theorien erläuterte und ihr Vater, der sich ihr zuwandte und mit ihr über die Welt erzählte, sie nach ihrer Meinung fragte und in privater Umgebung keinen Unterschied zwischen ihr und ihren Brüdern machte. Ihr Vater. Sie vermisste ihn.
Nach einer Weile beruhigte sich ihr Herzschlag wieder und sie setzte sich an den Rand der Klippe über den Abgrund. Es verwirrte sie, dass sie immer geglaubt hatte, über solche Gefühle wie diesen ohnmächtigen Zorn, den sie eben verspürt hatte, erhaben zu sein und nun feststellen musste, dass sie von diesen ebenso beeinflusst wurde wie alle anderen.
Seufzend hob sie die Hand und wischte die Tränen weg, so dass ihr Gesicht jetzt wahrscheinlich furchtbar aussah. Es war egal. Vier Steine holte sie aus den innen eingenähten Taschen ihres an den Seiten geschlitzten Reitkleides. Der erste war ein hellgrüner Edelstein aus Paratast, den sie dort einst hatte erwerben lassen. Ihn vergrub sie für Shurehm. Den tiefblauen, fast schon schwarzen Koras wählte sie für Ifurehm. Lange zögerte sie bei der Wahl für Djurehm, doch schließlich vergrub sie einen schiefergrauen Stein, der nur im richtigen Licht in allen Farben zu leuchten begann. Für sie stand das für all die Potenziale, die ihr jüngster Bruder unter seiner Gelassenheit verborgen hatte und die er nun nie würde ausleben können. Dagegen fiel es ihr nicht schwer, einen Stein für ihren Vater auszuwählen: Es war der Lesestein, den er ihr einst geschenkt hatte. Es war ein wertvolles Stück, der nicht leicht zu erwerben gewesen war, doch war Mechan ihr Vater so viel wichtiger, als ein Stein, der Buchstaben vergrößern konnte.
Als das getan war, ging es ihr besser. Sie setzte sich erneut an die Klippe, lehnte sich mit den Rücken an einen Felsen und blickte auf das Tal herab. Es war ein schöner, seltsam friedlicher Anblick. All das, was die Menschen ihr einst abgerungen hatte, war von der Natur zurückerobert worden. Von hier erblickte sie halb verfallene Ruinen, die im Mondlicht grün und blau schimmerten.
Erst jetzt hörte sie auch das leise Plätschern. Das Bachbett war ausgetrocknet, aber als sie sich herabbeugte, sah sie, dass aus den Felsen unter ihr Wasser austrat. Es war nicht viel, aber es kam an vielen Stellen zugleich, so dass ein stetiges Platschen erklang. Solch ein Phänomen hatte sie noch nie beobachten können. Bedeutete das, dass im Gestein Wasser war? Wie sonderbar musste das von unten aussehen!
„Man nennt diesen Ort Reysachans Tränen.“
Mechan fuhr herum. Ihr Onkel hatte sich unbemerkt genähert und stand nun hinter ihr. Sie errötete. Wie viel von ihrem Ausbruch hatte er mitbekommen? Hatte man sie gar in der Festung gehört? Doch sein Gesicht gab nichts preis.
Sie stand auf.
„Oheim“, meinte sie, „Ich hatte Euch nicht hier erwartet.“ Sie war stolz darauf, wie fest ihre Stimme war.
„Darf ich mich nähern?“, fragte er, ohne auf ihre vorige Aussage einzugehen.
Seine Nichte nickte. Sie war groß für eine Frau, aber er sah dennoch auf sie herab. Es war ein eigenartiges Gefühl, das sie noch nie hatte leiden können.
„Wieso Reysachans Tränen?“, fragte sie, um das Gefühl der Unsicherheit zu vertreiben, das sie überkam.
„Reysachan war eine Prinzessin Nisorats in den ersten Schattentagen nach der dunklen Zeit. Sie war der Grund für eine Rebellion, in der Kantigark fast vernichtet worden wäre.“
„Ich habe noch nie von ihr gehört“, bekannte Mechan, der diese Wissenslücke etwas peinlich war.
Ihr Onkel zuckte mit den Schultern. „Es ist auch nicht viel über sie bekannt. Es war in der Zeit der Regulierung der Schriftlichkeit und somit wurde nicht viel überliefert und anderes ist im Lauf der Zeit verloren gegangen.“ Er hielt kurz inne und musterte sie. „Vor einigen Schattentagen habe ich Bruchstücke eines Liedes gefunden, das anscheinend von ihr handelt. Es ist sehr schön und einzigartig formuliert.“
Sie hatte Nochrehm noch nie singen gehört und war erstaunt davon, wie sanft seine sonst so volltönende Stimme klingen konnte.
„Aus Kantigark kam ein Fürstensohn
Sein edles Pferd war schnell
Und seine Haut hell
Sein Haar glich Miandath silbernem Schein
Der Säbel des Fürsten war sein
Er spannte den Bogen aus Saoholz
Höher selbst als Gijar-Salz
Selbst vom größten Rennen,
ließ er sich nicht schrecken
auch wenn Iearehms großer Hengst,
dem das Feuer in den Adern brennt,
ungeschlagen ist seit zwei Schattentagen
und jeder ihn kennt vom Hörensagen
durch gefährliche Orte geht die wilde Hatz
Wüste, wo vergessen liegt so mancher Schatz
Hungrig nimmt sie manchen Reiter auf,
der zu unvorsichtig war mit seinem Lauf
Andere riss wildes Raubgetier,
die zu schnell gewesen mit ihrer Gier
Doch des edlen Herren Sohn blieb unverzagt,
nicht wie viele andere er klagt
Seine Stute überwindet so manches Hindernis
Und er unternimmt so manchen Wagnis
Um zu erringen mit Anstrengung und Fleiß,
was er sich ersehnt, jenen kostbaren Preis.“
Er endete. „Das ist die erste Strophe. Ursprünglich soll es achtzehn gegeben haben, aber uns ist nur diese und einige Bruchstücke aus späteren überliefert.“
„Reysachan kommt nicht vor“, stellte Mechan fest.
„Richtig“, stimmte ihr Oheim ihr zu, „Aber bei dem erwähnten Fürstensohn handelt es sich um Nisirehm I, der zu dieser Zeit bereits regierender Fürst war.“
„Was ist das für ein Lied? Ich habe diese Form noch nie gehört! Das Schemata ist so seltsam, das Metrum so unregelmäßig. Dabei habe ich mich fiel mit früher Lyrik auseinandergesetzt.“
Nochrehm lächelte. „Das liegt daran, dass es ursprünglich tiakarische Lyrik war, die jemand in unsere Sprache übersetzt hat. Die Paarreime sind typisch für diese Zeit und die Unregelmäßigkeit des Metrums kommt durch die Übersetzung.“
Sie runzelte die Stirn.
„Warum schrieben Tiakar über Ereignisse, die unsere Geschichte betreffen?“ Schon kurz darauf gab sie sich selbst die Antwort: „Weil es in unserem Volk niemand tat.“
„Das ist ein Problem auf das wir häufiger gestoßen sind. Besonders aus der Frühzeit haben wir keine vom Tempel unabhängigen Texte. Ab und an haben wir das Glück einer azasitischen Quelle, aber vieles davon wurde bei der Eroberung der Seekönige zerstört. Die Tiakar dagegen überliefern ihr Wissen vor allem in Liedern, doch teilen sie diese selten mit uns, weshalb solche Überlieferungen Glücksfälle sind. Wer bleibt uns noch? Die Visoniker kennen keine Schriftlichkeit, die Tchiroskas Sandeles interessieren sich wenig für unsere Geschichte, wenn sie uns nicht überfallen und die Geschichte anderer Völker Sandeles berührt unsere Geschichte kaum.“ Ihr liefen Schauer über den Rücken, als sie verstand, dass er mit dem „wir“ sich und seinen Bruder, ihren Vater, meinte. Noch nie hatte sie sich Nochrehm so verbunden gefühlt wie in diesem Moment. Er war ihres Vaters Bruder und auch wenn sie sich in vielem unterschieden, sah sie nun in aller Deutlichkeit die Ähnlichkeit. Auch war ihr noch nie so bewusst gewesen, wie viel die beiden Brüder zu früheren Schattentagen, bevor sie sich zerstritten hatten und Nochrehm mit Adlersicht belehnt worden war, zusammen geforscht hatten.
Als sie dieses Mal schwiegen, war es kein unangenehmes Schweigen, sondern ein Moment, in dem sie beide ihren Gedanken nachhingen.
Bis ihr Onkel die Stille unterbrach und meinte: „Du erinnerst mich an sie.“
„Reysachan?“
„Ja. Sie hatte alles verloren. Ihr Ehemann war vom Tempel gefangen genommen worden, Kantigark vom Feind besetzt, dennoch gab sie nicht auf und führte das Heer ihres Mannes an.“
„Aber sie hat verloren“, erriet seine Nichte.
Nochrehm nickte. „Natürlich hat sie das. Ob sie getötet wurde oder ob ihr die Flucht gelang, ist im Nachhinein nicht mehr festzustellen, aber ihr Name ist in der Geschichtsschreibung vergessen worden.“
„Und du willst mir sagen, dass mein Kampf ebenso aussichtslos ist?“, fragte sie. Die unbeschwerte Atmosphäre war verloren und Anspannung machte sich zwischen ihnen breit. Dadurch, dass sie ihn duzte, verdeutlichte sie zugleich ihr Misstrauen.
„Nicht hoffnungslos“, entgegnete er sanft, „Aber es wird unmöglich für Euch, Asinat auf militärischem Wege zu erobern. Dafür ist die Macht, die der Tempel Euch entgegen stellen kann, viel zu groß.“
„Was schlägst du vor?“ Sie versuchte ihren Zorn zu zügeln, behielt die Duzung aber bei, um zu zeigen, wie wenig sie jetzt schon von seinen Worten hielt.
„Es gibt mehre Möglichkeiten. Ihr könntet das Land verlassen, nach Sandele gehen oder anderswo Zuflucht suchen, um Euer Leben zu retten. Das würde Euch allerdings nicht Asinat zurückbringen.“
Er hielt inne und musterte sie kurz.
„Eine weitere Möglichkeit wäre es, Asinat durch Heirat wiederzugewinnen. Alleine könnt Ihr nicht gewinnen und auch nicht regieren, doch mit einer vom Tempel gebilligten Ehe schon.“
„Ich bin bereits verlobt“, entgegnete sie in einem kurzen Versuch, diplomatisch zu reagieren. Innerlich bebte sie vor Wut. Wie konnte er das fordern? Sie hatte nichts gegen eine Eheschließung, wenn diese ihren Zielen diente und ihr einen mächtigen Verbündeten ermöglichen würde. Aber dieser Vorschlag wäre ein Verrat ihrer Selbst, es würde ihre Ehre beflecken und sie würde sich nie rein fühlen können.
Nochrehm seufzte. „Ich war ehrlich zu meinem Bruder und ich will ehrlich zu Euch sein. Diese Ehe wäre ein Fehler gewesen. Antirehm mag sein Freund gewesen sein, aber er war bereits damals außenpolitisch isoliert und ein Bündnis mit ihm hätte Asinat nur geschadet.“
„Was für Alternativen schlägst du vor?“
„Der beste Bündnispartner wäre Hasuhar, doch ist Kialrehm bereits verheiratet und wird eine Tochter Kantigarks nicht Euch zu Liebe verjagen. Sein Sohn ist zu jung. Ein Bündnis mit Osirehm von Limisar wäre nicht zu verachten und sein Erbe ist noch unverheiratet. Ihn würde ich Euch empfehlen.“
„Osirehm profitiert vom Sturz meiner Familie bereits.“ Bewusst ließ sie seinen Fürstentitel weg.
„Richtig“, gab ihr Oheim zu, „Aber eine Ehe mit Euch würde den Anspruch seines Sohnes über den Kialrehms von Hasuhar stellen und die beiden führen schon seit dem Herrschaftsantritt Kialrehms einen stetig schwelenden Kampf um die Vorherrschaft im Westen.“
Ihre Stimme zitterte. „Aber das würde bedeuten, dass ich den Schmach meiner Familie ignorieren und keine Rache einfordern könnte.“
„Rache kann nicht das Ziel sein“, entgegnete er.
Sie blickte ihn an und machte sich instinktiv noch ein Stück größer.
„Doch, das kann es.“ Sie ballte die Fäuste. „Ich will Asinat zurückerobern und das werde ich. Ich bin bereit, eine Ehe einzugehen, aber ich werde nicht mich selbst aufgeben und meine Ehre verlieren.“
Er sagte nur ihren Namen.
„Lasst mich alleine, Oheim, ich bitte Euch.“ Unbewusst fiel sie wieder in die Höflichkeitsform zurück. Sie wusste, dass er nur das Beste für sie wollte. Aber sie war wütend, weil er die Ängste ausgesprochen hatte, die sie selber quälten.
Erneut erhob er die Stimme: „
Den ersten Sohn verlangte der Götter Ehre,
den zweiten forderte das unerbitterliche Meere
der dritte ist mir kostbarer als Edelstahl aus Tarb,
denn den vierten nahm mein Weib in ein frühes Grab.“
Dann blickte er sie an. „Das sind Worte, die Iarehm, Fürst von Nisorat, auf die Brautwerbung Nisirehms von Kantigark für seine Tochter Reysachan entgegnet. Ich und Euer Vater haben versucht, das erwähnte Tarb zu lokalisieren, aber es war uns nicht möglich.“ Er senkte die Stimme. „Versteht Ihr, verehrte Nichte? Die Stadt wurde in der Rebellion Nisirehms zerstört. Lasst nicht zu, dass dasselbe mit Asinat und unserer Familie geschieht.“
Als sie weiterhin schwieg, verneigte er sich vor ihr und verließ sie.
Nach dem Verschwinden ihres Oheims war sie viel zu aufgewühlt, um sich wieder hinzusetzen. Stattdessen ging sie auf und ab und verschwendete keinen Blick mehr an das Tal, das sich unter ihr ausbreitete. Sie blieb nicht lange alleine. Dieses Mal bemerkte sie es rechtzeitig und wandte sich um. Tavirehm suchte sich seinen Weg durch das Bachbett. Ein Grinsen strich über sein Gesicht, als er sie bemerkte.
„Verehrte Base“, rief er.
Missmutig schritt sie in seine Richtung. Sie wollte Ruhe und keinen übermotivierten Vetter. Dennoch setzte sie ein Lächeln auf und nickte ihm freundlich zu, um ihm zu zeigen, dass es ihr gut ging und sie seine Hilfe nicht benötigte. Selbstverständlich ging er nicht. Stattdessen setzte er sich an die Kante des Abgrundes, lehnte sich gegen einen Felsen und blickte hinab.
„Ein beeindruckender Anblick, nicht wahr?“
Misstrauisch blickte sie ihn an. Er wollte auf etwas heraus, das sah sie ihm an.
„Das stimmt“, antwortete sie diplomatisch.
Abrupt wechselte er das Thema.
„Hattet Ihr Angst, als Lareg euch gefangen genommen hat?“
Sie hatte sich ein wenig entfernt von ihm hingesetzt und blickte ihn nun verblüfft an. Sie hatte ihn zwei Schattentage nicht gesehen und jetzt erwartete er, dass sie darüber mit ihm sprach? Selbst mit ihrem Oheim würde sie nicht darüber sprechen, und auch nicht mit ihren Brüdern. Nein, bemerkte sie. In Wirklichkeit interessierte ihn ihre Antwort nicht, denn er sprach sogleich weiter: „Ich hatte Angst, als ich ihm gegenüber stand.“ Sie schwieg, unsicher wie sie ihm begegnen sollte. Sein Blick ruhte auf ihr. „Aber dann dachte ich daran, was mit Euch geschehen würde, wo Ihr doch gerade erst Vater und Brüder verloren habt. Den Gedanken konnte ich nicht ertragen.“ Sie sah zu ihm auf. Er hatte ein hübsches Gesicht, das trotz der hellen Locken etwas Herbes, Kantiges hatte. Es sah ganz anders als das ihrer Brüder aus, die sie sich in diesem Moment mehr als zuvor herbeiwünschte. Sie wünschte sich ihren Schutz, denn in seinem Blick las sie etwas, das sie erschreckte.
„Deshalb vollbrachte ich diese Heldentat.“ Mit diesen Worten rückte er an sie heran und legte ihr den Arm um die Schultern. Sein Griff war fest. Abrupt versteifte sie sich. Der Geruch von Schweiß drang ihr in die Nase.
„um Euch zu retten.“ Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen.
„Ihr habt einen Grafen getötet, das nennt Ihr eine Heldentat?“, entgegnete sie barsch, während sie vor seiner Ungeschämtheit erzitterte. „Wisst Ihr, welche diplomatischen Probleme das ergeben wird, wenn ich meinen Thron zurückerobern will?“
„Euren Thron?“ Er starrte sie an und sie sah die Begierde. Seine Hand wurde erhoben und erfasste eine der Locken, die sich über ihren Rücken wellten. Abrupt ließ er sie wieder los und erhob sich mit einer Eleganz, die beeindruckend gewesen wäre, wenn sie die Situation nicht kennen würde. „Wie wollt Ihr den ohne männlichen Beistand erlangen? Sie werden Euch nicht dulden“, erklärte er von oben herab. Anklagend fügte er an: „Ich habe Euch ein Angebot gemacht und ich erwarte Eure Antwort. Wartet nicht allzu lange.“
Dann warf er seinen Umhang herum und ging herum. Plötzlich hielt Tavirehm inne und wandte sich ihr doch noch einmal zu.
„Ihr belügt Euch selbst“, meinte er, „Ihr seid erleichtert über seinen Tod und das wisst Ihr. Jemand musste es tun.“
Dann war er fort und sie fühlte sich schuldig, weil er die Wahrheit ausgesprochen hatte.
Es überraschte sie nicht, dass Tavirehms Zwillingsbruder sie wenig später aufsuchte. Dieses Mal war sie nicht unvorbereitet und sah ihm entgegen, als er den Pfad erkletterte.
„Darf ich mich nähern?“, fragte Figerehm, mit dem sie bisher kaum ein Wort gewechselt hatte. Er war der Höflichere, der Bedächtigere der beiden Brüder.
Sie nickte.
„Ich bin gekommen, um Euch vor meinem Bruder zu warnen.“ Figerehms Stimme war leise und sie erkannte, dass ihn diese Aussage viel Mut gekostet hatte.
Dass sie ihn anblickte, schien ihn zu motivieren. „Er wird um Eure Hand anhalten.“
Noch immer spürte sie Tavirehms Berührung, die nicht allein die eines fürsorglichen Vetters gewesen war. Und es war Begehren gewesen, das sie in seinem Blick gelesen hatte. Ja, er wollte sie und das machte ihr mehr Angst, als es ihre Verfolger je hätten tun können. Aber das würde sie Figerehm nicht mitteilen.
„Ich bin bereits versprochen“, entgegnete sie also möglichst unbekümmert.
Figerehm strich sich mit den Händen durch die Haare. Selbst diese Bewegung sah so anders aus als bei seinem Bruder. Ernst sah er sie an.
„Und er, Ihr, wir alle wissen, dass diese Hochzeit niemals stattfinden wird und ein Verlobungsversprechen generell keine Ehe mit sich bringen muss.“ Sie hatte das Gefühl, dass sie ihren Vetter zum ersten Mal wirklich wahrnahm und ihn akzeptierte. Er war erwachsen, erwachsener als sein Bruder.
„Ich meine es Ernst.“ Fast flehend blickte er sie an. „Er hat davon gesprochen. Er sieht es als die Gegenleistung dafür an, dass wir Euch unterstützen. Nein, nicht als Gegenleistung, als sein Recht.“ Nun redete er so schnell, dass sich seine Stimme fast überschlug. „Ich kenne meinen Bruder und weiß, dass er sich nicht anders entscheiden wird. Wenn er so ist, dann wird er gefährlich. Und das macht mir Sorgen.“
Nein. In diesem Punkt ähnelte er Tavirehm. Sie beide waren emotional, nur ihre Intentionen unterschieden sich.
„Ich werde auf mich aufpassen“, entgegnete Mechan leise und blickte in das Tal hinaus, wo Vögel frei über dem Land schwebten.
„Ihr habt vieles, worauf Ihr achten müsst.“
„Ja, das habe ich.“
Und eine einzelte Träne schimmerte zwischen ihren Wimpern, kullerte über ihre Wange und tropfte unter ihr auf die Erde, wo sie versickerte.
Stumm stand die Prinzessin aus Asinat da und sie fühlte sich so einsam und verlassen wie noch nie.