Die weise Kartoffel
Ich wurde verflucht. Und das war so:
Am Tag meines Geburtstages unternahm ich einen Ausflug in die benachbarte Hügelstadt.
Den Gerüchten zufolge sollte sich dort eine weise Kartoffel niedergelassen haben, die einem die Zukunft offenbarte - sofern man fähig war, ihr Rätsel zu lösen.
Das war aber nicht der einzige Grund, warum ich mich auf die Reise machen wollte: Hinter vorgehaltener Hand wurde gemunkelt, dass die weise Kartoffel auch noch kostenlos Lutscher verteilt. Sogar mit Waldmeistergeschmack!
Gehört, getan: Frohgemut machte ich mich auf den Weg. Die Luft war lau, der süße Duft der Blumenwiesen kitzelte meine Nase und ich schallerte ein altes Wanderlied, dass ungefähr so ging:
»Wandern Hurra, Wandern Hopp Hopp – Ich wandere immer weiter, bis die Waden machen Plopp«
Ich wanderte und wanderte und schallerte und schallerte – übrigens immer dieselbe Zeile des Liedes – der Rest war mir leider entfallen.
Und nachdem meine Beine fast taub und meine Stimme nur noch einem rauen Krächzen glich, erreichte ich endlich mein Ziel: errichtet auf einem der sieben Hügel der Hügelstadt erhob sich der imposant-schaurige Zelttempel der weisen Kartoffel.
Nach einem kurzen, dennoch brutalen Aufstieg, der mich bestimmt eine meiner Waden kosten würde, erreichte ich schwer atmend den Gipfel.
Der Eingang des Zelttempels wurde von zwei überaus gewichtigen Gewürzgurken bewacht. Eine der Gurken schmückte sogar eine Brille – wobei ich davon ausging, dass sie diese nicht aus praktischen Gründen trug, sondern weil sie in der letzten Ausgabe der Zeitschrift `Gewürzgurke today – alles für das moderne Gurkengewächs` gelesen hatte, dass eine Brille mit Fenstergläsern der letzte Schrei für die intellektuelle Gurke ist. Und es ist ja allgemein bekannt, dass Gurken in dieser Hinsicht häufig Komplexe haben.
Wie ich da so japsend und keuchend vor ihnen stand, die Hände auf meine Knie gestützt, unfähig auch nur ein Wort herauszubringen, wuchs das Misstrauen in ihren klein-pickligen Augen. Ich wusste, ich musste bald etwas sagen, bevor sie mich in dem Fass mit Essiglauge ertränken würden, welches als sichtbare Abschreckung gleich neben dem Zelteingang aufgestellt worden war, inklusive einem Schild, auf dem stand: >Bist du Gauner oder Lump? Genieße unsern Essigtrunk<
Es dauerte volle fünf Minuten, bis ich einen Versuch starten konnte und ich entschied mich für eine höflich-unverfängliche Begrüßung: »Ich bin satt, danke!«
Dem Blick nach, den die beiden Gurken daraufhin tauschten, hatte ich wohl die richtigen Worte gewählt. Gurken leben nämlich in ständiger Angst vor bissigen Übergriffen durch Mensch und Tier; und in einigen perversen Fällen auch durch ihre eigenen Artgenossen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Wohlwollend lüpfte die bebrillte Gurke ihr Gestell und bedeutet mir mit einem Nicken das Heiligtum zu betreten.
Im Inneren des Tempels empfing mich Dunkelheit und ein intensiver Geruch nach Pommes Frites mit Ketchup. Mein Augen gewöhnten sich nur langsam an das dunstige Zwielicht und ich fragte mich, ob es wohl eine gute Idee gewesen sei, hierher zu kommen. Was wusste ich schon von Kartoffeln? Insbesondere solchen, die die Zukunft vorhersagen können?
Doch just in dem Augenblick, als ich auf dem Absatz kehrtmachen wollte, ertönte eine tiefe Stimme (so ähnlich wie Batman, aber gespickt mit einem Hauch mehr Wahnsinn). Wie ein Nebelhorn durchschnitt sie die schummrige Stille: »Hömma! Erst kümmscht rein ohn dei Schlabba abzubuzze, un nu gehscht ohn a Grißgoddle? A frächs Luadr, ha?«
Mir stand wohl vor Staunen die Gosch ähh der Mund offen – damit hatte ich nicht gerechnet.
Kalter Schweiß rann mir den Rücken hinab, meine Knie begannen zu schlottern.
Doch obwohl mir ordentlich die Muffe ging, siegte schließlich meine Neugier: »Ähhhh, ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe, aber ich bin auf der Suche nach der weisen Kartoffel, um etwas über meine Zukunft zu erfahren -« nach kurzem Zögern entschied ich mich die volle Wahrheit meines Besuches zu enthüllen: »...und wegen dem kostenlosen Lutscher. Bitte in Waldmeistergeschmack!«
Auf einmal erhob sich ein lautes Prusten und Schnaufen, dass meine Nasenhaare sich nur so bogen. Die Finsternis lichtete sich und enthüllte ein gar merkwürdiges Bild:
Auf einem ergonomischen Bürostuhl mit Echtlederbezug und extrem hoher Rückenlehne thronte eine Kartoffel.
Nun gut, dachte ich, eigentlich habe ich auch nichts anderes erwartet. ABER: diese Kartoffel trug ein Monokel!
Sofort fielen mir die Worte meines Opas ein, den alle nur Unken-Klaus genannt hatten: »Zwei Dinge merke dir für dein Leben: Vier hin, zwei im Sinn ist gleich dreihundertsechsundfünzig und traue niemals jemanden, der ein Monokel trägt! Und jetzt hol mir meine Pantoffeln, du faules Stück.«
Wie alle anderen, hatte ich Opi Unken-Klaus nie ernst genommen. Nun sollte ich eines besseren belehrt werden.
Die Kartoffel hatte meine Bitte schweigend zur Kenntnis genommen, doch anstatt mir zu antworten, rückte sie nur vornehm an ihrem Einglas herum und bedachte mich mit einem eisenharten Blick, der einem ein Loch in die Stirn bohren könnte, würde sie es darauf anlegen. Ich fühlte mich äußerst unbehaglich.
Schließlich verzog sie ihren knolligen Mund zu einem höhnischen Lächeln und sprach: »Du willst also etwas über deine Zukunft erfahren und auch noch einen Lutscher mit Waldmeistergeschmack erhalten? Bist du denn auch bereit die Prüfung anzutreten, das Rätsel zu lösen? Denn wisse wohl: Nichts auf dieser Welt ist umsonst! Sei es nun für Kartoffel oder Mensch!«
Ich war unendlich froh, dass das olle Knollengewächs von ihrem Kauderwelsch zu einer mir verständlichen Sprache gewechselt hatte.
Voller Zuversicht antwortete ich salopp: »Nur her mit dem Rätsel, Kartoffel!«
»HA!«, röhrte sie so laut, dass ich erschrocken zusammenzuckte. Theatralisch reckte sie ihre dünnen Ärmchen in die Höhe: »So sei es denn. Höre mein Rätsel! Und solltest du die richtige Antwort erraten, werde ich dir deine Zukunft offenbaren!« Und bevor ich die Frage stellen konnte, schob sie unwillig hinterher:»Und die Sache mit dem Lutscher ist dann natürlich auch geritzt.«
Ich nickte zustimmend und hoffte still, dass das Rätsel nicht allzu schwer sein würde.
Die Kartoffel erhob sich auf ihre spillerigen Beinchen, räusperte sich vernehmlich und dröhnte: »Was ist besser: Drei Vierkornbrötchen oder vier Dreikornbrötchen?«
Oha, das war eine harte Nuss. Ich zermarterte mir das Hirn, während die weise Kartoffel mich beobachtete, ihre Händchen aneinander rieb und gelegentlich fies kicherte.
Hätte ich nur meinen Kartoffelschäler dabei!
Meine Anspannung wuchs und als ich schon dachte, ich müsste vor der Schläue dieses bekackten Nachtschattengewächses kapitulieren, durchfuhr mich plötzlich ein Geistesblitz.
Mit einem triumphierenden Lächeln schaute ich der ollen Knolle direkt ins Gesicht und sprach: »Nun, Kartoffel, die Antwort auf diese Frage ist ganz einfach: Natürlich sind die vier Dreikornbrötchen besser. Denn-«, ich wollte gerade meinen Expertenfinger heben, um die tiefgreifende Klugheit meiner Erkenntnis noch zu unterstreichen, als ein ohrenbetäubendes Brüllen einsetzte: »FALSCH, FALSCH, FALSCH! DU UNWÜRDIGE!« Die Kartoffel tobte und zeterte; sie trommelte mit ihren kleinen Fäusten auf dem Stuhl herum. Sie fing sogar an ganze Stücke der Polsterung aus dem Sitz herauszureißen, während ihr nervenzerfetzendes Gekreisch weiter anschwoll.
Ängstlich presste ich die Hände auf meine Ohren und wollte mich langsam zurückziehen. Was zum Geier hatte ich falsch gemacht?
Plötzlich hielt die Kartoffel in ihrer Raserei inne und starrte mich an – in ihren Augen loderten die Feuer Mordors.
»DU HAST SOEBEN DEIN SCHICKSAL BESIEGELT, MENSCH! KEINS VON BEIDEN IST BESSER, DENN BEIDE BRÖTCHEN WERDEN AUS KARTOFFELN GEMACHT!«
Oh je, das hatte ich nun wirklich nicht gewusst. Ich überlegte krampfhaft, wie ich die Situation doch noch retten könnte, aber die Kartoffel war noch nicht fertig.
Ihre Stimme senkte sich zu einem eiskalten Raunen und sie zeigte mit einem ihrer dürren Fingerchen drohend auf mich: »Für diese Unverfrorenheit sollst du von heute an büßen: Pech und Desaster sind von nun an deine Brüder und werden dich auf allen Wegen begleiten. Betrachte dich hiermit als verflucht, du DABBSAGG! UN DEI WALDMEISTERSCHLODDZR KOSCH AU VRGÄSSA!«
Und genau mit diesen letzten Worten machte es PUFF: Das Zelt, die Kartoffel, der ergonomische Bürostuhl, sowie die Gurken verschwanden im Nichts.
Zurück blieb ein Lutscher. Mit Kirschgeschmack.
Der Fluch hatte begonnen.