Sprecher
Dies ist die Geschichte eines Mannes, der die Tiefe sah, die Grundfeste unseres Landes. Der die Wege kannte und der von allem wusste. Gilgamesch war sein Name, zu zwei Dritteln Gott, zu einem Drittel jedoch Mensch. Die Sitze der Götter hatte er allesamt inne, der, der an Weisheit Unübertroffene. Er sah das Geheime und deckte auf das Verhüllte und er wusste von der Zeit vor der großen, der alles zerstörenden, Flut.
Szene 1 Vor den Toren
Gilgamesch: Seht mich an, Töchter und Söhne großer Herren, die aufgewachsen sind in dieser Stadt, Uruk, der Hürdenumhegten. Weit bin ich gekommen und müde ist mein Gemüt, doch endlich kann ich zur wohlverdienten Ruhe in den Mauern dieser Stadt kommen. Erblickt ihr denn nicht dieses Monument, das ich aufgerichtet habe, um die Mühsal aufzuzeigen? Ich bin es gewesen, der die Mauern von Uruk, nach der tödlichen Flut, wiederaufgerichtet hat. So wie das Kupfer am Schmuck unserer Frauen glänzt, so erstrahlt die Mauer von Uruk. Groß ist diese prächtige Stadt, größer als alle Städte, die je von Menschenhand erbaut worden sind.
Handwerker: Ja, mein Gott und König. Mit nichts ist Uruk zu vergleichen. Edel thront Eanna, das Haus der Liebesgöttin Ischtar, hoch wie gutherzig über unsere Stadt. Wahrhaftig, Gilgamesch ist genährt worden von der Göttin Ninsunna, der erhabenen Wildkuh.
Gilgamesch: Ihr habt nach Gebühr gesprochen. Doch geht jetzt weiter eure Werke vollrichten, während ich mich dem Schlafe zuwende, so dass ich nicht von Müdigkeit geplagt bin, wenn ich nach Neuem forsche. (geht langsam und mit erhobener Brust durch das Stadttor in sein Schlafgemach)
Fischer 1: Wer ist dieser Mensch, der zugleich auch Gott ist? Dieser König aller Könige, der sich rühmt sagen zu können, dass er der Herrscher dieses Landes ist. Göttlich sind Stärke und Schönheit des Gilgamesch, der höchste aller Hirten. Ebenso wenig mangelt es seiner Statur an Größe, denn höher als alle anderen Häupter sitzt das seine. Gespannt warten wir darauf, was er als nächstes zu berichten vermag.
Fischer 2: Wessen sanfte Stimme habe ich da vernommen? War es die Stimme unseres göttlichen Königs? Die Stimme des Gilgamesch, der alles wieder in Form gesetzt hat, nachdem es die große Flut vernichtet hatte?
Fischer 1: Es war Gilgamesch, genau wie du es vermutet hattest. Gilgamesch, unser aller Gott und König. Nur durch ihn war es möglich, die alten Kultstätten in neuem Glanz erstrahlen zu lassen.
Fischer 2: Es ergreift mich Furcht, wenn ich mir die glorreichen Taten und Werke des Gilgamesch in mein Gedächtnis rufe. So weit wie er kam noch keiner, so sehr sich jene auch bemüht haben. Gilgamesch hingegen hat das Gebirge sowie den Ozean erschlossen, beständig auf der Suche nach einem Sinn.
Greis: Was schwätzt ihr da so hin?! (aufgewühlt) Verehrt ihr mit Gilgamesch doch keinen Gott, sondern nur einen Mann von großem Hochmut. War es euer göttlicher König Gilgamesch, der die starken Mauern Uruks wiederaufgerichtet hat oder waren es die Handwerker, Steinmetze und Bildhauer, die dieses Werk nach jahrelanger Arbeit, im Schatten der glühenden Sonne, vollbracht haben? Gerade du, altehrwürdiger Handwerker, solltest doch am besten wissen, dass Gilgamesch nicht alleine die Stadt nach der tödlichen Flut aufbauen konnte. (bedrückt und verzweifelt)
Handwerker: Was wagst du so zu sprechen. Nur Übel verlässt dein vorlautes Mundwerk, denn dies scheint dein einziges Gewerbe zu sein, du elender Greis! (wütend) Jemand deines Alters sollte nur allzu gut die Geschichten des Gilgamesch kennen, Geschichten eines großen Helden.
Greis: Im Herzen meines abgelebten Körpers zürnt es mich, wenn mein Geist solche Worte vernimmt. Zugleich aber stimmen deine verlorenen Worte mein Wesen traurig. Bin ich doch älter als der Vater deiner Mutter und deines eigenen Vaters. Mehr habe ich gesehen und erlebt als es dein eingeschränkter Geist zu fassen bekäme. Vom Gilgamesch aber lasse dich nicht trügen, denn die allbekannten Geschichten übersteigen seine Person.
Handwerker: Ein Mann wie du, der dem Tod schon fast erliegt, findet wohl Gefallen daran, sich über unseren Gott und König Gilgamesch zu stellen. Wehe dir, dass die Götter dir nicht augenblicklich den Tod herbeiführen, einen qualvollen und langsamen.
Greis: Mit dir, armer Freund, scheint es mir hoffnungslos zu sein. Keinen weiteren Sinn sehe ich in unserem Gespräch. Auf mich warten viele Aufgaben, die ich noch zu beenden gedenke. (geht langsam mit gebücktem Schritt in die Ferne)
Fischer 1: Mach dir nichts aus diesem Greis. Dem Wahn des Fiebers erliegt er und nicht mehr lange wird er unter uns Menschen verweilen. Soll er uns alsdann nicht mehr plagen mit seinen frevelhaften Worten. (zum Handwerker)
Fischer 2: Lasst uns nicht darüber streiten, sondern uns wieder unserer Arbeit widmen, so hart sie auch ist. Wenn ihr Gilgamesch doch mit den eigenen Augen gesehen habt, dann sollte wahrlich kein Zweifel bestehen, dass Gilgamesch alles Prächtige erschaffen hat, nachdem es zerstört worden war von der Flut. (beschwichtigend) Sowohl Gott als auch König ist er, denn er wurde von der Göttin Ninsunna gezeugt, der erhabenen Wildkuh.
Sprecher
Anlass zur Verwunderung hatte der Greis geboten, da Gilgamesch doch jener gewesen war, der an Göttlichem auf der Erde nicht übertroffen werden konnte. Zwei Ellen betrug die Breite seiner Lenden, drei Ellen seiner Füße und sechs Ellen seiner mächtigen Schultern. Wie Lapislazuli schimmerte sein Bart und an Stärke, so sagte man, glich er einem Stier. Seine Waffen waren die größten und stärksten, die nur er mit der Hand zu führen wusste, und an Brutalität stellten sie alle anderen Waffen in den kalten Schatten.
Szene 2 im Haus (Eanna) der Ischtar
Gilgamesch: Was bin ich für ein großer Herr. Ich, der Hirte aller Hirten von Uruk, der Hürdenumhegten. Bin ich doch von den Göttern selbst geschaffen und keiner kann sich mit mir messen. Dennoch bin ich sterblich wie die kümmerlichen Untertanen meiner Stadt, denn den menschlichen Anteil meines Wesens habe ich immer noch inne, auch wenn ich ihn gerne vergäße.
Tempeldienerin: Aber mein Gott und König, Herrscher über weite Länder, der, der schon vieles gesehen hat und sich allen Gefahren entgegenstellt. Wieso sind sie, mein Gebieter, so betrübt in der Seele? Sind sie doch besser als alles Menschliche.
Gilgamesch: Allein die Sterblichkeit ist es, die meine Seele unruhig stimmt. Bin ich doch äußerlich unseren Göttern so nahe wie kein anderer, innerlich aber bin ich ihnen fern. Was wäre ich für ein Wesen, wenn ich das Menschliche nur ablegen könnte.
Tempeldienerin: Ich kann es ihnen sagen, ehrwürdiger Gebieter. Ein vollkommener Gott wären sie, gleich der Ischtar, die Liebgesonnene unter den Göttern, oder des Enlil, der Sohn des Anum.
Gilgamesch: Recht hast du, Dienerin der Göttin Ischtar. Wie aber gedenkst du dies anzustellen?
Tempeldienerin: Nichts haben sie, edler Gebieter, mehr nötig zu vollrichten, da sie doch alles haben, was ihr Herz verlangt. Schauen sie doch dort die teuren Gewänder auf den hölzernen Truhen, die einzig ihre sind und von gottgleicher Webkunst zeugen. Mehr Brot, Bier und andere Köstlichkeiten gebühren ihnen als allen anderen Männern und Frauen im Volk. Auch das Gold ihrer Schätze übersteigt jeden Reichtum des Diesseits und ist stolzer Ausdruck ihrer Macht. Erinnern sie sich, Gott und König dieser Erde, ihrer Heldentaten, denn die Welt liegt ihnen zu Füßen.
Gilgamesch: Wahre Worte entnehme ich deinem Mund. Worte großer Weisheit und alter Ehre. Deine Rede war allzu recht, da ich von allen Göttern geliebt werde, die den strahlenden Himmel innehaben. Mein Leben kennt keinen Mangel und es fehlt mir an nichts. Zu neuem Leben haben mich deine Worte erquickt, Dienerin im Tempel der Ischtar, und Recht hast du, wenn du sagst, dass ich alles im Leben besitze und mich an meinen Heldentaten rühmen kann.
Tempeldienerin: Begreifen sie doch, gütiger Herr, dass sie der Richter über Gut und Böse sind, der Richter der Welten. Das ganze Volk ist ihnen willig und nichts haben sie zu befürchten außer den Zorn der Götter. Aber selbst der Zorn der Götter ist ihnen gänzlich fern, sind sie doch von ihrem Geschlecht, gezeugt von der Göttin Ninsunna, die Tochter des Enmerkar, Gott und Mensch zugleich. Vergiss nun deine Zweifel und opfere der Ischtar, der Göttin des Begehrens, damit sie uns beisteht sowohl in guten als auch in schlechten Zeiten.
Herold: (tritt Gilgamesch und der Tempeldienerin gegenüber)
Gilgamesch: Warum unterbrichst du mich im Gespräch mit der Dienerin der Ischtar? Sprich also, was du von mir verlangst, Bote von Uruk, der Hürdenumhegten.
Herold: Kunde bringe ich von den Scharen deines Volkes. Nicht alle sind sich eurer Taten gewiss, ehrwürdiger Gebieter, mein Gott und König, der, der so vieles geschaffen hat, König der zahllosen Menschen. Väter und Mütter berichten von Missetaten, für die sie euch beschuldigen.
Gilgamesch: Mich graut es am ganzen Leib bei solch einer Kunde. Was ist es, dass sie mich, ihren Gott und König, auf einer derartigen Weise zu verurteilen versuchen, zeuge ich doch von einmaliger Stärke.
Herold: Nicht mehr wollen die Mütter sich ihrer schönen Töchter entbehren, die sie aufgezogen und fürsorglich gepflegt haben. In finstere Stimmung verfallen auch die jungen Männer von Uruk, da du sie aufforderst, als deine Gefährten zum Ballspielen bereitzustehen. Sie, die Töchter deines Volkes, bringen ihnen eine beträchtliche Bürde, indem sie behaupten, dass sie auf diese Art die jungen Frauen abseits ihrer Gatten halten und sich ihrer bedienen.
Gilgamesch: Verruchte Gestalten, die derartiges zu äußern wagen. Haben sie wohl gar vergessen, um wen es sich bei mir handelt. Einen Gott und einen König wie es noch niemals in der Geschichte einen gegeben hat. Nur gerecht und angemessen ist es mit altbewährter Härte gegen solchen Tadel vorzugehen.
Herold: Was ist nun meine Bestimmung, mein Gebieter. Was soll ich den Müttern und Vätern, Töchtern und Söhnen also kundtun?
Gilgamesch: Wenn jemals wieder eine junge Frau oder ein Jüngling eine Klage gegen ihn erhebt, soll er bitter dafür büßen müssen. Sage du nun zu den Töchtern, die oftmals meine Gemächer besuchen, sowie zu den Söhnen, die mit mir Ballspiele spielen, dass sie sich in Acht nehmen sollten vor der Gewalt des Gilgamesch, denn schmerzhaft sind seine Strafen.
Tempeldienerin: Keineswegs gebührt es mir, mein Gott und König, sie eines Besseren zu belehren, da sie der Weltenrichter sind. Bedenken sie dennoch ihre Wahl. Ischtar, unser aller Göttin, wird es ihnen nämlich Übel nehmen, die jungen Frauen von den Gatten fernzuhalten. Schließlich hört auch Ischtar den Kummer der Frauen und die Trübsal der jungen Männer, die unsere ruhmreiche Stadt mit ihrem Leben zu schützen versuchen.
Gilgamesch: Was muss ich mich vor dir, elendige Tempeldienerin, und vor den Göttern in diesen Tagen noch rechtfertigen? Ist mein Antlitz etwa nicht ausreichend. Sieh doch diese Locken und diese Hände, die von gottgleicher Größe zeugen. Nicht einen einzigen Mann gibt es, der meiner Gestalt gleichkommt oder sich dieser auch nur annähert. Fortan sollst du dein Mundwerk verschließen, damit nimmermehr verruchte Worte deinen Lippen entfliehen. Du, Bote, ziehe in die Stadt und verbreite, ohne zu zögern, die Botschaft, die ich dir bereits aufgetragen habe.
Sprecher: In Eile begab sich der Herold in das Getümmel von Uruk, der Hürdenumhegten. Die Frauen und Männer der Stadt packte die Angst vor dem grimmigen Gilgamesch, als sie die Nachricht ihres Königs zu hören bekamen. Niemand wagte es in den folgenden Tagen die Beschlüsse des Gilgamesch zu hinterfragen, da das ganze Volk, Frauen wie Männer, den Zorn des Gilgamesch mehr fürchteten als alle Götter, die den weiten Äther innehaben. Wenig erfreut über die Eitelkeit des gottgleichen Gilgamesch, beschlossen die Götter den Hirten von Uruk für das Leiden, das er seinem Volk auferlegt, zu bestrafen. Anum, Gott des Firmaments, und Ischtar, Göttin der Liebe, konnten die Klagen der Gattinnen und Gatten nicht weiter erdulden, die sowohl bei Tag als auch bei Nacht nicht beiwohnen durften. Um Gilgamesch zu richten, riefen sie Aruru herbei, Schöpferin der Menschen. Sie sagten: „Aruru, Schöpfer des Menschen, erschaffe uns nun ein Wesen, wie Anum es dir diktieren wird, denn gerichtet werden muss über Gilgamesch, der Hirte von Uruk“ Daraufhin befahl Anum der Aruru: „Dem Sturm seines Herzens soll jener Wiederpart sein. Aneinander mögen sie sich messen, dass Uruk so zur Ruhe kommen kann!“ Noch im selben Moment verrichtete Aruru das Werk, wie es ihr aufgetragen worden war, indem sie sich ihrer Hände wusch, etwas Ton loslöste und diesen in die Steppe warf, woraufhin sie Enkidu, den Helden, erschuf. Am ganzen Leib war er dicht beharrt und lockig spross eine Haarmähne aus seinem Haupt hervor wie Nissaba selbst eine hatte, die Göttin der Schreibkunst. Fremd sind ihm die Menschen und unbekannt ist ihm ihre Kultur, denn abseits mit Gazellen frisst er das Gras, Enkidu, dessen Gewand dem Gott Schakkan gleicht, Gott der Herdentiere.
Szene 3 Enkidu in der Steppe
Enkidu: (kommt von einem Berg herunter und drängt sich an eine Wasserstelle) Zur Seite mit euch, Gazellen und Löwen. Ich habe Durst! (erfrischt sich am Wasser)
Fallensteller 1: (bauen eine Falle, um die Herdentiere einzufangen) Bedecke du die Falle mit Sand, damit die wilden Tiere der Steppe die Mulde, in der wir sie einfangen werden, nicht erkennen können. Ich hingegen gehe mit einem Gefäß zur fruchtbaren Wasserstelle, an der sich die Herdentiere laben, um auch uns mit kühlem Wasser zu erquicken.
Fallensteller 2: Fürchtest du dich denn nicht vor den Tieren der Steppe? Jederzeit könnten sie dich packen, wenn du ihnen zu nahekämst.
Fallensteller 1: Weder fürchte ich mich vor den Tieren, die sich am Quell des Wassers erfreuen noch befällt mich Grauen beim Anblick anderer schrecklicher Gestalten (geht zur Wasserstelle und bleibt auf Distanz, als er Enkidu sieht) Was ist dieses Geschöpf (leise, ängstlich und erschrocken mit erstarrtem Gesicht)
Fallensteller 2: Wo ist mein Freund verblieben? Haben ihn etwa die Löwen schon an Arm und Schulter gepackt? (geht langsam zur Wasserstelle. Sieht Enkidu und wirkt verärgert, aber zugleich auch ängstlich) Lasst uns von hier verschwinden, damit wir nicht in die Gewalt dieser Bestie geraten. (entfernen sich langsam, dann immer schneller von der Wasserstelle)
Fallensteller 1: Dem Vater muss ich berichten, was wir mit unseren Augen zu sehen bekamen, obgleich ich denke, dass er uns nicht glauben wird. (steigt auf ein Pferd und reitet nach Hause)
Enkidu: (nähert sich der Falle und schüttet diese zu)
Sprecher:
Ohne Rast ritten die Fallensteller nach Hause, um der Familie alles zu berichten, was sich zugetragen hatte. Denn nie zuvor hatten sie etwas Vergleichbares gesehen.
Vater: Was ist, mein Kind, dass du mit deinem Pferd zu mir eilst? Haben dich die Tiere in der Steppe, als du die Fallen aufgestellt hast, zu mir gejagt?
Fallensteller 1: Nein, Vater. Etwas deutlich Sonderbares habe ich in der Steppe mit eigenen Augen erblicken können. Da ist ein Bursche, der gegenüber an die Wasserstelle kam, aber als ich ihn sah, erstarrten meine Züge und Angst verspürte ich von den Beinen bis zu den Haaren meines Hauptes. Im Lande scheint er der Stärkste zu sein, da er Kräfte hat wie ein Brocken des Anum, unser verehrter Himmelsgott. Den ganzen Tag wandert er auf den Bergen umher und drängt sich dann mit den Herdentieren an die Wasserstelle. Aussichtslos ist meine Lage, da er die Fallen zugeschüttet hat, die ich mit viel Mühe gegraben habe. Ich aber bin so voller Angst, dass ich mich ihm nicht nähern kann, gewaltig nämlich sind seine Kräfte.
Vater: Mein Sohn, da ist ein Spross aus dem Herzen Uruks, Gilgamesch nennen sie ihn. Kurtisanen, Freudenmädchen und Dirnen sind bei ihm am Tage wie zur Nacht. Du sagst, dieser Bursche habe Kräfte wie ein Brocken des Anum. Doch überzeuge dich selbst, dass die Kräfte des Anum allein Gilgamesch hat. Nimm den Weg, nach Uruk richte nun deinen Sinn und suche Gilgamesch auf. Es bedarf nicht der Muskelkraft des Menschen, um Enkidu zu bezwingen. Geh, mein Sohn, mit dir führe Schamchat die Dirne, denn ihre Macht ist der eines mächtigen Mannes gleich. Sobald die Herde eintrifft an der Wasserstelle, soll sie ihre Kleider von sich streifen und ihre Reize zeigen. Er wird sie sehen und sich ihrem Zauber mit vorsichtigen Schritten nähern. Folglich wird ihm seine Herde, in deren Mitte er aufwuchs, fremd sein.
Sprecher:
Auf den Rat seines Vaters gab er acht und begab sich auf Reise. Seinen Sinn richtete er stets nach Uruk, der Hürdenumhegten, in der Hoffnung, dass Gilgamesch ihm beistehen werde.
Szene 4 Auf Geheiß des Gilgamesch
Fallensteller 1: Da ist ein Bursche, der gegenüber an die Wasserstelle kam. Im Lande ist er der Stärkste und Kräfte hat er wie ein Brocken des Anum. Auf den Bergen wandert er den ganzen Tag umher und drängt sich dann mit den Herdentieren an die Wasserstelle. Aussichtslos ist meine Lage, da er die Fallen zugeschüttet hat, die ich mit viel Mühe gegraben habe. Ich aber bin so voller Angst, dass ich mich ihm nicht nähern kann, gewaltig nämlich sind seine Kräfte.
Gilgamesch: Geh, mein Fallensteller, mit dir führe Schamchat, die Dirne. Sobald die Herde eintrifft an der Wasserstelle, soll sie ihre Reize zeigen. Seine Herde, in deren Mitte er aufwuchs, wird ihm darauf fremd erscheinen.
Sprecher:
Gleich darauf begab sich der Fallensteller in Begleitung der Dirne erneut in die trockene Steppe. Drei Tage sollten sie unermüdlich mit ihren Rossen durch das karge Land reiten, um endlich die Steppe zu erreichen und den Enkidu zu bezwingen. Zwei weitere Tage verweilten der Fallensteller und die liebliche Dirne gegenüber der Wasserstelle, immer im Begriff Enkidu zu erspähen.
(Fallensteller 1 und Schamchat verstecken sich hinter einem Gestrüpp nahe der Wasserstelle und beobachten diese)
Fallensteller 1: Da kommt es, das Ungeheuer, und drängt sich mit den Herdentieren an das Wasser. (leise und unsicher) Zeige deine Schönheit, Schamchat, du Schönste aller Frauen. Entblöße deine Brust, öffne deine Scham, auf dass er deine glänzenden Reize vernehme. Beschäftige ihn mit den Künsten des Weibes, auf dass er sich deiner ganz und gar annehme, denn fremd wird ihm dann seine Herde sein.
Schamchat: (entkleidet sich langsam, tritt aus dem Gestrüpp hervor und geht auf Enkidu zu) Nicht mehr Scham habe ich noch schrecke ich vor diesem zurück (selbstbewusst)Was ist dein Name, Bewohner der Steppe?
Enkidu: Enkidu, auch nennt man mich den Stillen, denn karg sind meine Worte.
(Schamchat bietet sich bereitwillig Enkidu an und umsorgt ihn)
Sprecher:
Sechs Tage und sieben Nächte sollten vergehen, ehe die Lust des Enkidu an der Dirne Schamchat gesättigt. Nach Tagen der völligen Hingebung wandte Enkidu sein Gesicht abermals zu seiner Herde, doch die Gazellen sahen Enkidu und stürmten in die Ferne der Steppe. Beschmutzt war nun der Körper des einst so reinen Enkidu und mit der Herde laufen konnte er nicht mehr. Sein Körper war geschwächt von der Liebe der Dirne, selbst bemerkte er seine Ungunst, denn tief war seine Einsicht.
Enkidu: (setzt sich der Dirne zu Füßen und schaut ihr in die Augen)
Schamchat: Gut bist du, Enkidu. Einem Gott ähnlich scheint mir dein Wesen. Sage mir, warum läufst du den wilden Tieren der Steppe hinterher? Ich aber will dich nach Uruk führen, der Hürdenumhegten, Sitz des Anum und der Ischtar. Auch herrscht dort ein Mann, Gilgamesch genannt, seine Kräfte lässt er den Frauen und Männern im Volke spüren. Die Gatten lässt er nicht zu den Gattinnen und die Gattinnen nicht zu den Gatten. Niemand traut sich Gilgamesch, dem Gott und König, zu widersprechen, denn Böses hätten sie zu erwarten.
Enkidu: Nimm mich mit, Schönste aller Dirnen, zu den Häusern des Gilgamesch. Mit ihm will ich mich messen, indem ich in Uruk sage, dass ich der Stärkere bin. Ich, der in der Steppe bei den wilden Tieren zur Welt gekommen ist, zeuge von Stärke wie selbst Gilgamesch nicht!
Schamchat: So mögest du mich als mein Geleit begleiten. Dirnen, die deinen Körper zu pflegen wissen, gibt es in Uruk reichlich. Doch nicht nur die Dirnen werden dich erfreuen, sondern auch die zahlreichen Feste sollen dein Gemüt froh stimmen. Gilgamesch, unseren Gott und König, möchte ich dir vorstellen. Sein göttliches Antlitz sollst du mit deinen tiefen Augen erfassen. Kein Sterblicher kann ihn bezwingen und kann von sich behaupten, weiser zu sein als Gilgamesch, der Hirte von Uruk, der Hürdenumhegten. Ich sage dir, stillschweigender Enkidu, Gilgamesch übertrifft dich bei weitem an Kraft und Ausdauer. Lasse also ab von deinem frevelhaften Plan, den du mit Groll im Herzen trägst.
Enkidu: Was redest du so ungestüm? Befreien muss ich Uruk von Gilgamesch, da er die Menschen mit seinem Zorn zu unterdrücken versucht.
Schamchat: Schamasch, der Sonnengott, ist Gilgamesch angetan wie keiner der anderen Götter. Gilgamesch ist nicht unwissend über deine Ankunft in Uruk, der Hürdenumhegten. In seinen Träumen hat er deine wilde Gestalt bereits zur Kenntnis genommen, als du noch mit den Gazellen über die Berge geschritten bist. Glaube mir, Gilgamesch ist klug und nichts gibt es, das er nicht weiß. Lasse also ab von deinem frevelhaften Plan, den du mit Groll im Herzen trägst.
Sprecher:
Die Beschwichtigungen der Dirne Schamchat hatten das Feuer in Enkidus Herzen, das er noch immer mit sich führte, nicht erlöschen können. Je mehr sich Enkidu mit der Dirne Schamchat der Stadt Uruk nährte desto größer wurde seine Neugier den König Gilgamesch kennenzulernen, der den Willen des Volkes zu bändigen verstand.
Szene 5 Enkidus Eintreffen in Uruk
(Enkidu und Schamchat gehen durch das große Stadttor und begeben sich vorsichtig zu den Häusern des Gilgamesch)
Hirte 1: Schaut euch diesen Burschen an, wie gleicht er doch an Gestalt unserem Gott und König Gilgamesch, der Hirte aller Hirten von Uruk. Bis an den Wipfel einer hochgewachsenen Zinne reichen die durchsträubten Haares seines Hauptes.
Hirte 2: Es wird wohl Enkidu sein, dessen Heimat die Berge und die weite Steppe sind. Vielerorts hört man Geschichten über seine Stärke, die besagen, dass die Kräfte des Enkidu so stark sind wie ein Brocken des Anum.
Handwerker: Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich wohl meinen, dass es sich um Gilgamesch selbst handle. An Höhe ist er dem Gilgamesch gleich, und auch seine Kräfte zeugen von göttlicher Gewalt. Einzig sein Gewand ist dem des Gilgamesch unähnlich, denn an Form und Farbe ähnelt es der Bekleidung des Schakkan.
Fischer 1: Seht ihr denn nicht diesen Zorn in seinen Augen? Nicht gut wird er es mit uns meinen. Gilgamesch muss sich ihm widersetzen, um uns vor seiner Hartherzigkeit zu bewahren.
Greis: Hast du denn, nach unserem letzten Gespräch, noch immer nichts gelernt, elendiger Fischer? Gilgamesch beherrscht euch wie Knechte, nicht aber jener, der durch die Tore unserer Stadt eingetroffen ist.
Fischer 1: Was weißt du schon über Gilgamesch und diesen Burschen, den sie Enkidu nennen. Nicht ohne Grund ist er aus der Steppe zu den Menschen gekommen. Ein böses Schicksal hat uns mit ihm ereilt, durch ihn nämlich werden wir alle zugrunde gehen. Gilgamesch ist unsere letzte Hoffnung dem Leid zu entgehen, doch Gilgamesch, unser Gott und König, wird, wie ich glaube, Enkidu im Todeskampf bezwingen. Zumal sind die Götter seit der Geburt des Gilgamesch durch seine Mutter Ninsunna, der Wildkuh, ihm gefällig.
Greis: Wie schön es doch nur wäre, wenn Gilgamesch von ihm gerichtet werden würde. Zu lange harren wir unter der Knechtschaft des Gilgamesch aus, doch du wagst es nicht ihm zu widersprochen, sondern lobst seine Taten in Anwesenheit des Volkes. Freilich haben sich die Götter schon lange von Gilgamesch abgekehrt und haben Enkidu zu ihm gesandt, damit er über ihn richtet. Immerfort hören Ischtar und Anum bedrückten Herzens die Wehklagen des Volkes. Auf deren Geheiß hat Aruru Enkidu aus Lehm erschaffen, denn er soll über das Schicksal des übermütigen Gilgamesch entscheiden.
Fischer 1: Wieso sprichst du, Greis, mit einer solchen Zuversicht, als hättest du eine Eingebung der Götter empfangen? Wahrlich obliegt es dir nicht, die Handlungen der Götter zu nennen von denen du zu wissen behauptest.
Greis: Was bist du für ein Tor, der die Worte eines Mannes verneint, die von den Göttern selbst hätten kommen können. Im Traume erfuhr ich das Schicksal des Gilgamesch bereits vor langer Zeit, das noch am heutigen Tag in Erfüllung treten wird. Ihr aber werdet enttäuscht sein über euren hochgepriesenen Gilgamesch, der die Gatten von den Gattinnen und die Gattinnen von den Gatten fernhält.
Fischer 1: Recht hatte ich, als ich sagte, dass du dem Wahn des Fiebers erliegst. Erzähle mir nichts von deinen Lügengeschichten, die du unter das Volk zu vermischen versuchts. Gezählt sind deine Tage des Ablebens, bevor du vor die mächtigen Götter trittst, die das Firmament innehaben. Bitter sind die Strafen der Götter für deine Worte, die du gegenüber mir geäußert hast.
Greis: Noch am heutigen Tage wirst du sehen können, dass meine Rede keine göttliche Anmaßung ist, sondern eine gottgesandte Botschaft, die mir im Traume aus der Höhe Wolkendecken herabgesandt worden ist.
Fischer: Wiedermal muss ich dein Geschwätz ertragen. Begib dich in dein Gehöft und pflege die Ziegen, anstatt deinen letzten Odem in meiner Gegenwart zu äußern. (verlegen)
Greis: Heute werden wir sehen, wer von uns Recht hatte. Die Tage des Gilgamesch sind gezählt und mit ihm die Tage seiner Knechtschaft. (leise, aber zuversichtlich)
(Schmachat reicht Enkidu die Hand und führt ihn in ein Brauhaus)
Schamchat: Komm, mein Freund, der die Natur liebt und die Menschen verachtet. Ich möchte dir den Weg zu den Gemächern des Gilgamesch weisen. Doch vorerst sollst du deinen Leib an Brot und Bier sättigen.
Enkidu: (schaut ratlos umher und isst weder das Brot noch trinkt er das Bier, das Schamchat ihm zukommen lassen hat)
Schmachat: Warum isst du denn nicht das Brot, das ich dir zukommen lassen habe. Ebenso verweigerst du dich das Bier zu trinken, das dir neuen Lebensmut spenden soll. Verwehre dich nicht der Brotkunst, die den Menschen eigen ist. Auch sollst du die göttliche Heiterkeit von Hopfen und Malz spüren, die uns von den Göttern zur Linderung des Seelenschmerzes geschenkt wurde.
Enkidu: (beginnt zu trinken und zu essen. Nach einiger Zeit erliegt Enkidu dem Rausch und stimmt ein Lied an. Schmachat rasiert Enkidu und ölt seine Haut ein)
Aus Lehm geformt, den Tieren gleich
Durchzogen wir die Berge
Trank ich an einem tiefen Teich
Bin nun der Götter Scherge
Ein Leben, fern von guter Erde
Umringt von warmen Winden
Genährt am Bauch der wilden Herde
Glich Geist doch einem Blinden
Auf Rat der Götter dann verführt
Betäubt durch Ischtars Zauber
Hat Schamchat nun mein Herz berührt
Sie pflegte mich ganz sauber
Enkidu: Ich bin Enkidu, der Bezwinger des Gilgamesch. Von den Göttern geschaffen, in der Wildnis aufgezogen und von Schamchat über Mensch und Kultur belehrt.
Jüngling: Bist du nicht Enkidu, der auf den Bergen bei wilden Tieren gelebt hat?
Enkidu: Ich bin es, Enkidu, doch unter Tieren lebe ich nicht mehr. Was betrübt dein Herz, dass du in dieses ehrenwerte Gasthaus mit eiligem Schritt hineintrittst?
Jüngling: Gilgamesch liebkost die Gattinnen unserer Männer, da es ihm durch die Götter zugebilligt worden war. Nicht einer der jungen Männer von Uruk sieht seine Gattin, denn sie alle sind in den Gemächern des Gilgamesch. Unsere letzte Hoffnung liegt in deinen Händen. So flehe ich dich an, Enkidu, Herr der Wildnis, beende die Willkür des Gilgamesch und erhalte ewigen Lohn in unserem Volke.
Enkidu: (erblasst und voller Zorn) Ich werden Gilgamesch aufsuchen, damit ich Uruk seiner Gewalt entreiße. Der Zorn hatte sich etwas gelegt, doch deine Trübsal erweckt meinen Grimm von Neuem wie nie zuvor.
Anhang
Vorab ist anzumerken, dass dieses Werk nicht im Alleingang entstanden ist, sondern sich an die Ausgabe „Das Gilgamesch-Epos neu übersetzt und kommentiert von Stefan M. Maul“ von C.H. Beck orientiert und sich stellenweise auch einer direkten Übernahme bestimmter Passagen, besonders in der direkten Rede, bedient, um die poetische Ausdrucksstärke so weit wie möglich zu erhalten.