Das Leben ist wie eine Zugfahrt. In jedem Wagon sitzen Menschen, die mit dir die Fahrt durch das Leben bestreiten. Eine Zugfahrt mit Haltestellen, mit Umwegen, mit Hindernissen und Unglücken. Viele Menschen steigen ein, viele Menschen steigen aus. Uns stehen viele Abschiede bevor, die einen fallen leichter, die anderen schwerer. Es wird Hände geben, die wir nicht loslassen wollen, uns fehlt die Kraft, den Mut. Die Angst vor der Einsamkeit – wie ein Stromausfall auf unserer Fahrt.
Mein Zug steht auf dem Abstellgleis, noch nicht bereit zur Weiterfahrt. Den Notausknopf gedrückt, halte ich eine Hand, die ich nicht loslassen kann. Ich bin nicht dazu bereit und es fühlt sich so an, als würde ich es auch nie werden.
Jeder Mensch bekommt Aufgaben in seinem Leben, Lektionen die wir lernen; Situationen die wir meistern; und Gefühle die wir kontrollieren sollen. Herausforderung nach Herausforderung, ein Ende ist nicht in Sicht, wie auch, wenn mein Zug auf dem Abstellgleis festhängt. Die Bremsen beginnen zu rosten, der Strom wird schwächer. Ich muss diese Hand loslassen und mein Zug fährt weiter.
Es geht nicht.
Das erste was uns verbindet, wenn wir auf die Welt kommen ist unsere Familie. Sie sind die ersten Passagiere in unserem Zug. Eine Familie bringt Liebe und Glück mit auf die Reise, macht die Weiterfahrten nach den Haltestellen erträglicher, schenkt Wärme an kalten Tagen, spendet Trockenheit im Regen. Aber auch Familienmitglieder haben nur einen begrenzten Fahrschein.
Das Uhrenticken, das Herzpochen, die rollenden Tränen. Egal wohin du schaust, du schaust in traurige, in schmerzerfüllte und ängstliche Gesichter. Lächeln ist unmöglich, die Beine fühlen sich schwer an, der Kopf kreist umher. Ich verirre mich in unzähligen Gedanken, verzwicke mich, bleibe hängen und verliere mein Ziel vor Augen.
Nun sitzen wir hier, mein Zug beginnt zu rollen – langsam, aber bestimmend - unaufhaltsam. Wie weit mag deine Haltestelle noch entfernt sein? Wie viel Zeit bleibt mir noch? Die Hand in meiner wird kälter, sie zittert. Wenn ich dich anschaue, sprudeln unzählige Erinnerungen in mir hoch, Erinnerungen voller Glück, voller Freude. Wir haben gelacht, wir haben geweint, gezankt und gestritten – aber immer wieder zueinander gefunden. Es ist unmöglich, ich kann diese Hand nicht loslassen. Diese Hand hat mich durch Leid und Kummer geführt, wie schwer auch die Momente gewesen sind, sie hat meine Hand nicht losgelassen. Hat mir aufgeholfen, mich festgehalten. So viele schöne Momente, sie werden einst eine Erinnerung für die Ewigkeit bleiben.
Wir sind an deiner Haltestelle angekommen, mein Zug legt eine Pause ein. Der Name dieser Haltestelle ist klar und deutlich zu lesen „Palliativstation“. Man stellt sich vieles im Leben vor, versucht sich auf die unterschiedlichsten Momente vorzubereiten, malt sich Gespräche aus, die man nie führen wird. Aber auf das, nein auf das war ich nicht vorbereitet.
Ich steige aus meinem Zug, betrete die Station, renne schnell wieder zurück. Jeder der diese Station schon einmal betreten hat, wird mich sicherlich verstehen. Erst hier ist mir richtig bewusst geworden, dass mich die Hand, die ich so kraftvoll festhalte, loslassen wird. Ich werde nicht diejenige sein, die loslässt – nein sie wird ihre Hand von meiner lösen, egal wie stark ich sie festhalten werde, es wird nicht reichen.
Angekommen an einer Endstation, nicht meiner, sondern deiner. Die Tage sind gezählt, wann du die Treppen hinauf steigen wirst weiß niemand. Wie oft werde ich dir noch eine gute Nacht wünschen können? Wie oft werde ich dir noch „ich hab dich lieb“ zuflüstern können? Wie lange kann ich diese Hand noch festhalten?
Oft frage ich mich was mich diese Haltestelle lehren soll. Das schmerzerfüllte warten, es macht mich verrückt. Die Hoffnung, es ist alles nur ein ganz beschissener Alptraum bröckelt von Tag zu Tag. Verstehen, warum ein so geliebter Mensch so viel Leid ertragen muss – unmöglich.
Was mich diese Haltestellen lehren wird, ich weiß es nicht. Mir steht ein Kampf bevor, den ich verlieren werde. Bis dahin hält meine Hand deine. Du hast meine ersten Schritte beschützt, nun schütze ich deine letzten.
Mein Zug wird nach dieser Rast weiter fahren, dein Platz wird leer bleiben.
Und alles beginnt von Anfang. Neue Menschen steigen ein..