Der Wald lag in tiefschwarzer Nacht und ein normaler Mensch hätte kaum die Hand vor Augen erkannt, doch die graue Wölfin störte das überhaupt nicht.
Ihre schlanken Beine, mit den starken Muskeln, trugen sie leichtfüßig durch das Unterholz des Waldes und sie sprang behände über umgestürzte Bäume.
Hier fühlte sich die Wölfin wohl.
Abseits ihres Rudels und allein, konnte sie endlich ihren Gedanken nachhängen.
Aber wenn sie ehrlich war, lief sie eigentlich vor ihren Problemen davon, anstatt sich ihnen zu stellen.
Das war auch der Grund, warum sie vor einem Baum stehen blieb und damit begann hinauf zu klettern.
Wenn man sie suchen würde, würde man sie dort oben nicht so schnell finden. Und man würde sie suchen. Aber die Wölfin wollte vor Anbruch der Dunkelheit nicht gefunden werden.
Schnell und lautlos fand sie einen Ast, der ihr einigermaßen zusagte, um sich auf diesem nieder zu lassen. Sie wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, seitdem sie aus dem Haus ihrer Eltern gestürmt war, doch sie wusste definitiv, dass sie nicht so schnell zurückgehen würde. Sie machte es sich so bequem wie es ihr möglich war und dachte über das letzte Gespräch mit ihren Eltern nach. Hätte es womöglich auch anders laufen können?
Verärgert über ihre eigene Situation kniff sie die Augen zusammen.
*Als hätte ich sowas nötig... tz!*, murmelte die Blauhaarige spöttisch in ihren Gedanken, als sie plötzlich knackende Geräusche in der Ferne vernahm und aufhorchte.
Sie spitzte die Ohren und richtete sich auf ihrem Ast ein Stück auf, um gut sehen zu können. Ihre blauen Augen suchten die nahe Umgebung ab und sie duckte sich, als plötzlich ein weiterer, großer Wolf aus dem Gebüsch kam und direkt auf ihren Baum zu hielt, als würde er wissen, dass sie dort war.
Lika duckte sich. Das war doch unmöglich! Er konnte nicht wissen, dass sie dort war. Außerdem kannte sie diesen Wolf nicht. Aber er war eindeutig, wie sie, ein Werwolf.
Er trat näher an den Baum heran und Lika zog sich noch weiter zurück. Hoffentlich entdeckte er sie nicht.
Die Wölfin blickte zu ihm hinab und musste einen empörten Laut unterdrücken, als der andere Wolf plötzlich das Hinterbein hob und den Baum markierte.
*Das ist jetzt nicht sein Ernst*, dachte sie empört und blickte zur Seite. Am besten sie machte sich so leise, wie möglich aus dem Staub!
Verunsichert beobachtete sie den Wolf unter sich, um sicher zu stellen, dass er sie nicht bemerkt hatte. Langsam setzte sie eine Pfote vor die andere und sah sich schnell in ihrer naheliegenden Umgebung um, wo ihr direkt ein Ast auffiel, der ihr förmlich wie gerufen kam.
*Ich kann sehr wohl auf mich selbst aufpassen!*, mit diesen Worten setzte sie zum Sprung an und drückte sich mit voller Kraft von ihrem Ast ab, der jedoch dem Druck des Sprunges nicht standzuhalten schien, und sie geradewegs auf den urinierenden Wolf krachte.
*Ach Mist*, war alles, was sich Lika dachte, als sie auch schon das Fell des anderen Wolfes spürte und dann wurde ihr kurz die Luft aus den Lungen gedrückt, als die Wucht des Aufpralls sie richtig traf.
Das war wieder einmal wunderbar. Warum geschah immer ihr sowas?
Schnell rollte sie sich runter und wollte das Weite suchen, doch leider war sie zu nervös, um normal laufen zu können und stolperte über ihre eigenen Pfoten und krachte zu Boden.
Noch im selben Moment vernahm sie ein tiefes, dunkles Knurren, das sich ihr zuzuwenden schien. Sie versuchte keine Angst zu zeigen und ihren eigenen Gedanken gerecht zu werden. Nach einem tiefen Atemzug schnellte sie hoch und nahm eine Abwehrhaltung gegenüber dem anderen Wolf ein. Der jedoch verstummte, sobald sie sich diesem zuwendete. Er verengte lediglich seine Augen zu misstrauischen Schlitzen. Schließlich wurde er nicht jeden Tag von fliegenden Wölfen angegriffen, doch diese hier schien ihm überhaupt keine Bedrohung zu sein.
Nichtsdestotrotz war das hier immer noch sein Revier.
*Greifst du immer Wölfe an, denen du nicht gewachsen bist?* Lika zuckte zusammen, als sie die dunkle, erdrückende Stimme in ihrem Kopf hörte.
*Das war kein Angriff*, versuchte sie vorsichtig und verunsichert. Warum musste sie ausgerechnet an jemanden geraten, der ihr Angst machte? Okay, die meisten männlichen Wölfe machten ihr Angst, aber das hier war schon wieder etwas anderes. Was sollte sie denn jetzt tun?
Eine lange Weile herrschte angespanntes Schweigen, in denen der dunkle Wolf die graue Wöflin mit seinen Blicken durchbohrte. Nach einer gefühlten Ewigkeit, entspannte er seine Angriffshaltung und ging einige Schritte um sie herum.
*Was hast du dann hier verloren?*, entgegnete er mit Nachdruck.
*Ich hab...*, begann Lika und war sich nicht sicher, ob sie einem fremden Wolf ihre ganze Lebensgeschichte erzählen sollte. Sie entschied sich schließlich für nein und erfand eine Ausrede, die nicht ganz weit vorbei an der Realität war. *... ein Nickerchen gemacht*, beendete sie ihren Satz.
Langsam schlich der große Wolf mit den leuchtend grünen Augen um sie herum und schien sie bis ins kleinste Detail zu mustern. Schließlich kam er vor ihr zum Stehen und setzte sich dicht vor sie, um ihren Duft einzuatmen. Als würde ein Gewitter aufziehen, das im Inbegriff war eine komplette Stadt zu verwüsten. Das war ihr individueller Duft, der sie auszeichnete. Kurz blitzte etwas in seinen Augen auf, was Lika nicht ganz zuordnen konnte, doch es verschwand so schnell, wie es gekommen war.
*Und bist von einem Ast gefallen?*, fragte er ungläubig.
Lika zögerte kurz und nickte dann peinlich berührt. Wieso wiedersprechen, wenn er es sowieso schon gemerkt hatte. Und sie musste ihm ja auch nicht erzählen, dass sie versucht hatte sich weg zu schleichen. Und das sie ihn beim Erleichtern gesehen hatte, musste sie ihm auch nicht unter die Nase reiben. Es reichte schon die Peinlichkeit, dass sie auf ihm drauf gefallen war! Wie auch immer sie das wieder hin bekommen hatte. Manchmal war sie richtig vom Pech verfolgt.
Wieder verstrichen einige Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, in denen er sie nur zu mustern schien.
*Nehmen wir mal an, ich glaube dir diese Geschichte.* Er stand wieder auf und richtete seinen Blick auf den abgebrochenen Ast, auf dem Lika vor einigen Minuten noch gesessen hatte. *Wieso schläft dann eine schwache Wölfin wie du alleine, nachts im Wald, auf einem Baum?*
Lika stieß ein leises Knurren aus. *Nur weil ich weiß, mit welchen Leuten ich mich besser nicht anlegen sollte, bin ich nicht schwach*, erklärte sie beleidigt. Sie wusste, wann sie sich unterzuordnen hatte, doch sie konnte durchaus Krallen zeigen, wenn sie musste. Auch wenn sie es wahrscheinlich im Nachhinein bereuen würde.
*Dein loses Mundwerk wird dir eines Tages noch zu Schaden kommen*, zischte er zurück und verfinsterte seinen Blick. Seine sonst hellgrün leuchtenden Augen schienen einen dunkleren Farbton anzunehmen. *Haben deine Eltern dir keinen Anstand und Respekt gelehrt?*
Likas Tonlage ihres letzten Satzes schien ihn mehr zu verärgern, als die Tatsache, dass sie ihn beim Markieren gestört hatte.
Darauf sagte sie nichts. Stattdessen drehte sie sich um und stolzierte davon. Sie hatte es nicht nötig mit einem dahergelaufenen Köter zu streiten.
Normalerweise bildete sie sich nicht so viel auf ihre Abstammung ein, aber durch diese, war sie normalerweise nur mit gesitteten und wohlerzogenen Wölfen umgeben. Er gehörte da definitiv nicht dazu!