Wie benommen öffnete Sezuna ihre schweren Augenlieder und versuchte durch das blendende Licht irgendetwas zu erkennen.
Wie lange hatte sie geschlafen? Wo war sie? Was war passiert?
Sie vernahm Stimmen aus der Entfernung und darauf Schrittgeräusche, die von einem Flur wiedergehallt wurden.
Sie kamen näher, bis sie schließlich kurz vor ihr zum Stehen kamen.
„Sie ist wach“, rief die merkwürdig vertraute Frauenstimme in die andere Richtung und ging die letzten paar Schritte zu Sezuna, um ihr eine kühle Hand auf den Arm zu legen.
„W...Wo...“, war alles, was Sezuna hervorbrachte, denn ihre Stimme versagte. Genauso wie ihr Blick immer wieder verschwamm und sie die Person vor sich nicht erkennen konnte.
Die Frau tätschelte ihr den Arm. „Beim WeVa auf einer Krankenstation“, erklärte sie mit ruhiger, aber besorgter Stimme.
Sezuna drehte den Kopf ein Stück und erkannte, dass sie etwas am Arm hatte. Ihr fiel das Wort dafür nicht ein. Dennoch spürte sie, dass es wohl ein Mittel sein musste, dass ihren Kreislauf wieder aufbaute. Auch ihr Blick schien sich langsam zu klären.
Sie beobachtete die fremden Hände dabei, wie sie langsam die Nadel aus ihrem Arm zog und ihr beim Aufsetzen half. Sezuna holte einige Male tief Luft und sah endlich das Gesicht der Frau, die gerade einen Rollstuhl für Sezuna herbei zog.
„Mae?“, fragte sie leise und war sich nicht sicher, ob sie nicht doch noch träumte. Die Schwarzhaarige lächelte ihr freundlich entgegen und half ihr sich in den Rollstuhl zu setzen.
„Es ist schon eine Weile her, nicht wahr?“, fragte sie, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten und fuhr langsam mit ihr aus dem Zimmer raus.
Sezuna indes fühlte sich noch immer so schlapp und ausgelaugt, dass sie sich nicht einmal über den Rollstuhl beschweren konnte. Obwohl es sie sehr ärgerte auf diesen angewiesen zu sein.
Es hatte in ihrer Kindheit genug Momente gegeben, an denen sie sich nicht von allein hatte bewegen können und diese Momente hatten Narben und Ängste hinterlassen. Doch die Gegenwart von Mae beruhigte sie etwas.
„Was machst du hier?“, presste Sezuna mühsam hervor.
„Was dachtest du denn wofür ich meine Heilfähigkeiten einsetzen würde? Auch wenn es mich eine Ewigkeit gekostet hat Ma davon zu überzeugen das ein Job als Krankenschwester nicht gefährlich ist“, kicherte Mae und verhielt sich so, als wäre keinerlei Zeit vergangen. „Du bist gar nicht mehr wiederzuerkennen. So Erwachsen. Gar nicht wie das Kind, das immer Unruhe gestiftet hat.“
Sie bog in einen andern Flur ein, der zu einem Fahrstuhl führte.
„Ich... Uh mein Schädel“, murmelte Sezuna und Mae tätschelte ihr die Schulter.
„Du hast dir da heftig was eingefangen, Kleine“, meinte die Schwarzhaarige freundschaftlich. „Ist ein Wunder, dass du schon wieder wach bist. Aber ich hab das Ganze ein wenig beschleunigt“, erklärte Mae schließlich leise an ihr Ohr. „Ich wollte nicht, dass du hier bleiben musst. Es ist besser, wenn du an einem Ort bist, wo deine Eltern dich nicht so leicht finden“, fügte sie hinzu und Sezuna wurde schlagartig schlecht.
„E... Eltern?“, krächzte sie und Panik kam in ihr auf.
Mae nickte. „Ja, ich habe gehört, dass sie beim Rat nach dir gefragt haben, als du wieder zurückgekommen bist.“
Sezuna setzte dazu an aufzustehen, doch Mae behielt eine Hand auf ihrer Schulter, um sie davon abzuhalten. Mit einem hohen Klang kündigte sich der Fahrstuhl an und die Türen schoben sich beiseite. Vorsichtig fuhr sie mit Sezuna in den kleinen Raum und steuerte den mit Magie gesteuerten Fahrstuhl zur gewünschten Etage.
„Wo... gehen wir denn hin?“, fragte Sezuna murmelnd und rieb sich die Schläfen. Die Türen sprangen wieder auf und Mae schob Sezuna in einen weiteren Flur.
„Nach Hause“, flüsterte Mae und kam vor einer schweren Doppeltür zum Stehen.
Ohne sie zu berühren schwang diese auf, sodass Mae gemütlich durchlaufen konnte und eine Reihe von Schließfächern zum Vorschein kam.
Sie schob sich an den zahlreichen, silbernen Schränken vorbei, bis sie schließlich vor einem stehen blieb und diesen mit einem magischen Schloss öffnete.
„Ich habe deine Sachen in meinem Schließfach aufbewahrt, damit sie nicht deine Sachen durchsuchen. Zieh dich an, du musst halbwegs gesund aussehen, damit ich dich mitnehmen kann.“ Mae legte den kleinen Stapel Kleidung auf Sezunas Schoß und ging kurz vor ihr in die Hocke, um ihr besser in die goldenen Augen blicken zu können.
„Es ist schön dich wiederzusehen. Wenn auch unter diesen Umständen“, sagte Mae zart mit einem warmen Lächeln und strich ihr aufmunternd über die Wange.
Sezunas Lächeln war ein wenig wackelig, aber sie verstand die Worte.
Kurz schloss sie die Augen, atmete tief durch und nahm die Magie der Umgebung in sich auf.
Sie nutzte diese, um ihren Körper anzutreiben, erntete dafür aber einen bösen Blick von Mae. Als Heilerin wusste diese, dass Sezuna so zwar für eine kurze Zeit wieder Kraft hatte, dafür aber umso schlimmer leiden würde, wenn diese Kraft verbraucht war.
„Um hier raus zu kommen, tue ich alles“, erklärte die Rothaarige leise, ließ sich aber von Mae dabei helfen ihre Kleidung anzuziehen. Das hässliche, blassgelbe Kleid, das alle Patienten trugen, war wirklich nicht bequem. Da mochte sie das schwarze, lange Kleid, das aus feiner, magischer Wolle gewoben war, schon mehr.
Fertig angezogen setzte sich Sezuna, wenn auch nicht ganz freiwillig, wieder in den Rollstuhl und die beiden stiegen wieder in den Fahrstuhl.
„Du wohnst also noch zu Hause?“, fragte Sezuna, die das Schweigen brechen wollte, das sich aus Angespanntheit ergeben hatte. Mae lachte kurz auf.
„Du kennst doch Ma. Niemand zieht aus diesem Haus aus, es sei denn sie kommt mit. Wie ein Stalker, der dich nicht aus dem Haus lässt, bevor du ihr nicht eine Umarmung vorher gibst.“
Der Fahrstuhl hielt an und Sezuna konnte durch einige Fenster nach draußen in die Natur blicken.
Sie musste bei dem Gedanken an die Frau, die ihr jedes Mal, wenn sie kam eine Umarmung aufdrückte, die sich manchmal sogar bis in mehrere Minuten zog unwillkürlich lächeln. Hauptsächlich dann wenn sie sie längere Zeit nicht gesehen hatte.
„Ja“, sagte Sezuna mit einem sanften Lächeln. „Ich vermisse sie sehr“, bemerkte sie und stellte fest, dass es stimmte.
Sie war die letzten Jahre so in ihre Arbeit vertieft gewesen und war vor ihren Schatten davongelaufen, dass sie manchmal das Licht in ihrem Leben nicht mehr gesehen hatte.
Diese Frau, die ganze Familie war ein so helles Licht, dass sich Sezuna sofort wohl fühlte und sogar so etwas wie Farbe im Gesicht zurück erhielt.
„Sie sieht gut aus. Du darfst sie mitnehmen. Aber pass gut auf sie auf“, sagte die Ärztin, die sich um Sezuna gekümmert hatte zu Mae und diese nickte.
Mae machte früher Feierabend, um Sezuna schnellstmöglich nach Hause zu bringen.
Bereits in der Einfahrt des großen, verwachsenen Anwesens überkam Sezuna ein Gefühl als würde sie nach so vielen Jahren wieder nach Hause kommen. Sie kamen vor der Haustür zum Stehen und Sezuna musste instinktiv zur Seite gucken, wo sie einen schmalen Blick auf den See hinter dem Haus hatte, mit dem sie viele Erinnerungen verband.
Mae seufzte, als sie bereits laute Rufe auf der anderen Seite der Tür vernahm.
„Bist du bereit für den Tornado?“, fragte sie vorsichtshalber und bedachte Sezunas Zustand kritisch.
„Immer“, war die Antwort, die mit so viel Liebe hervorgebracht wurde, dass Mae ihre Entscheidung nicht ein einziges Mal bereute. Auch wenn sie wusste, dass es sehr gefährlich für Sezuna gewesen war, sie jetzt schon aus dem Krankenhaus zu holen, denn sie war nicht bei bester Gesundheit und ihr Zustand war nicht sonderlich gut. Aber ein bisschen Blut und gute Gesellschaft konnten Wunder wirken. Das wusste Mae nur zu gut.
Auch wenn sie nie offen zugeben würde, dass man ihre chaotische Familie als gute Gesellschaft bezeichnen konnte.
„Auf eigene Gefahr“, murmelte sie und schloss die Tür auf.
Sezuna musste bei dem vertrauten Geräusch der knarzenden Tür lächeln und versuchte ihre Überraschung nicht zu deutlich zu zeigen, als die komplette Familie bereits vor der Tür versammelt stand und über ihnen ein 'Willkommen zu Hause, Kleines!' Banner hing.
Nach nicht einmal einem Sekundenbruchteil löste sich eine Frau mit blonden Locken mit Vampirgeschwindigkeit aus der Mitte und zog Sezuna in eine feste Umarmung, nachdem diese in Tränen ausbrach.
Mae drehte sich wütend zu ihrer Mutter.
„Ma! Ich hab dir gesagt sie braucht Ruhe, was soll das?“, mit einer Geste deutete sie auf die versammelte Familie und war schon froh, dass nicht die halbe Nachbarschaft anwesend war.
„Jetzt werd nicht hysterisch!“, seufzte sie und versuchte den Klammergriff um Sezuna zu lösen, was jedoch zwecklos war.
„Du bist so unglaublich hübsch geworden!“, kreischte die blonde Frau in einem schrillen Ton, der kaum noch zu erkennen war.
Sezuna musste blinzeln, um den Tränen Herr zu werden, die sich in ihre Augen stahlen, doch sie schaffte es nicht diese zurückzuhalten.
Mit zitternden Armen hielt sie Edith fest umschlungen und drückte ihr Gesicht an ihre Schulter, um zu weinen.
„Ich hab euch so vermisst“, gestand sie schniefend und freute sich unglaublich wieder hier zu sein.
Diese Vampire waren mit ihr nicht blutsverwandt, doch sie waren ihre Familie. Mehr, als manch einer ahnen würde.
Für diese Leute würde sie alles tun.