Er wusste, dass Sezuna lange Zeit beim Rat Obhut bekommen hatte, bevor sie diese rekrutiert hatten. Sobald Kaden sich unter den Agenten bewiesen hatte, erzählte er ihnen von Sezuna und ihrer seltenen Gabe. Eine, die dem Rat zu Gute kommen könnte. Genau wie er erwartet hatte, sah dieser es ebenso und ging los, um ihr ein Angebot zu machen. Sie erzählten ihm von ihrem Zustand und ihrer Entwicklung. Sie mussten ihn wohl als eine Art Berechtigten sehen gegenüber der Rothaarigen.
Doch er wusste nicht, dass diese sich nach ihrer Rückfindung dem Ältesten Rat angeschlossen hatte.
„Das kommt darauf an, wie man es sieht. Der Rat hat sie auch auf die Erde geschickt, weil sie dort sicherer ist, als hier“, damit holte die Direktorin Luft. „Sie galt in ihrer Familie als geistig nicht stabil und so wurde sie auch behandelt. Du weißt wie Vampire, starke Vampire mit sowas umgehen“, sagte sie erneut, allerdings schien dann jemand etwas zu ihr zu sagen, was die Direktorin daran hinderte weiter zu sprechen.
„Ich muss jetzt auflegen. Wir verlassen uns auf sie alle.“
Gerade als Kaden etwas erwidern wollte, hörte er das Piepen der toten Leitung.
Er verharrte einige Sekunden bewegungslos, mit dem stummen Handy immer noch am Ohr.
„Kaden?“, hörte er Likas Stimme leise hinter sich fragen. „Kaden, was ist los?“, er reagierte nicht.
Wollte nicht reagieren. Doch er würde Lika wohl früher oder später eine Antwort liefern müssen.
„Ich-“, setzte er an schüttelte dann jedoch den Kopf. „Mach dir keine Sorgen ihr geht‘s gut.“
Eine Lüge, das wusste er, aber er brachte es nicht über sich die Wahrheit auszusprechen. Das es möglich war, dass sie vielleicht nicht wieder kam.
Denn sobald er sie aussprach, wurde es zu einer Tatsache, die er nicht mehr verleugnen konnte.
Und ihm gingen die Worte der Direktorin durch den Kopf.
Was war in den letzten 20 Jahren vorgefallen, seitdem sie die Schule verlassen hatten?
Nachdem sie ohne ein Lebenszeichen verschwunden war?... ihn verlassen hatte.
Lika runzelte ungläubig die Stirn und blickte zu ihm hoch.
„Hör auf mich anzulügen! Ich bin ebenso eine Agentin wie ihr also behandelt mich nicht die ganze Zeit wie ein kleines Kind“, presste Lika leise hervor, doch sie machte dabei keinen Hehl aus ihrer Wut.
Kaden ignorierte es und packte sein Handy ein als er sich zum Ausgang wandte.
„Du und der Köter kümmert euch um die Haare. Ich hab noch was zu erledige“, rief er ihr noch zu, als er das Café verließ und sich auf den Weg machte.
Wütend blieb Lika stehen und bemerkte die verwunderten Blicke, die auf sie beide gerichtet waren.
Doch die waren ihr egal.
Sie wollte nur, dass Sezuna endlich zurückkam.
Lika klopfte Orion auf die Schulter, der noch immer wirkte, als würde er schlafen.
Dieser öffnete die Augen und sah die Blauhaarige fragend an. „Kommt, wir haben zu tun“, meinte sie und nahm die Haare, ehe sie Geld auf den Tisch legte und das Café verließ.
Orion war darüber so verwundert, dass er ihr einfach folgte.
Müde rieb sich der Werwolf über die müden Augen und versuchte mit Likas Tempo mitzuhalten.
Er war unwissentlich eingeschlafen, wie er sich eingestehen musste.
Die letzten Nächte waren schlaflos verlaufen. Stets blieb er wach, um auf ein Zeichen des WeVa zu warten, doch es kam nichts.
„Wie lange war ich weg?“, nuschelte er mit rauer Stimme.
Er hatte zwar endlich ein wenig Schlaf bekommen, doch nicht genug um wieder klar denken zu können.
„Kaden kam gerade rein und hat uns diese Haarsträhne aus dem Medaillon geliefert. Dann wurde er angerufen und meinte, dass es Sezuna gut gehe. Was allerdings nicht sehr glaubwürdig klingt. Ich glaube seine Mutter war am Handy“, erklärte die Werwölfin leise, aber dafür ziemlich schnell.
„Seine Mutter?“, wiederholte Orion ungläubig, da er dachte er sei noch im Halbschlaf. Er begann sich zu fragen wie alt Kaden eigentlich war. Oder war seine Mutter Mitglied beim Ältesten Rat? Er wusste wirklich rein gar nichts über seine Vampirkollegen. „Heißt das Sezuna kommt bald wieder?“, hakte er nach und hielt Lika die Tür zum Wohnheim offen, damit sie durchschreiten konnte.
Es würde völlig ausreichen, wenn sie die Haarsträhne bei Orion verbrannten. Soweit sie wussten, sollte dabei ja nichts geschehen.
„Keine Ahnung“, sagte Lika ein wenig niedergeschlagen. „Ich habe nicht alles gehört und bin nicht ganz sicher. Kaden sagte ihr geht es gut, aber die Stimme am Telefon meinte, dass es ihr nicht so gut geht, dass man sagen könnte sie kommt wieder.“
Orions Gesichtsausdruck verhärtete sich.
„Der Typ tischt einem eine Lüge nach der anderen auf. Können wir uns irgendwie selbst in Kontakt mit dem WeVa setzen?“, fragte er, da er wusste, dass wenn jemand dazu in der Lage war, dann Lika.
Schnell schloss er seine Wohnung auf und schloss die Tür wieder hinter den beiden.
„Na ja, wir könnten anrufen“, sagte Lika zögern. Orion, der das deutlich oder hörte, blickte sie abwartend an. „Oder ich hacke ihre Datenbank und besorge mir Sezunas Krankenbericht. Aber damit würde ich in ihre Privatsphäre eindringen und ich bin mir nicht sicher, ob ich das möchte“, gestand die Blauhaarige.
Orion seufzte und nahm der Werwölfin die Haarsträhne aus der Hand mit der sie rumspielte.
Schweigend stellte er sich in die Küche übers Waschbecken und zückte ein Feuerzeug.
„Du wärst nicht die Lika, die ich kenne, wenn du das wollen würdest“, mit diesen Worten zündete er die Strähne an und beobachtete die kleinen Flammen die das rote Haar in Asche verwandelte, bis er diese letztlich ins Waschbecken fallen ließ, wo sie sich auflösten. „Und ich will dich nicht zu etwas drängen, was du nicht möchtest.“
„Aber ich möchte wissen wie es ihr geht“, platzte es aus Lika heraus. „Aber nicht so, dass ich das Gefühl habe meine neue Freundin gleich nach der ersten Woche zu verraten“, erklärte sie, während sie mit ihren Fingern spielte und unruhig im Zimmer auf und ab lief. „Hast du denn keine Idee, was ich machen könnte?“
Orion folgte Likas unschlüssigen Bewegungen durch den Raum und war ehrlich überrascht.
Er hatte die junge Werwölfin noch nie so aufgebracht und verloren erlebt.
Nicht wegen einer Entscheidung, die Orion nicht für sie fällen konnte.
„Ich denke, es wäre besser, wenn wir ihre Krankenakte da lassen wo sie ist“, gestand er und musste zugeben, dass er sich auch nicht ganz wohl dabei fühlte, ohne ihr Einverständnis rumzuschnüffeln.
„Aber es muss doch noch einen anderen Weg geben“, meinte Lika und blieb nicht stehen. „Ich meine irgendjemanden muss ich doch fragen könnten. Es gibt sicher beim Rat jemanden, der mir sagen kann, ob es ihr gut geht, oder nicht. Am besten ich rufe einfach dort an“, sagte sie und zückte ihr Handy.
Der Werwolf seufzte und verwarf den Gedanken sie abhalten zu wollen.
Natürlich wollte er auch wissen was genau Sezunas Erkrankung mit sich brachte und was ihrem gemeinsamen Auftrag im Wege stand.
Doch den Rat wegen eines Vampirs zu kontaktieren... undenkbar in seiner Position.
„Bist du sicher, dass es keinen besseren Weg gibt?“, versuchte er es, doch er wusste selbst nicht so richtig worauf er hinaus wollte.
Lika warf ihm einen musternden Blick zu, ehe sie sicherheitshalber in einen anderen Raum wechselte. Sie kannte Orions Blick und der war nicht begeistert, dass sie beim Rat anrief.
Orion blickte ihr hinterher und war kurz davor ihr zu folgen, beließ es jedoch dabei. Stattdessen ließ er sich auf dem Sofa nieder.
Es dauerte zehn Minuten, ehe Lika zurückkam. In der Hand ihren Laptop. „Sie wollen mir nichts sagen“, erklärte sie und stellte den Laptop auf.
Es war einer der magischen, die es auch in ihrer Welt gab und mit denen auch der WeVa arbeitete.
Orion ahnte böses. „Was hast du vor?“, fragte er vorsichtig.
„Ich werde den WeVa hacken“, erklärte Lika ohne große Umschweife. „Sie wollten mir nicht sagen, was mit Sezuna ist und ich habe sie gewarnt, dass ich ihre Computer hacke, wenn sie es mir nicht sagen. Der Herr am Telefon meinte, wenn ich das schaffe bekomme ich eine Beförderung“, hier schnaubte Lika. „Der WeVa ist wirklich nicht sonderlich schlau, wenn sie glauben ihr Schutzsystem wäre irgendwie besonderes. Das ist ein Kinderspiel. Warum bin ich nicht schon vorher darauf gekommen mir die Infos gleich an der Quelle zu holen.“
Orions Augen wurden immer größer, während sich seine Stirn runzelte. Was zur Hölle war in sie gefahren?
„Ich weiß nicht... vielleicht weil es moralisch verwerflich ist?“, riet er ins Schwarze, doch Lika war schon gar nicht mehr erreichbar.
Vermutlich sollte er sie aufhalten und sie zurechtweisen.
Er wollte gar nicht wissen, wie er vor dem Hohen Rat dastehen würde, wenn diese davon erfuhren, doch er tat es nicht.
Viel zu sehr sehnte er sich nach denselben Antworten wie Lika auch.
Lika hatte die Augen geschlossen und die Hände auf die Tastatur ihres Laptops gelegt.
Die magischen Strömungen waren deutlich zu spüren und das Lächeln auf ihren Lippen zeigte ihm, dass Lika schon gefunden hatte, wonach sie gesucht hatte. Und das wirklich schnell.
„Also. Sezuna wurde vom Krankenhaus des WeVa zu einer privaten Familie verlegt. Dilectus. Ihr Zustand ist soweit stabil. Man ist sich allerdings nicht sicher, ob die Erkältung, oder eher das Virus in ihrem Blut etwas mit ihrem Gehirn angestellt hat. Der Ältesten Rat fürchtet um ihre Gabe, da sie diese sehr schätzen. Und dann sind da noch einige Notizen, die ich nicht verstehe. Scheinbar einige Dinge für Sezunas nächsten Auftrag. Es ist auch noch nicht entschieden, ob sie zu uns zurück kommt, allerdings scheint festzustehen, dass sie überlebt“, erklärte Lika und runzelte die Stirn. Dann hob sie die Hände vom Laptop. „Mehr will ich nicht wissen. Ich frage mich aber wirklich, warum Sezunas Bericht so tief versteckt lag“, murmelte sie nachdenklich vor sich hin.
Sie hatte bei den normalen Leuten gesucht, die für den Ältesten Rat der Vampire arbeiteten. Dort hatte sie Kaden gefunden, seine Akte aber nicht näher betrachtet. Sezuna hingegen lag ziemlich tief in den Archiven des Rates verborgen. Geschützter, als die meisten anderen.
Orion hob beeindruckt eine Augenbraue.
„Nächsten Auftrag? Was meinen die damit? Sie hat doch nicht mal diesen hier abgeschlossen“, gab Orion zu bedenken und blickte auf Likas Hände.
Was konnte sie noch alles?
Bei ihren letzten Aufträgen war ihre Gabe nie soweit zum Einsatz gekommen. Vermutlich weil es in er magischen Welt nur vereinzelt Technik gab, doch hier schien sie eine wahre Geheimwaffe zu sein.
„Wenn ich das richtig verstanden habe, und ich habe es nur überflogen, ist Sezunas wohl für den Vampirrat so etwas wie eine wandelnde, magische Bibliothek. Sie scheint nur knapp eine Woche gebraucht zu haben, um nach ihrer Einstellung die Bibliothek des Rates in ihrem Gedächtnis archiviert zu haben. Wenn man bedenkt, was die Räte so an Werken sammeln kann man davon ausgehen, dass Sezuna wohl so ziemlich alles an magischen Wissen gespeichert hat, was es gibt. Sie scheint, laut den Notizen, innerhalb der fünf Jahre, die sie nun beim Rat ist, so etwas wie ein Ansprechpartner und Jäger nach antiken, magischen Schätzen zu sein. Ich habe noch nie so viele Aufträge bei einer einzelnen Person in so kurzer Zeit gesehen. Sie musst während eines Auftrages, den sie aktiv geführt hat, noch passiv weitere gemanaged haben. Und sie haben den Auftrag hier auf der Erde als Urlaub eingestuft“, erklärte Lika, wobei der letzte Satz sehr trocken kann. „Ich wusste nicht, dass ihre Gabe so... umfangreich ist. Was man mit ihrem Wissen alles anstellen kann... Ich glaube mein Kopf ist dafür viel zu klein.“
Seufzend vergrub der Werwolf sein Gesicht in seinen Händen und knurrte frustriert.
Er hatte sie weit mehr als nur unterschätzt.
Nein... er hatte es ihr nicht zugetraut.
Doch all diese Informationen änderten nicht an ihrer momentanen Situation.
„Was genau heißt das für uns? Sollen wir einfach ohne sie weiter machen? Ist es das was der WeVa entschieden hat?“, fragte Orion laut, doch weniger zu Lika, als an eine unbekannte Person von der er selbst nichts wusste wer sie eigentlich war.
Lika senkte den Blick und schüttelte leicht den Kopf.
„Vermutlich wollen sie genau das.“