Sezuna spürte, wie sie mit jeden Tag stärker wurde. Ihr Körper fühlte sich nicht mehr an wie Wackelpudding und auch ihr Gehirn schien wieder die Arbeit aufzunehmen, die es sonst immer tat.
Das war auch der Grund, warum sie heute entschlossen hatte, endlich nach draußen zu gehen und das Spatzennest zu erkunden.
Sie hatte also das Fenster geöffnet und war auf den Ast geklettert, auf dem sich das Nest befand.
Auf halben Wege war ihr aufgefallen, wie hoch sie war und sie war erstarrt. Nun krallten sich ihre Hände in den Baum und sie zitterte, während sie versuchte sich zu beruhigen und ihren Körper dazu zu bewegen, weiter zu machen.
Hoffentlich sah sie niemand. Obwohl sie nicht glaubte, dass jetzt jemand vorbei kam. Zu dieser Zeit waren sie alle, einschließlich Edith, mit anderen Dingen beschäftigt. Die Mutter war wohl gerade dabei das Essen vorzubereiten.
Sezuna blickte zu dem gewünschten Loch im Baumstamm und schluckte.
So nah und doch so fern.
Mit zitternder Hand griff sie nach einem stabilen Ast, um langsam von dem einen auf den anderen zu rutschen bis sie sich schließlich vor ihrem Ziel befand.
Mit halber Erleichterung steckte sie ihren Arm in das dunkle Loch und wollte lieber gar nicht darüber nachdenken, wie sie wieder zurück klettern sollte.
Sie ertastete eine glatte Fläche als sie diese stirnrunzelnd packte und auf ihren Schoß hob.
Eine kleine simple Holzkiste.
Keine Verzierungen kein Garnichts.
Sezuna spürte sofort den allseits bekannten Zauber den Kaden immer verwendete, um seine Sachen zu schützen. Ein schwacher Zauber, der sich leicht knacken ließ, wenn man Kaden denn kannte.
Sezuna musste schmunzeln, als sie an die Zeit zurückdachte, an der sie ihm diesen Zauber beigebracht hatte. Sie hatte es so einfach ausdrücken müssen, dass sie selbst damit so überfordert gewesen war, dass sie vier oder fünf Anläufe gebraucht hatte. Ganz einfach, weil sie nicht in der Lage gewesen war ihr Wissen zu vermitteln.
Doch schon damals hatte Kaden sie anerkennend angesehen und gemeint, sie wäre ein Genie.
Der erste, der sowas zu ihr sagte.
Selbst die Lehrer hatten sie am Anfang für verrückt und geisteskrank gehalten, bis sie ihren Horizont erweitert hatten und ihre Gabe bemerkten. Nicht zuletzt, weil Kaden für sie übersetzt hatte.
Sezuna schluckte bei diesen Erinnerungen.
Tränen traten ihr in die Augen, doch sie versuchte sie weg zu blinzeln.
Stattdessen hielt sie ihre Hand über die Schatulle und löste vorsichtig den Zauber.
Dieser verflog schneller als erwartet... Kaden war noch nie sonderlich gut in Schutzzaubern. Magie, die ihm dabei half sich so wenig wie möglich zu bewegen motivierte ihn dafür mehr als alles andere.
Langsam öffnete sie den Deckel und holte tief Luft, als sie die Fotos von den beiden entdeckte, die sie früher in seinem Zimmer auf gehangen hatten. Von Kindesalter an bis hin zu ihrem letzten Schultag. Bereits als sie das erste Bild hochhob entdeckte sie auch eine alte Haarspange an dessen Ende ein blauer Schmetterling prangte.
So hatte sich Sezuna überhaupt erst für einen solchen entschieden als sie das Freundschaftsarmband geflochten hatten.
Es war das erste was Kaden ihr geschenkt hatte.
Auch wenn er sie von seiner Schwester geklaut hatte... so hatte er sie doch für sie geklaut.
Sezuna erinnerte sich daran, dass es zwei von diesen Spangen gegeben hatte.
Sie hatte die Spangen in der Schule immer getragen, sie allerdings Kaden jedes Mal zurückgegeben, weil sie nicht wollte, dass ihr Vater diese bemerkte.
Sezuna lächelte traurig und nahm das nächste Foto in die Hand.
Darunter befand sich eine blond-rote Strähne und Sezuna musste unweigerlich grinsen.
Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie es dazu gekommen war, doch sie hatte eine Wette verloren und Kaden wollte, dass sie ihre Haare blond färbte.
Sie hatte Magie benutzt, doch es war schief gegangen. Das Resultat war ein blond-rot gestreifter Haarschopf gewesen, der sie heute noch zum Lachen brachte.
Kaden hatte scheinbar eine ihrer Strähnen ergattert und sie aufbewahrt.
Sezuna schluckte und versuchte die Tränen zu unterdrücken.
Kaden. Sie vermisste den Freund so sehr.
Die Wunde fühlte sich frischer an, als je zuvor, obwohl sie schon mehr als 20 Jahre alt war.
'Geh zum Vogelnest' hatte Mae gesagt... vermutlich wusste sie über Kadens Geheimkiste Bescheid. Er war ja bekanntlich nicht sehr gut im Verstecken was hauptsächlich damit zusammenhing, dass er auch so schon gerne mal das ein oder andere verlor.
Sie blätterte mehrere Bilder durch auf denen Kaden Sezuna als Kind mehrmals in den See geschubst und gelacht hatte. Bis Sezuna ihn mit einem Zauber mit sich zog und sein Lachen erlosch.
Unweigerlich musste sie kurz auflachen was jedoch gleich von einem Schluchzen abgelöst wurde.
Sie blickte wieder in die Truhe, als sie sogar einige von ihren alten Klamotten darin fand die sie wohl bei Kaden vergessen haben musste.
Die magische Kiste bot wirklich mehr Raum, als sie sich anmerken ließ.
Sie war kaum größer als ihre Handfläche und doch passte eine ganze Menge hinein.
Sezuna zog einen Teddybären hervor, der alles andere als gut aussah und ihr kamen die Tränen.
Das war ihre erste Handarbeit gewesen. Sie war so stolz auf den Bären gewesen, hatte ihn aber nicht mit nach Hause nehmen können. Sie wollte für ihn ein gutes Zuhause und hatte ihn deshalb Kaden geschenkt.
Sie wusste, dass Kaden ihn eine Zeit lang immer bei sich trug.
Sezuna schluchzen wurde lauter, als sie den Tränenfluss einfach nicht mehr stoppen konnte.
Sie wollte die Kiste am liebsten wegwerfen, doch sie gleichzeitig nie wieder loslassen.
Selbst jetzt wo er nicht mal in ihrer Nähe war, schaffte er es sie vollkommen aus der Fassung zu bringen.
Sie krallte ihre Finger in das Futter des Stofftiers und kniff die Augen zu, als sie ein stechender Schmerz hinter ihrer Schläfe breit machte.
Tausende Erinnerungen schossen ihr in den Kopf. Erinnerungen, die sie längst weggeschlossen hatte, doch nun waren sie alle wieder da und schmerzten mehr als je zuvor.
Wieso hatte er all das aufbewahrt? Als schlechten Schertz? Oder war er doch so 'naiv' wie er in der Nacht des Sturms behauptet hatte. Ob er sich die Sachen überhaupt noch ansah?
Vermutlich hatte er auch die Schachtel vergessen, genau wie er sie vergessen hatte.
Eine Flut an Bildern stürzte auf sie ein. Einzelheiten, die sie irgendwann wahrgenommen hatte. An Kadens Verhalten und in ihrer Umgebung, doch sie konnte Ungereimtheiten bei Kaden sehen. Etwas, was ihr Gehirn nicht akzeptieren konnte und nun krampfhaft versuchte eine logische Erklärung zu finden. Doch für Gefühle gab es diese nicht, weshalb ihr Hirn sie mit Bildern überflutete.
Sezuna keuchte und krallte sich in den Ast. Die Kiste entglitt ihren Fingern, bei dem Versuch sich auf dem Ast zu halten und nicht nach unten zu segeln.
Doch ihr Blick verschwamm immer mehr, während sie versuchte durch die Bilder, die auf sie einkrachten, etwas zu sehen.
Sie wusste nicht einmal mehr, wo oben und unten war, daher spürte sie zu spät, dass sie von dem Ast kippte.
Sie spürte es, nahm es wahr, doch sie konnte nicht reagieren.
Sie konnte nur warten... warten auf den schmerzhaften Aufprall der noch folgen würde.
Doch er kam nicht. Stattdessen landete sie als würde sie abgefedert werden.
Mit schmerzendem Kopf kniff sie ihre goldenen Augen, mit dem kläglichen Versuch ihre Gedanken zu ordnen, zu.
Sie spürte wie ihr Körper hin und her wankte, doch sie konnte nicht sagen, woher es kam. Ihr war viel zu schwindelig, als das sie sich auf irgendwas konzentrieren konnte.
Dann nahm sie Kadens Geruch wahr und ihre Gedanken fokussierten sich auf die Vergangenheit mit Kaden und auf Kaden selbst.
Es fühlte sich so an, als würde sie jemand tragen. Doch das konnte nicht sein, oder?
Und es roch nach Kaden. Aber auch das war unmöglich. Wenn Kaden hier gewesen wäre, dann hatte Edith das doch schon längst laut deutlich gemacht. Immerhin konnte sie mit ihrer Gabe Kaden spüren, sobald dieser die magische Welt betrat.
Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren, nur taten es ihre Augen und ihre restlichen Sinne nicht.
Sie sah noch immer verschwommen und das, was sie hörte, ergab keinen Sinn.
Wenige Zeit später erkannte sie Kadens unverkennbare Zimmerdecke über ihr und eine weiche Matratze auf der sie Platz fand.
Sie blinzelte wiederholt, als sie durch das Dachfenster blickte und gleißende weiße Lichtstrahlen in ihr Gesicht fielen.
Sie wusste nicht wie viel Zeit verging, während sie nur in das grelle Licht starrte, bis sie plötzlich ein Seufzen vernahm.
„Du musst echt wirklich immer irgendein Drama abziehen, was Kätzchen?“, sie drehte angestrengt ihren Kopf zur Seite, als sie Kaden erblickte, der ebenfalls den Blick an die Decke gerichtet hatte und neben ihr im Bett lag.
„Was? Wie?“, brachte sie fragend hervor und ihr Hirn versuchte das Ganze zu begreifen.
Wie war Kaden hier herein gekommen.
Wahrscheinlich durch den zweiten Eingang, sagte ihr Gehirn, auch wenn das nicht ihre eigentliche Frage war.
Edith hatte nicht reagiert. Hatte nichts gesagt. Hätte aber Kaden wahrnehmen müssen. Und das Edith die Füße stille hielt... Nun das war sehr unwahrscheinlich. Dafür rechnete ihr Gehirn eine Chance von weniger als 0,00001% aus und damit fiel diese Idee gar nicht erst in die Möglichkeiten.
Also blieb nur die Möglichkeit, dass das hier nicht real war. Nur ein seltsamer Traum. Wahrscheinlich war sie vom Ast gefallen und hatte sich heftig den Kopf gestoßen. Oder sie war eingeschlafen und nie hinaus auf den Ast geklettert.
So oder so überkam sie wieder das Gefühl das diese Illusion jeden Moment wieder von ihrem Vater zerstört werden konnte. Es sei denn er hatte gerade besseres zu tun.
Sezuna hoffte jedenfalls das dem so war.
Sie atmete einmal tief durch, um Kadens Geruch in sich aufzunehmen. Ihr Gehirn war zwar noch recht schwammig, doch wenigstens funktionierten ihre Sinne in ihrer Fantasie.
„Du schnüffelst also in meinen Sachen rum wenn ich nicht da bin, ja? Hast du das früher auch schon gemacht?“, fragte er mit einem leisen Lachen.
Ja... das war definitiv ihr Kaden und nicht ihr Vater. Zumindest noch nicht.
Sezuna beobachtete jede Regung in Kadens Gesicht und würde ihn am liebsten berühren. Nur, um sich zu vergewissern, dass er nicht gleich wieder verschwinden würde, wie letztes Mal.
Statt ihn zu berühren, nahm sie seinen Geruch weiter auf und konnte kaum glauben, wie intensiv er war. Selbst in ihren Träumen.
Am liebsten hätte sie sich jetzt seinen Arm geschnappt und ihn an sich gedrückt, doch sie bewegte sich nicht. Aus Angst, er könnte gleich wieder verschwinden.
„Ich habe nie Erinnerungsstücke an unsere Kindheit besessen, daher dachte ich mir, ich leih mir deine aus“, meinte sie sehr leise und beobachtete Kaden genau.
Kaden seufzte erneut und schien nachdenklich ins Leere zu blicken.
Nach einigen Sekunden drehte auch er seinen Kopf zu ihr, als seine Augen an ihren vorbei zu ihrem Ohr glitten. Er hob die Hand zu ihrem Kopf und kämmte ihre roten Locken mit seinen Fingern zurück, um nach ihrem Ohrring zu greifen.
Eine flüchtige Berührung, die aber dennoch ein wohliges Kribbeln auf ihrer Haut hinterließ.
Er sah überrascht aus.
„Du hebst ja echt alles auf du Idiot. Du entwickelst dich noch zu einem Messi, wenn das so weiter geht“, entgegnete er sarkastisch doch Sezuna konnte über diese Fassade hinweg sehen.
So reagierte er immer, wenn er drohte emotional zu werden. Mit demselben 'Idiot' das sein Vater auch immer benutzte.
Sezuna wusste nicht so genau warum, aber sie hob ihre Hand und legte sie auf Kaden. „Nicht kaputt machen, bitte“, warnte sie mit einer Spur Schärfe. Nicht einmal in ihrem Traum wollte sie, dass dieser Ohrring kaputt ging.
Und sie hatte zu viel Angst, dass ihr Vater wieder seine Finger im Spiel hatte, um Kaden zu vertrauen. Selbst in ihren Träumen. Immer schwang diese Angst mit, die ihren Magen zum Rumoren brachte.
Wären sie in der Realität, hatte Kaden das wahrscheinlich schon längst wahrgenommen.
Mit einem überrumpelten Gesichtsausdruck zog Kaden seine Hand langsam zurück, doch er hielt weiterhin den Blick auf Sezunas goldene Augen gerichtet.
„Du hast Angst. Wovor?“, fragte er letztlich leise und schien ihre Gefühle gespürt zu haben.
Sezuna musste lächeln über ihre eigene Vorstellungskraft, doch sie schüttelte nur den Kopf.
Sie konnte es ihm nicht sagen. Ihr Vater war viel zu nah. Womöglich würde er es merken, dass sie wieder von Kaden träumte. Etwas, was er ihr deutlich untersagt hatte.
Als würde sie ihre Träume lenken können.
Trotzdem entschied sie sich etwas zu sagen. Sie wollte wissen, wie Kaden in ihren Träumen darauf reagierte.
„Ich kann Erinnerungen speichern, wie ein Computer, das heißt aber nicht, dass man mir diese Erinnerungen nicht auch nehmen kann“, sagte sie langsam und hoffte, dass der Sinn ihrer Worte nicht allzu kryptisch war.
Sezunas Züge wurden weich, als sich ein gutes Gefühl in ihr breit machte. „Ich habe gerne etwas, was mich daran erinnert, dass es Wesen gibt, die in mir nicht nur etwas sehen, was man wegwerfen kann, wenn es einen nicht gefällt. Selbst, wenn es nur für kurze Zeit ist.“
Kaden zog nervös die Augenbrauen zusammen und lachte leise auf, was sich eher nach einem Winseln anhörte.
„Wa-was meinst du?“, fragte er sichtlich verspannt und versuchte Sezunas Worte zu verstehen.
Wieder musste sie sich die zahlreichen Nachhilfestunden in Erinnerung rufen in denen Kadens Aufmerksamkeitsspanne begrenzter war als die einer Fliege.
Sezuna lachte, doch es lag die Freude von Erinnerungen darin und die Verzweiflung ihrer Vergangenheit.
„Mein Vater kann in Gedanken von anderen schlüpfen und sie manipulieren. Er hasst mich, weil ich nicht sein Blut bin“, erklärte Sezuna, doch es klang nicht so traurig, wie Kaden erwartet hatte. Stattdessen schien sie aus seiner Gegenwart Kraft zu schöpfen.
Und es war sowieso nur ein Traum. Was sollten ihre Worte also anrichten? Wenn sie aufwachte war alles wieder in Ordnung. Oder zumindest so in Ordnung, wie es sein konnte.
Sezuna versuchte sich auf den Traum zu konzentrieren und nicht darauf, dass Kaden in der Realität wieder weg war. Aber selbst jetzt vermisste sie ihn ungemein.
„Wieso erzählst du mir das erst jetzt?“, fragte er schließlich nach einigen prüfenden Sekunden, in denen er sie nur gemustert hatte. Seine Stimme wurde sanfter, fast schon mitleidig.
Sie wusste nicht, ob sich Kadens Reaktionen von ihren Gefühlen manipulieren ließen, da sie ihn eigentlich steuerte, doch sie wollte daran glauben, dass das Kaden war.
Jetzt in diesem Moment.
Er war bei ihr.
Und sie würde es genießen so lange sie noch die Zeit dazu hatte.
Sezuna zuckte die Schultern. „Möglich das mir die Zeit wegrennt“, meinte sie. „Oder mir war einfach danach. Ich habe nicht mehr viel zu verlieren, wie es scheint“, erklärte sie und klang schon fast nüchtern. Als würde sie das alles gar nicht interessieren. Was auch so war.
Im Moment interessierte sie nur Kaden. Und sie zwang sich endlich dazu, ihre Hand zu heben und auf seinen Arm zu legen, um ihn spüren zu können.
Seinen Duft atmen zu können.
Sich in dem Moment zu verlieren, einfach nur dazuliegen.