Sezuna atmete noch einmal tief durch und versuchte nicht an ihre Vergangenheit zu denken, um keine erneute Panikattacke zu provozieren. Immerhin hatte er ihr geholfen und ihr nicht geschadet.
Der Vampir lehnte sich zurück, doch er wandte keine Sekunde den Blick von der Rothaarigen.
Sezuna versuchte es zu ignorieren, doch sie fühlte sich dennoch so, als wäre eine Überwachungskamera auf sie gerichtet.
Das Riesenrad hielt erneut an und Sezuna genoss die Aussicht auf die leuchtende Stadt. Die Sonne war bereits untergegangen, während sie anstanden.
Was schade war, denn ein Sonnenuntergang auf dem Riesenrad wäre bestimmt noch schöner gewesen.
Sie zuckte kurz zusammen, als sie spürte wie Kadens Daumen immer wieder flüchtig über ihre Fingerknöchel fuhr.
Es schien eine verträumte Geste, doch wenn man bedachte, dass Kaden sie noch immer anstarrte, während sie versuchte den Ausblick zu genießen, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Ein angenehmer Schauer.
Es fühlte sich gut an. So wie in ihrem Traum, als er sie vom Baum gerettet hatte.
Sie war sich sicher, dass es ein Traum gewesen war. Sie hatte das Spatzennest am nächsten Morgen untersucht und alles war so, wie immer.
Sezuna seufzte kurz zufrieden und lehnte sich etwas zurück, um es sich bequemer zu machen. Solange das Riesenrad stand, war es viel schöner und angenehmer.
„Wer hätte gedacht, dass ich dich jemals ohne Widerspruch auf ein Riesenrad bekommen würde", sagte er leise, während der Wind ihnen ins Gesicht wehte.
Sezuna lächelte flüchtig. Er hatte es schon früher oft versucht sie auf solche Attraktionen zu locken. Am schlimmsten waren immer die Achterbahnen.
Da kannte sie kein Erbarmen.
Sie würde nie eine solche Gerätschaft betreten.
„Ich dachte...", setzte Kaden an und Sezuna merkte, dass er den Blick nun auf die Aussicht gerichtet hatte. Seufzend suchte er nach den richtigen Worten und legte seinen Arm auf der Rückenlehne ab, um sich an der Schulter zu kratzen. „Ich dachte vielleicht willst du mit mir alleine reden", beendete er seinen Satz, doch er schien selbst unzufrieden damit.
Jetzt dämmerte es Sezuna. „Ein Riesenrad. Ein Ort, wo man nicht einfach wegrennen kann. Eigentlich keine schlechte Wahl", meinte sie, auch wenn ihr Herz gerade heftig gegen ihre Brust hämmerte.
Dann atmete sie durch. Sollte sie die Gelegenheit nutzen und sich bei ihm entschuldigen?
Vielleicht. Vielleicht sollte sie ihm auch von den Briefen erzählen.
Also holte sie noch einmal Luft: „Ich... Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Ich habe in der Regennacht überreagiert. Es ist nur...", hier suchte sie nach den richtigen Worten, fand sie aber nicht. „Weißt du, als meine Eltern damals entschieden, dass wir umziehen, haben sie mich nicht gefragt und einfach mitgenommen. Ich hatte irgendwie die Hoffnung, dass du nach mir suchen würdest. Aber du hast es nicht getan und vielleicht war das auch gut so. Es hätte womöglich sowieso nichts geändert."
Sie rang mit sich und überlegte, ob sie sich Kadens Hand entziehen sollte, doch dafür fühlte es sich zu gut an.
Sie zwang sich ihn anzusehen und musste erstaunt feststellen, dass er leicht verwirrt aussah.
Jedoch klärte sich sein Gesichtsausdruck schnell auf und ein Seufzen entfuhr ihn.
„Ach so das. Ja... mach dir darüber keine Gedanken. Es war eher meine Schuld. Ich hätte einfach gehen sollen als ich gemerkt hab, dass deine Wut mich beeinflusst hat", sagte er beinahe schon abwesend und senkte den Blick. „Ich hätte dir das Armband nicht so vor die Füße werfen sollen."
Im Grunde hätte Sezuna jetzt erleichtert sein müssen, doch unterschwellig bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte.
War Kaden vielleicht betrunken? Sonst gab er nie so schnell nach. Warum also jetzt? Was war los?
Sezuna entschied sich den Moment einfach so zu nehmen. Womöglich wusste Kaden morgen nichts mehr davon, aber das war in Ordnung.
Allerdings kam Sezuna ein weiterer Gedanke: „Träume ich?", fragte sie verwirrt, weil sie diese Möglichkeit überhaupt nicht bedacht hatte und diese doch alles erklären würde. Vielleicht war sie in der Kutsche eingeschlafen, die sie zum WeVa und dem Portal bringen sollte und noch gar nicht auf der Erde angekommen!
Kaden wandte sich ruckartig stirnrunzelnd zu ihr um und musterte sie eingehend. „Was?", fragte er lachend und schien nicht ganz recht zu wissen, wie er reagieren sollte.
Sezuna musterte ihn ebenso genau.
Nein... er war es auf jeden Fall... oder?
War es jetzt schon so weit, dass sie unter Realitätsverlusten litt?
„Weil du sowas sonst nur in meinen Träumen machst", erklärte sie schließlich und meinte damit nicht nur das, was er noch immer mit seinen Fingern machte, sondern generell die ganze Art, wie er heute drauf war.
„In deinen Träumen?", fragte er sichtlich verwirrt, während sein Blick langsam ins Leere ging.
Das konnte nicht echt sein.
Der richtige Kaden hätte sich jetzt vermutlich über sie lustig gemacht.
'So, du träumst also von mir, hm? Die scheinen aber nicht wirklich spannend zu sein.'
Ja, sowas hätte er vermutlich gesagt.
Aber hier schien er eher darüber nachzudenken.
Das war's wohl.
Sie war endgültig durchgedreht.
Illusion und Realität nicht mehr voneinander unterscheiden zu können... das war eigentlich eines der Sachen wovor sie immer am wenigsten Angst hatte.
Jetzt aber machte es ihr eine unglaubliche Angst.
War es nun Traum, oder doch Realität. Oder war sie am Ende sogar an dieser mysteriösen Krankheit gestorben?
Sezuna schüttelte den Kopf und versuchte sich an etwas festzuhalten, dass ihrem Gehirn half, Realität und Traum zu unterscheiden.
Sie dachte an das zurück, was passiert war. Sie konnte sich deutlich erinnern. Konnte die Leute um sie herum analysieren. Das gelang ihr in einem Traum sonst nie. Dort funktionierte ihr Gehirn nicht so, wie es sollte.
Also musste das hier echt sein.
Was die Sache nur noch mysteriöser machte.
Also hatte Kaden irgendwas genommen, was dafür sorgte, dass er so war, wie er war.
Das Riesenrad setzte sich wieder in Bewegung, um eine kleine Runde zu drehen, bis sie ein wenig weiter, als am höchsten Punkt, anhielten.
„Soll das heißen... das mit dem Streit und das von damals ist alles, worüber du mit mir reden wolltest?", fragte er und sah sie nun prüfend an, als würde diese Frage den kompletten Abend entscheiden... wenn nicht sogar mehr.
Sezuna, die begann an ihrem Rockzipfel zu spielen, dachte nach. „Eigentlich hast du das Reden vorgeschlagen", meinte sie langsam und fragte sich, ob sie irgendwas übersehen hatte, oder falsch verstand?
Er war mit ihr über die Kleinmesse gegangen, hatte ihr den Preis beim Zielschießen überlassen und nun saßen sie hier oben auf dem Riesenrad.
Eigentlich ein ganz normaler Tag, wenn man ihre Vergangenheit betrachtete. Wenn man allerdings ihre Gegenwart betrachtete, wirkte das Ganze schon eher wie eine Verabredung.
Aber... Woher sollte Kaden wissen, welche Gefühle sie für ihn hegte? Sie selbst hatte es doch erst bei seiner Familie herausgefunden und sie war sich fast zu 100% sicher, dass sie bisher noch nichts getan hatte, dass ihn auf diese Idee bringen konnte. Nicht in so kurzer Zeit.
Er beobachtete noch einige Sekunden ihre Reaktion als er dann doch den Blick abwandte und sich erneut an der Schulter kratzte.
„Nein, ich schätze das war alles", gab er in einem Ton zurück den Sezuna nicht so ganz deuten konnte.
Sie merkte wie er seine Finger von ihre Hand löste, als Deutung er wolle ihre Hand loslassen.
Sezuna blickte hinab und ihr Herz setzte für einen kurzen Moment aus.
Sie hatte das falsche gesagt! Dafür konnte sie sich am liebsten ohrfeigen. Warum hatte sie das nur gesagt?
Gab es überhaupt eine richtige Antwort?
Was zur Hölle erwartete er von ihr?
Was war in ihrer Abwesenheit vorgefallen?
Sie zögerte und überlegte, ob sie es vielleicht nochmal versuchen sollte. Doch es war zu spät und der Moment war vorbei.
Widerwillig lockerte auch sie ihren Griff und augenblicklich zog Kaden seine Hand weg.
Sezuna hatte das Gefühl eine Ohrfeige zu bekommen.
Verdammt. Das hatte sie sich wirklich anderes vorgestellt.
Aber was hätte sie tun sollen? ‚Kaden ich liebe dich', durch die Gegend schreien?
Das wäre nicht nur peinlich, hätte wahrscheinlich auch eher einen Lachkrampf bei Kaden ausgelöst.
Wahrscheinlich.
Möglicherweise.
Eventuell.
Sie würde es vermutlich nie erfahren.
„Wissen die anderen schon, dass du zurück bist?", fragte er stattdessen und Sezuna merkte natürlich sofort, dass er das Thema wechseln wollte.
Nun klang er nicht mehr so warm und sanft.
Eher ernst und professionell.
Vermutlich die Seite von Kaden mit der er es überhaupt als Agent bis zum Ältesten Rat geschafft hatte.
Die komplette Atmosphäre schien in nur wenigen Sekunden von intim zurück zu ihrem Auftrag umzuschwenken.
Sezuna seufzte und war traurig darüber, aber sie nahm es erst einmal so hin.
„Ja. Ich habe Lika im Cafe getroffen, als ich auf den Weg zu dir war. Du warst aber schon weg", erklärte sie und zu diesem Zeitpunkt piepte etwas leise auf.
„Oh", murmelte Sezuna und griff in ihre Tasche, um ein kleines Gerät hervor zu nehmen und es aus zu schalten, ehe sie eine kleine Schachtel aus der Tasche nahm und daraus eine kleine, rote Tablette.
Kaden schielte zu ihr und hob eine Augenbraue, während er sich die Schulter rieb.
„Bist du jetzt drogenabhängig oder so? Ich hoffe Ma weiß nichts davon, dass du dir jetzt was einschmeißen musst", fragte Kaden und nahm die Dose genauer ins Visier.
Wow... doch es war der echte Kaden. Kein Zweifel.
Wer sonst würde es schaffen einen schönen Abend binnen Sekunden mit nur einem Satz zu zerstören.
Er war eben doch er selbst und würde es wohl auch immer bleiben. Er lachte und schüttelte den Kopf, als der Wagon anhielt und einer der Arbeiter die Absperrung öffnete.
Sezuna steckte die Schachtel wieder weg und folgte Kaden, bis sie ein wenig von den Leuten am Riesenrad entfernt waren.
Es war ruhiger geworden, denn die Kleinmesse schien bald zu schließen.
„Das sind... spezielle Tabletten für meinen Kopf", erklärte sie wenig begeistert. „Dr. Wessel war der Ansicht, dass meine regelmäßigen Panikattacken meinem Gehirn schaden, daher hat sie mir diese zur Vorbeugung verschrieben."
„Klingt so, als wärst du doch noch nicht ganz gesund. Du warst wohl doch kränker als ich dachte", den letzten Satz nuschelte er eher in sich rein, doch Sezuna hatte ihn trotzdem verstanden.
Sie würde wohl Lika fragen müssen, was mit Kaden geschehen war, während ihrer Abwesenheit.
Irgendwas war hier faul.
Richtig faul.
„Ja", murmelte Sezuna. „Normalerweise hätte die Krankheit Monate gedauert", hier zuckte sie die Schultern. „Aber ich hatte wohl Glück. Mein Blut kam mit dem Erreger besser klar, als erwartet."
Sie merkte wie Kaden plötzlich anhielt und sie ungläubig ansah.
„Du meinst... du bist schneller geheilt?", fragte er als müsste er nunmehr sicher gehen bei dem, was sie gerade gesagt hatte.
Nervös begann sich Kaden wieder an der Schulter zu kratzen und schien gar nicht mehr aufhören zu können. „Du meinst sowas wie... ein Wunder?", fragte er und schien bei dem letzten Wort ein beinahe gequältes Gesicht zu machen, was jedoch schnell von einem Lachen verdrängt wurde.
Aber Sezuna hatte es bemerkt. So wie sie auch schon die ganze Zeit das Kratzen wahrnahm. Schon die ganze Zeit. Das machte ihr Sorgen.
„Ja", bestätigte sie und verengte die Augen. „Was ist mit deiner Schulter?", wollte sie wissen und klang überhaupt nicht erfreut.
Kadens Reaktion auf ihre Wunderheilung war nicht das, was sie erwartet hatte und bestätigte ihren Verdacht, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen lief.
Augenblicklich ließ er von seiner Schulter ab, doch Sezuna sah das Zucken in seinen Fingern.
„Nichts. Nur ein wenig verspannt. Mir geht's gut. Willst du Zuckerwatte?", fragte er und ging zu dem kleinen Stand, der bereits dabei war aufzuräumen.
Ohne auf Sezunas Antwort zu warten drängte er ihr die Zuckerwatte auf und beschleunigte seine Schritte, um von dem Straßenfest weg zu kommen.
Sezuna hielt mühelos Schritt und genoss ihre Zuckerwatte, auch wenn ihr eine am Tag eigentlich reichte. Aber einem geschenkten Gaul schaute man ja bekanntlich nicht ins Maul.
Was nicht hieß, dass Sezuna, nur wegen der Zuckerwatte, die Sache auf sich beruhen lassen würde.
„Kaden", mahnte sie und hatte dabei den Unterton, den Kaden von früher kannte.
Wenn er nicht antwortete, würde sie sich ihre Antworten holen und darin war sie gut.
Ein genervtes seufzt entfuhr ihm.
„Fang gar nicht erst an. Ich sagte doch es ist nichts!", beharrte er und drehte sich im Schritt um und lief rückwärts weiter.
Sezuna kniff die Augen zusammen. „Kaden, was war hier los, als ich nicht da war?", fragte sie und Kaden hielt es für einen Themawechsel. Allerdings wusste er auch, dass er aufpassen musste, was er sagte. Manche Dinge betrachtete Sezuna anders, als alle anderen. Für sie hatten Worte mehr Sinn, weil ihr Gehirn sie mit anderen Dingen verknüpfte, die normale Wesen so gar nicht wahrnahmen.
Er drehte sich wieder um, um geradeaus weiter zu laufen, doch hauptsächlich damit Sezuna seine Mimik nicht beobachten konnte.
„Nichts Besonderes. Lika tippt auf Tasten. Der Köter markiert sein Revier. Geisterhotel ist geisterlos. Alles wie immer. Also hör auf etwas zu suchen, was nicht da ist", entgegnete er und war erleichtert, als er den Campus betrat.
„Na gut, wie du willst", sagte sie und Kaden verspannte sich. Das war nicht gut. Er wusste, dass das die Worte waren, die sie immer sagte, wenn sie begann die Dinge von einem anderen Standpunkt aus auf zurollen. Sollte er mit Lika sprechen? Würden die beiden den Mund halten? Wohl eher nicht.
Er hielt vor der Tür an, doch statt sie zu öffnen drehte er sich zu Sezuna um und packte diese an den Schultern um ihr fest in die Augen zu blicken.
„Hör mir gut zu Sezuna. Tu bitte, und wenn es nur dieses eine Mal ist, zur Abwechslung das was ich sage. Hör auf zu bohren und halt dich daraus... bitte", wiederholte er das letzte Wort nochmal mit Nachdruck und sah sie noch einige Sekunden an, bevor er sie ein wenig unsicher losließ und sich zur Tür umdrehte.
Sezuna verengte die Augen. „Nicht, wenn du davon krank wirst", erklärte sie und war nicht gewillt ihren Standpunkt zu verlassen.
Mit Kaden stimmte etwas nicht. Etwas ganz entscheidendes. Das war nicht die gute Laune gewesen, die ihn bei ihrem Treffen gelenkt hatte. Viel mehr wirkte er, wie ein Vampir, der bei einem Drogenabhängigen getrunken hatte.
Genervt stöhnte er auf, was jedoch in einem wütenden Knurren unterging.
Mit einem Tritt schob er die Tür in einem Ruck auf und betrat den Flur des Wohnheimes.
„Ich sagte doch, dass es mir gut geht! Und jetzt zwing mich bitte nicht dazu etwas zu machen, dass nicht nötig sein sollte", erklärte er wütend, während er seine Schlüssel auspackte, um seine Wohnung aufzuschließen.
Sezuna atmete tief durch. „Gut", meinte sie und drehte ab. Sie würde noch bei Orion vorbei schauen, um sich wieder anzumelden. Außerdem erwartete sie dort die meisten Informationen. Sie würde schon erfahren, was mit Kaden nicht richtig war!