Der nächste Morgen brach an und Sezuna starrte noch immer an die Decke und ärgerte sich.
Wieso war das alles so schief gelaufen?
Hätte der Abend nicht besser verlaufen können? Oder wenigstens der Abschied weniger peinlich?
Als ein Klopfen an ihrer Tür ertönte, horchte sie auf und nahm kurz darauf Orions Geruch wahr.
Sie richtete sich auf und erhob sich aus dem Bett.
Ihre Haare waren etwas zerzaust und sie trug ein langes, schwarzes Nachthemd, doch das interessierte sie kaum.
Stattdessen begab sie sich zur Tür, um diese zu öffnen.
„Guten Morgen“, murmelte sie müde und wirkte nicht sonderlich fit.
Orion runzelte die Stirn über das wenig motivierte Verhalten der Rothaarigen, das ihr so gar nicht ähnlich sah.
„Alles in Ordnung?“, fragte dieser besorgt und musterte kurz ihren Aufzug, als er ihr schnell wieder in die Augen blickte.
„Nicht gut geschlafen“, meinte sie nuschelnd und trat zurück, damit Orion eintreten konnte.
„Aber ich habe nicht vergessen, dass wir uns heute weiter umhören wollten“, sagte sie und hätte am liebsten laut geseufzt. „Was hältst du davon, wenn ich mich eben umziehe und wir dann irgendwo was frühstücken gehen, bevor wir los legen?“
Ein wenig besorgt beobachtete der Werwolf die Vampirin, die sich in ihr Zimmer zurückzog, um sich umzukleiden.
„Ja klingt gut. Ich hab nochmal mit Lika gesprochen“, setzte Orion an und wartete geduldig im Wohnzimmer.
Sezuna beeilte sich nicht sonderlich damit, sich etwas anzuziehen und es war ihr auch egal, was es war.
Sie achtete nicht sonderlich darauf. Genau so wenig, wie sie darauf achtete, was sie mit ihren Haaren tat. Sie kämmte sie zwar, doch am Ende band sie diese nur locker mit einem Haargummi fest und verzichtete auf eine Hochsteckfrisur.
Sie trat schleifend wieder aus dem Zimmer und bewegte sich auf die Tür zu, um zu symbolisieren, dass sie fertig war.
Zögernd folgte ihr Orion mit einem nachdenklichen Blick.
„Sie hat sich in das System der Anstalt gehackt“, setzte er an, in der Hoffnung Sezunas Aufmerksamkeit zu erregen, während sie auf dem Weg zum Café waren, um zu frühstücken.
„Hmmh“, machte Sezuna nur und schien mit ihren Gedanken vollkommen wo anders zu sein.
Orion versuchte es nicht noch einmal und hoffte, dass sie nach dem Frühstück etwas gesprächiger war.
Sie erreichten das Cafe mit dem umfangreichen Frühstücksangebot recht schnell und beide setzten sich an einen Tisch in der hintersten Ecke.
Weil es hier ein wenig zog, waren die meisten Tische hier fast immer leer, so dass sie ungestört waren.
Nachdem die beiden bestellt hatten, beobachtete Orion Sezuna eine Weile, die mit einem Zuckerstreuer rumspielte und abwesend schien.
„Wie war deine Verabredung“, fragte er in der Hoffnung etwas aus ihr raus bekommen zu können, wenn er ein anderes Thema ansprach.
Sezunas Blick verriet alles, selbst Orion. Er war sich sicher, wenn er jetzt weiter fragte, würde sie ihn den Kopf abreißen.
Ein wenig verunsichert senkte er den Blick und war froh, dass die Kellnerin mit den Getränken kam.
Auch wenn er es sich nicht gerne eingestand, war er irgendwie froh, dass ihre Verabredung, mit wem auch immer, wohl nicht sonderlich gut gelaufen war.
Sezuna nahm ihre heiße Schokolade entgegen und begann damit die Sahne in die Schokolade zu rühren. Dabei wirkte sie so konzentriert, dass Orion sich fragte, was sie wohl dachte.
Er hatte schon nicht mehr damit gerechnet, dass er ein Gespräch mit der Rothaarigen anfangen konnte, als diese plötzlich das Wort ergriff. „Hat Lika irgendwas interessantes rausfinden können?“, wollte sie wissen, blickte aber immer noch ihre heiße Schokolade an und rührte darin herum.
„Nur einige Hintergrundgeschichten von den Patienten, die vermutlich einen Talisman besitzen. Sowas wie der Großvater ist gestorben wodurch ein Patient das komplette Erbe für sich beanspruchen konnte. Solche Sachen. Aber heute Morgen kam noch eine Meldung rein“, sagte er nun etwas zögerlich und beobachtete Sezunas Regung, ohne zu wissen wie er es ansprechen sollte. „Dieser Patient mit dem du gestern gesprochen hast. Louis... er ist tot“
Sezuna Kopf fuhr hoch und sie blickte ihn mit ihren goldenen Augen an.
Louis war tot?
Hieß das, sie hatte ihn umgebracht, als sie ihm den Talisman entzogen hatte?
Sezuna schluckte. „Weiß man wie er gestorben ist?“, fragte sie mit belegter Stimme.
Sie konnte sichtlich sehen, dass Orion mit sich rang ihr weitere Details zu verraten, doch im Endeffekt musste sie es wissen.
„Erstickt. Beim Essen an einem Hühnerknochen“, gab dieser so knapp wie möglich zurück. „Ich weiß, dass du dich gestern mit ihm unterhalten hast. Aber das ergibt keinen Sinn, dass er so plötzlich stirbt durch so etwas Dummes. Hast du irgendwelche Anzeichen oder so bemerkt? Irgendwelche Nebeneffekte von dem Talisman vielleicht?“, fragte er und versuchte die Rothaarige in der Gegenwart zu behalten.
„Ich habe ihm den Talisman entwendet, damit wir neben Likas noch einen zum Vergleich haben“, gab sie zu und das mit einem leeren Blick, der wieder auf ihre heiße Schokolade gerichtet wurde.
Orions Blick versteinerte sich und schien mehr als ausdruckslos.
Das Schweigen am Tisch war so überwiegend, dass nicht mal beim Auftischen des Frühstücks gesprochen wurde.
Der Werwolf ignorierte das Essen und durchbohrte Sezuna immer noch mit seinem grünen Blick. Er war sprachlos.
„Um den Zauber analysieren zu können, brauche ich zwei Talismane, die ich abgleichen kann“, erklärte Sezuna leise. „So kann ich die Wirkungsweise bestimmen und die Verbreitung eingrenzen und auch einen möglichen Gegenzauber erstellen. Ich war mir nicht bewusst, dass das Entwenden des Talismans zu so etwas führt“, hier atmete sie tief durch. „Ich dachte damit wäre der Zauber aufgehoben. Normalerweise sollte das auch der Fall sein. Aber wahrscheinlich war der Talisman alles, was Louis noch am Leben hielt.“
Der Brünette schluckte, während er sich verspannte und den Blick von Sezuna abwandte.
„Du hast mir nichts gesagt, dass du ihn 'entwendet' hast“, stellte Orion nüchtern, aber auch ein wenig anklagend fest.
Sezuna seufzte. „Ich hab nichts gesagt, weil ich nicht weiß, wie diese Talismane funktionieren. Möglich dass er sich auf mich geprägt hat. Ich wollte einfach nicht, dass mir irgendwer Steine bei meinen Erkundigungen in den Weg legt.“
Er lehnte sich ein Stück über den Tisch, um sicher zu gehen, dass ihn keiner hören konnte.
„Du siehst ein Menschenleben als Stein in deinem Weg?“, fragte er nun fassungslos doch er schüttelte darauf den Kopf und winkte ab. „Hat er sich auf dich geprägt?“, fragte er stattdessen, weil er bereits merkte wie seine Wut unterschwellig mit ihm durchging.
Sezuna ging nicht auf seine erste Äußerung ein. Sie hatte ihm doch schon erklärt, dass sie nicht davon ausgegangen war, dass der Mann daran sterben würde.
Und wenn sie darauf einging, was sie alles als Stein in ihrem Weg sah, dann war Orion ein sehr großer. Und sie wollte den Werwolf nicht noch mehr verunsichern. Er schien schon jetzt keine Ahnung zu haben, was er hier auf der Erde überhaupt sollte.
„Ein Leben gegen tausende“, sagte sie ruhig und nahm einen Schluck Schokolade, ehe sie eines ihrer Omeletts mit der Gabel teilte und ein Stück davon verspeiste.
Sie antwortete jedoch nicht auf die Frage, ob sich der Talisman auf sie geprägt hatte.
Orion legte die Unterarme auf dem Tisch ab und rieb sich die Nasenwurzel.
Ihm war der Appetit vergangen und er wusste nicht wirklich, wie er reagieren sollte.
Mit Lika hatte er nie solche Interessenkonflikte gehabt.
„Ich werde Lika Bescheid geben, dass sie die Augen offen hält“, sagte er nun leise und seufzte. „Sag ihr am besten Bescheid, wenn dir irgendwas komischer vorkommt, als sonst. Also... pass einfach bitte auf dich auf.“
Sezuna aß noch ein Stück und hoffte, dass ihr Magen das Essen drin behalten würde.
Sie fühlte sich so allein und verloren.
Dieser Mann, der ihr gegenüber saß, brachte sie dazu, dass sie sich schlecht fühlte. Dabei konnte sie doch gar nichts dafür.
Was sollte sie machen?
Konnte sie mit Kaden sprechen? Vielleicht war das keine schlechte Idee. Er sah die Dinge oft anders. Er konnte ihr vielleicht helfen. Auch wenn sie ihm sagen musste, dass sie einen Talisman besaß.
Sie wusste, dass sie zu dem Vampir gehen konnte.
Schließlich war ihr Streit beigelegt worden und auch ihr Verhältnis schien sich zu normalisieren... irgendwie.
Niemand kannte sie besser, als er. Er würde bestimmt wissen, was zu tun war.
Doch was, wenn er sauer werden würde?
Er sagte sie solle sich raus halten... was sie nicht getan hatte.
Obwohl es eigentlich ihre Aufgabe war herauszufinden, wie sie diesen Leuten helfen konnten.
Das war alles so kompliziert.
Warum war das Leben so kompliziert?
So oder so, die Rothaarige musste hier raus. Ein wenig Platz zum Nachdenken würde ihr gut tun. Vielleicht am besten in Kadens Armen. Doch sie war sich nicht sich, ob er sie auch in dieser Sache ablenken konnte.
Sezuna schaufelte schnell ihr Omelett in sich hinein, da sie gelernt hatte, Essen nicht zu verschwenden und für jede Mahlzeit dankbar zu sein, ehe sie sich auch noch die heiße Schokolade zu Gemüte führte.
Dann erhob sie sich. „Tut mir leid, ich muss jetzt los“, sie legte etwas Geld auf den Tisch und verschwand.
Sie bemerkte nicht die Leute, die an ihr vorbei liefen oder sie anrempelten. Sie konnte nur immer wieder Louis Gesicht vor ihrem inneren Auge sehen, wie er sie so warm angelächelt hatte.
Schließlich bemerkte sie auch, wie Tränen ihre Sicht ein wenig verschleierten und sie mehr schlecht als recht in das Wohnheim stolperte, ehe sie sich an Kadens Tür klopfend wiederfand.
Bereits nach einigen Sekunde riss Kaden die Tür auf, vollkommen resigniert und blickte in Sezunas tränenverhangenes Gesicht.
„Kann… Kann ich reinkommen? Ich muss mit dir sprechen“, brachte sie heiser hervor und ihre Stimme klang sehr zerbrechlich.
Kaden trat bei Seite und Sezuna nahm die unausgesprochene Einladung an, um einzutreten.
„Was ist passiert?“, fragte Kaden aufgescheucht, der ihre Emotionen bereits gespürte hatte, als sie den Flur betreten hatte.
„Ich war vor ein paar Tagen mit Orion in einem Krankenhaus, wegen des Talismans“, erklärte Sezuna schniefend und stand im Flur, wie ein Kind im Regen. „Dort hab ich einigen Leuten vorgelesen und dabei einen Talisman von Lousi ausgetauscht, damit ich die Zauber studieren kann und ihn mit Lika ihrem vergleichen kann“, erklärte sie, wobei ihre Stimme immer schwächer und leiser wurde. „Das hat ihn umgebracht“, hauchte sie am Ende nur noch.
Kaden stand mit aufgerissenen Augen vor ihr und hörte ihr aufmerksam zu.
Wütend ballte er die Hände immer wieder zu Fäusten und löste sie wieder. Etwas was er immer machte wenn er versuchte sich zu beruhigen.
Er atmete einige Male tief durch, als er sich frustriert durch die Haare fuhr und in diesen inne hielt.
„Hast du den Talisman benutzt?“, fragte Kaden nun sachlich und versucht sich nicht von Sezunas aufgewühlten Stimmung beeinflussen zu lassen.
„Nein habe ich nicht“, sagte sie leise und atmete tief durch. „Ich wusste nicht, dass er sterben würde. Sonst hätte ich den Talisman doch nie genommen“, meinte sie und hob den Blick, um Kaden mit ihren tränenverschleierten Augen anzusehen. „Und Orion denkt, ich habe das absichtlich getan. Er war so sauer und hat mir vorgeworfen, ich würde ein Menschenleben nicht schätzen.“
Kaden lief einige Schritte im Kreis und schien angestrengt nachzudenken, bis er wieder auf Sezuna zukam und vor ihr stehenblieb.
„Wo ist der Talisman?“, fragte er nun fordernd und blickte ernst auf sie nieder.
„Ist das alles, was dich interessiert? Ob ich den Talisman benutzt habe und wo er ist?“, fragte sie schniefend und fragte sich, ob es ein Fehler gewesen war zu Kaden zu gehen. Vielleicht hätte sie lieber zu Lika gehen sollen.
Kaden seufzte und packte Sezuna an den Schultern, um sie anzusehen.
„Jetzt beruhig dich erstmal. Der Mann ist tot und das wird sich auch nicht ändern. Ja, vielleicht hast du einen Fehler gemacht, aber es ist etwas was sich nicht mehr ändern lässt. Was sich aber ändern lässt ist das du mir jetzt den Talisman gibst, bevor sich dieser Fehler wiederholt, also bitte... wo ist er?“
Sie war alles andere als begeistert von dem Weg, den dieses Gespräch nahm. Ihr hätte klar sein müssen, dass Kaden den Talisman haben wollte. Und sie hatte ihn auch nicht angelogen, als sie sagte, dass sie ihn nicht benutzt hatte. Bis zu diesem Moment. Ihre Finger schlossen sich um den Talisman, den sie in ihrer Tasche trug und sie konzentrierte sich darauf.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn benutzen konnte, doch jetzt im Moment wünschte sie sich mit aller Macht, dass Orion diesen Vorfall vergessen würde und nicht weiter auf den Tod des Mannes einging. Außerdem wollte sie, dass Kaden aufhörte sie zu drängen den Talisman heraus zu geben. Auch wenn sie sich fast sicher war, dass der Talisman auf Kaden kaum Einfluss hatte, weil dieser selbst einen besaß.
Schließlich hob sie den Talisman aus ihrer Tasche: „Hier“, schniefte sie und hielt ihn auf ihrer flachen Hand.
Kaden nahm diesen mit einer schnellen Bewegung aus ihrer Hand und seufzte erleichtert.
„Okay. Fass ihn nicht mehr an, verstehst du mich? Sollte dir irgendwas Komisches auffallen oder ähnliches, sagst du mir sofort Bescheid okay?“, er legte den Talisman von Sezuna in eine Schublade, um diese abzuschließen und ging wieder zu der Rothaarigen, um sie zu umarmen.
„Jetzt beruhig dich erstmal. Es wird alles gut. Das wird nicht nochmal vorkommen, dass verspreche ich dir“, flüsterte Kaden und schenkte ihr eine warme Berührung die sich in ihrem Körper verteilte und ihren Puls wieder gleichmäßig schlagen ließ.
Sie lehnte ihren Kopf an Kadens Brust, gab ihm aber kein Versprechen. Denn das hätte sie schon jetzt gebrochen. Sezuna spürte, wie der Talisman aus der Schublade in ihre Tasche zurückkehrte, doch sie würde es Kaden gegenüber nicht erwähnen. Er wäre nur wieder böse. Und dabei wollte sie ihm doch genau so sehr helfen, wie er ihr.
Er löste sich ein wenig von ihr, um ihr Gesicht in seine Hände zu nehmen und ihre Tränen wegzuwischen.
„Soll ich den Tag bei dir bleiben?“, fragte er ein wenig unsicher, weil er nun nicht mehr ihre Gefühle lesen konnte, da er sie ja nun quasi beeinflusste.
Sezuna nickte. „Ja bitte. Ich fühl mich so alleine“, gestand sie und schmiegte sich an ihn.
Er schlang die Arme wieder um sie und legte seine Wange auf ihrem Scheitel ab.
Seufzend zog er Sezuna in sein Wohnzimmer, um sich mit ihr auf die Couch zu setzten.
„Möchtest du einen Film schauen?“, fragte er, weil er sie irgendwie ablenken wollte. Außerdem hatte er von Alexa gehört, dass diese Teile wohl sehr unterhaltsam sein sollten.
Die junge Frau hatte ihm auch gleich einige in die Hand gedrückt, die er sich ansehen sollte.
„Ja“, murmelte Sezuna leise.
Hoffentlich würde es sie wenigstens vorübergehend ein wenig ablenken. Wenn auch nicht auf ewig.