https://www.deviantart.com/ifritnox/art/676381558
Jackie hob die Nase in den Wind und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war Iljan wie aus dem Nichts neben ihr erschienen. Aus seinen dunklen, roten Augen sah er sie erwartungsvoll an und Jackie zögerte es absichtlich ein wenig heraus, ihm zu berichten. So kurz nach Vollmond war seine Nähe ein berauschendes Prickeln, wenn die uralten Wolfssinne sie vor einem ebenso mächtigen Gegner warnten. Nur, dass Iljan ihr Freund war.
»Wir sind nah«, sagte sie schließlich beinahe widerstrebend. Der Wind hatte ihr die unzweifelhaften Gerüche der Zivilisation zugetragen.
Iljan nickte. »Wie weit noch, was glaubst du?«
Jackie war gut darin, zu schätzen, aber sie konnte es nur schlecht in Längenangaben vermitteln. »Eine Viertelstunde, wenn wir das Tempo halten.«
Iljan nickte. »Dann werden wir eine Pause machen. Du erforschst das Dorf, aber sei vorsichtig, Jackie.«
»Natürlich«, sie grinste ihn an. Iljan wandte sich ab und rief die Gruppe in einiger Entfernung zusammen, die sich während der Wanderung immer weiter auseinander gezogen hatte. Jackie ging hinter einen Busch und zog ihre Kleidung aus, um sie ordentlich auf dem Boden zu falten. Iljan würde sie finden und mitnehmen.
Der kalte Wind strich über ihre Haut. Die winzigen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf, dann wuchsen sie. Wellenförmig, als würde der Wind es auf ihre Haut malen, breitete sich das Fell auf ihrem Körper aus. Die Verwandlung drang immer tiefer. Die Haut verzog sich, dann Muskeln, Sehnen und schließlich die Knochen. Jackie ging in die Hocke und setzte die Hände auf den Boden, die sich zu großen Wolfspfoten verformten. Als letztes schoben sich die Zähne nach vorne und ihr Kiefer verlängerte sich. Die Verwandlung dauerte etwas weniger als eine Minute und war vollkommen schmerzlos – ein sicheres Zeichen dafür, dass der Vollmond endgültig hinter ihr lag. Gleichwohl war Jackies Wolfsgestalt bereits ein wenig kleiner als in der Nacht der Schlacht.
Leichtfüßig trottete sie los.
Das Dorf Quelltal drängte sich um einen kleinen Damm, den man so grenznah wie möglich auf dem silbrigen Fluss Tereishi gebaut hatte. Der Fluss floss von Quellheim, dem Tempel an seinem Ursprung in den Bergen, durch die Wiesen bis zur Grenze, und darüber hinweg in den Wolfswald, dessen schweigende Schwärze nun ein ganzes Stück hinter Jackie lag. Die Wölfin trottete durch das hohe, dunkelgrüne Gras der Leishebene.
Nördlich und östlich von Quelltal, so sagte es das Gesetz, verlief die Grenze zwischen dem Reich des Lichts und der Dunkelheit in einer scharfen, schnurgeraden Linie. Soweit Jackie wusste, verlief die Grenze sogar ein Stück vor dem Dorf, denn Quelltal lag gänzlich im Sonnenland.
Diese uralte Grenze war nach dem Kompass in der Pforte von Umira gezogen worden, die viele, viele Meilen weiter westlich lag. Dort hätte Jackie auf den Millimeter genau bestimmen können, wann sie die Grenze überschreiten würde, doch durch die Pforte zu gehen war nach Iljans Meinung zu riskant gewesen.
Wie üblich hatte der Vampir Recht. Die Pforte galt als Ort des Waffenstillstandes. Häufiger, als man annehmen würde, tauschten sich an diesem Ort Bewohner beider Länder aus, zu Forschungszwecken, Verhandlungen oder sogar, um die Seiten zu wechseln. Denn ab und zu kam es vor, dass Wesen aus der einen Welt in die andere wechselten.
Die Statistiken zeigten ein entmutigendes Bild. Fast ausnahmslos waren es Wesen der Lichtlande, die in die Dunkelheit fielen, nur selten verlief es andersherum. In der ganzen Geschichte hatten es vielleicht drei oder vier Schattenwesen ins Land des Lichts geschafft, und ausnahmslos waren sie wenig später von misstrauischen Lichtwesen erschlagen worden. Es hieß, aus der Dunkelheit gebe es kein Zurück mehr.
Heute betraten gleich sieben Wesen diesen Weg.
Jackie legte sich flach auf den Bauch. Sie konnte jetzt die Geräusche im Dorf hören. Kinderlachen, das Knirschen eines Wasserrades. Sie schnupperte und konnte Fisch in der Luft riechen. Quelltal wurde fast ausschließlich von Fischern bewohnt, die sich den gestauten Fluss zunutze machten und sämtliche Fische fingen, bevor diese in das Herrschaftsgebiet der Nacht entkamen. Jackie roch den Fluss, den Fisch, der zum Trocknen aufgehängt war, die geräucherten Forellen über offenen Feuern, das salzige Blut von frischem Fang, sogar die lebendigen Fische im Fluss. Dazwischen mischte sich der Geruch nach Erde und Gras, nach Schweiß, Holz und Stein. Schnell hatte sie die Toiletten des Dorfes lokalisiert. Die Wesen in Quelltal beschmutzten den Fluss nicht damit, das war das einzig positive zu sagen.
Leise und vorsichtig kroch Jackie vorwärts. Sie hatte schon von Weitem das Hundegebell gehört. Irgendwo hämmerte ein Schmied auf Eisen herum. Das Wasserrad knirschte friedlich vor sich hin. Ganz vorsichtig reckte Jackie den Kopf, um die Bewohner zu erspähen.
Es waren größtenteils Trolle, die das kleine Dorf bevölkerten. Doch zwischen ihnen bemerkte Jackie auch Gruppen von Zwergen, und einige der hochgewachsenen Gestalten mochten Elben sein. Dazwischen bewegten sich verschiedene andere Wesen, die Jackie auf die Entfernung nicht zuordnen konnte. Insgesamt waren es sicher eintausend Wesen.
Sie sah auch eine Gruppe von Zentauren außerhalb des Dorfes. Die Pferdemenschen galoppierten über die Wiesen, Speere und Pfeil und Bogen in den Händen, offensichtlich auf der Jagd. Jackie starrte sie länger an. Die Herde zog weite Kreise und suchte das Gras systematisch nach Beute ab. Wohin sich ihre Bewegung in den nächsten Stunden richten würde, war schwer zu sagen.
Nach einer Weile entdeckte sie auch eine Gruppe Halblinge, die vereinzelte Beerenbüsche auf der Wiese abernteten. Je länger sie wartete, desto erschrockener war Jackie über die Betriebsamkeit in diesem auf den ersten Blick so friedlichen Dorf.
Die Sonne hatte den Zenit überschritten, als Jackie zurückkehrte. Iljan erhob sich von dem Kissen auf dem er gesessen hatte, sobald er die Wölfin entdeckte.
Er reichte ihr ihre Kleidung und wartete mit erzwungener Geduld, während sie sich verwandelte und anzog.
Obwohl die meisten seiner Gruppe Desinteresse heuchelten, zog sich beinahe unauffällig ein Ring um ihn, als Najaxis, Merkanto, Abarax und Askook näher kamen. Sie waren ebenso aufgeregt wie Iljan. Er sah, dass sogar Gudrun auf ihrer Unterlippe kaute. Die gefangenen Wächter tauschten dagegen nur besorgte Blicke.
Jackie brauchte nicht lange, bis sie sich auf Iljans Sitzkissen fallen ließ und die ausgerollten Karten zur Seite schob, um mit dem Finger in die Erde zu malen.
»Wie sieht es aus?«, fragte Iljan.
»Hier liegt das Dorf«, antwortete Jackie und zeichnete einen Kreis. Iljan beugte sich, die Arme im Rücken verschränkt, wie es seine Gewohnheit war, über die neue Karte, die im Dreck entstand.
»Das ist der Damm. Doch unsere Gefahr liegt hier, auf den Wiesen.«
Iljan folgte mit gerunzelten Augen den geschwungenen Linien, die Jackie um das Dorf zog. Bald ähnelte das Bild einer Rose.
»Zentauren«, erklärte die Werwölfin. »Sie marschieren die Wiesen ab. Ich denke, sie suchen Wildkaninchen oder so, aber sie werden auch uns bemerken. Das sind ihre Wege: Viele Bögen nach Außen, in einer langen Spirale angeordnet. Damit finden sie alles, was sich dort verstecken will.«
Najaxis trat schnaubend eine Brennnessel um. »Na großartig!«
»Und wenn wir bis zum Anbruch der Nacht warten?«, fragte Iljan und sah Jackie an.
»Wir kämen wohl am Dorf vorbei«, gestand sie, »aber dann sind wir möglicherweise noch zu nah am Dorf, wenn die Sonne wieder aufgeht. Und auf der Ebene werden die Zentauren uns sofort einholen.«
»Nein, wir dürfen nicht riskieren, entdeckt zu werden«, sagte Najaxis. Der Inkubus drängte sich nach vorne. »Wir müssen jetzt gehen, Iljan. Wir haben schon viel zu lange gezögert. Wenn die Wächter uns nicht beim Ort der Schlacht finden, werden sie beginnen, uns zu suchen. Dann sind wir auf der Ebene verloren. Wir müssen zum Wald der Seen!«
Iljan nickte und sah auf die Karte, die Jackie gezeichnet hatte. Viele Meilen offenen Geländes lagen vor ihnen. Ein Risiko, möglicherweise tödlich. Sie mussten es eingehen.
»Packt«, wies er die Gruppe an und ballte die Hände zu Fäusten. Er spürte das Gewicht, das diese Entscheidung auf ihn legte. Die anderen folgen ihm. Es war seine Verantwortung, sie alle zu schützen.
Askook trug die meisten Vorräte noch auf dem Rücken. Sie hatten nicht viel aufgebaut und so war das Lager schnell abgebrochen. Die Elfe wurde auf den Rücken des Einhorns gesetzt, Merkanto ergriff dessen Zügel. Der Engel und Gudrun wurden von Abarax, Jackie und Najaxis bewacht. Iljan warf seiner Gruppe einen letzten Blick zu, vergewisserte sich der Entschlossenheit in ihren Augen.
Dann ging er los.
Dies war ein gewichtiger Tag, der ihre Leben für immer verändern würde. Jedes Kind der Sonne spielte mit seinem Leben. Es war eine Schande, dass diese Stunden einem Versteckspiel glichen. Zu zehnt eilten sie durch das hohe Gras. Die Anspannung war beinahe mit Händen zu greifen. Iljan behielt ständig den Horizont im Blick. Wenn man sie entdeckte, sie sah – die Weißen Wächter wären bald auf ihren Fersen, unerbittliche Jäger, die sie töten würden. Wann immer Iljan eine Bewegung bemerkte, rief er seine Begleiter zum Halt. Sie duckten sich tief in das Gras, zwangen die Gefangenen, es ihnen gleich zu tun. Iljans Herz raste. Im Grunde hinderte nichts die Wächter daran, im falschen Moment zu schreien und sie zu verraten. Er hoffte, dass Caryellê und der Rest zu viel Angst davor hatten, was dann möglicherweise mit einem Mitgefangenen geschehe. Abarax hatte die Gefangen vor dem Aufbruch vollkommen eingeschüchtert. Iljan hatte ihn diesmal nicht aufgehalten, denn er erkannte, dass jede Form von Freundlichkeit ein Fehler sein konnte.
Ohne es zu merken, passierten sie die Grenze und begaben sich in das Reich des Lichts. Sie krochen über die Erde der Leishebene, atemlos und nervös. Jedes Geräusch, ein auffliegender Vogel oder eine huschende Maus, ließ sie erstarren. Die andere Seite der Welt war kein bisschen anders als das Reich der Schatten und gleichzeitig unendlich viel bedrohlicher.
Sie kamen nah an das Dorf. So nah, dass Iljan schon einzelne Wörter der Gespräche verstehen konnte. Merkanto übernahm die Führung, denn sein Plan war es gewesen, sich die geregelten Bögen der Zentauren zunutze zu machen. Dem Zauberer folgend beschleunigten und bremsten sie und warfen sich dann auf den Boden, wenn die Herde in der Ferne vorbei donnerte.
Hinter dem Dorf begaben sie sich zum Flussufer, denn hier sanken die Wiesen in den Boden. Der flache Graben bot nur wenig Schutz. Und wieder und wieder galoppierten die Zentauren durch den Fluss, erst vor, dann hinter ihnen. Mit rasenden Herzen warfen sie sich dann in den Schatten von Büschen und Bäumen, die am Fluss wuchsen. Als die Sonne sank, war das Dorf schon beinahe nicht mehr zu sehen. Iljans merkte deutlich, dass seine Gruppe unkonzentrierter wurde. Die Anspannung wich einer allgemeinen Erschöpfung.
»Zentauren!«, warnte Jackie. Verspätet warfen sich die Kinder der Sonne samt ihren Gefangenen zur Seite. Iljan landete zum wiederholten Mal im Schlamm. Er drehte den Kopf zurück und sah die dunklen Pferdeleiber mit dem Oberkörper eines Menschen darauf vor dem blassen Rot des Himmels. Die Zentauren sprangen über den Fluss oder rannten mitten hindurch, dass das Wasser spritzte.
Aber einer hielt an. Dann ein zweiter. Obwohl selbst Iljans Vampiraugen nur Silhouetten erkennen konnten, war er sich sicher, dass sie in ihre Richtung sahen.
Hatte man sie entdeckt? Sein Herz wollte einen Schlag aussetzen. Die Zentauren starrten herüber, die sinkende Sonne beleuchtete ihre Gesichter von der Seite. Kein Zweifel, sie sahen auf den Fluss.
Die anderen mussten es ebenfalls bemerkt haben. Iljan konnte hören, wie die unterschiedlichen Herzen schneller schlugen, wie jeder den Atem anhielt, er konnte sogar das Knirschen hören, mit dem Jackie die Hände um eine Wurzel schlang.
Dann rannten auch die zwei Zentauren weiter, und keinen Herzschlag später war die Herde verschwunden. Überall wurde der Atem zischend ausgestoßen.
»Nur noch ein paar Meter«, ermunterte Merkanto sie. »Dann macht der Fluss eine Biegung und wir können eine kleine Pause einlegen.«
»Eine kleine Pause?«, rief Askook aus. »Meine Pranken sind Eisklumpen! Wir brauchen eine richtige Rast!«
Iljan schüttelte müde den Kopf. »Wir können uns keine Pause leisten, Askook. Wir müssen die Ebene überqueren, so schnell es nur geht.«
Der Feuerdrache funkelte Iljan an, aber dann verbiss er sich wohl eine wütende Entgegnung und trottete weiter durch den Fluss. Iljan schloss einen Moment die Augen und unterdrückte ein Gähnen.
Sie stolperten, als sie endlich um die Flussbiegung kamen. Merkanto hatte mit seinen wenigen Metern übertrieben, aber immerhin war die Patrouille kein einziges Mal mehr aufgetaucht. Die Nacht zog jetzt über den Himmel und ließ die Sterne glänzen. Sie schlugen ihr Lager an einer breiteren Stelle des Flussufers auf. Diesmal entzündeten sie kein Feuer. Iljan überprüfte die Fesseln der Gefangenen, Najaxis teilte das Essen aus. Niemand sprach viel, bevor sie sich alle auf ihren Decken oder auf dem Boden ausstreckten. Merkanto, der die Wache übernahm, setzte sich auf einen kleinen Hügel.
»Wenn der Mond im ersten Drittel steht, weckst du uns«, sagte Iljan und der Magier deutete durch ein Kopfnicken an, dass er verstanden hatte. Iljan gähnte und spürte, wie seine Zähne dabei länger wurden. Er würde bald Blut brauchen, schon jetzt hinderte der Durst ihn daran, sofort einzuschlafen.
Etwas stieß ihn sanft in die Seite. Als er den Kopf wendete, blitzten ihn Jackies grüne Augen an.
»He, Iljan«, sie grinste. »Wir haben es geschafft! Wir sind über die Grenze!«
Iljan erwiderte ihr Lächeln. »Ja. Wir haben es geschafft.«
Gleichzeitig rasten die Gedanken durch seinen Kopf. Ab jetzt würde ihre Reise wirklich schwierig werden. Ab jetzt bedeutete jeder Fehler den möglichen Tod. Und es lag noch eine weite Reise vor ihnen.
Als er wieder zu Jackie sah, war zwar das Lächeln geblieben, die Fröhlichkeit aber aus ihren Augen gewichen. Leise fragte sie: »Durst?«
»Auch«, gab Iljan zurück. »Noch ist er nicht sehr schlimm.«
Jackie schien schon auf halbem Weg zu sein, ihm wieder ihr Blut anzubieten. Iljan rührte dieses Angebot zwar, und er hatte es bereits mehrfach angenommen, aber er durfte nicht zu viel nehmen. Und ganz sicher würde er so lange, wie es nur ging, aushalten. Er wollte kein Blut trinken, nicht, so lange er den Durst aushalten konnte.
»Was ist noch?«, fragte Jackie leise.
Er lächelte sie an. »Wir haben noch eine weite Reise vor uns. Eine sehr weite Reise.«
Sie griff schweigend nach seiner Hand und drückte sie. Wir schaffen das, hieß diese Geste.
Iljan hoffte es mit ganzem Herzen.
Er hoffte, dass sie alle es schaffen würden.