https://www.deviantart.com/ifritnox/art/679074489
Ein Gefühl weckte Merkanto, riss ihn direkt aus dem Tiefschlaf. Er holte tief Luft, keuchte, als sei er durch einen Fluss getaucht und eben erst über die Oberfläche gekommen. Mit aufgerissenen Augen lag er auf dem Rücken. Er starrte in die Sterne.
Seine Finger krochen fast von selbst über den Untergrund und krallten sich in den Stoff seiner Roben. Er brauchte eine Weile, um in seinen Körper zurück zu finden, als wäre er im Schlaf weit fort gewesen. Sein Herz raste wie nach einem Alptraum. Doch er hatte nicht geträumt, er träumte nie. Niemals ohne Grund.
»Wacht auf!«, rief er. Seine Stimme war heiser und rau.
»Iljan, ihr anderen, wacht auf!«
Er setzte sich auf. Die Roben hatte er am Abend gegen die Kälte eng um seinen Körper gewickelt, nun zogen sie sich um seinen Hals zu. Er riss an dem Stoff und kam auf die Beine.
Mit einer Handbewegung erschuf er eine Kugel aus Licht über der Handfläche. Kalt strahlte das blauweiße Licht über die Lichtung. Die Kinder der Sonne blinzelten verschlafen. Jackie sprang in ihrer Wolfsgestalt auf und schüttelte sich die Kleider vom Leib. Bis auf ihre ungewöhnliche Farbe unterschied sie nichts mehr von einem gewöhnlichen Wolf. Selbst ihr Knurren klang wenig angsteinflößend.
Sie schnüffelte. Iljan tauchte aus der Dunkelheit außerhalb des Feuerscheins auf, seinen schlanken Degen gezückt. Die roten Augen des Vampirs huschten durch die Nacht.
»Ich sehe Bewegung, dort«, gab er an und deutete.
Jackie schnüffelte und knurrte.
»Zentauren«, übersetzte Iljan, denn ein Großteil ihrer Gruppe sprach die Wolfssprache nicht.
Askook breitete die Flügel aus und fauchte, Feuer glühte in seinem Schlund. Najaxis zog sich zu den Gefangene zurück, die verwirrt in alle Richtungen starrten.
Abarax' menschliche Form verschamm, dann sank der Nachtmahr in den Boden und wurde zu einem formlosen Schatten. Merkanto sah seine Form zwischen den toten Blättern davon fließen.
»Sie haben Speere und Bögen!«, rief Iljan. »Verteilt euch! Verteilt euch!«
Merkanto ließ sein Licht erlöschen und sprang zur Seite. Jetzt hörte er die Hufe über den Boden donnern. Äste und Dornen kratzten über seine Haut, Blätter strichen ihren Tau an ihm ab. Es war kalt und dunkel, als die Zentauren angriffen.
Merkanto lehnte mit dem Rücken an einem schwarzen Baum. Die Erde zitterte unter den Hufen der Zentauren. Die Pferdemenschen suchten den Wald ab. Sie hatten einen engen Ring gebildet, in dessen Mitte sie soeben die Gefangenen befreiten. Bald tauchte Caryellê mitten unter den Zentauren auf, den Bogen in der Hand und auf dem Rücken von Stella.
Terziel erhob sich mit schweren Flügelschlägen über die Köpfe der Herde. Auch er hatte sein Schwert wieder. Die Zentauren mussten die Waffen bei den anderen Vorräten gefunden haben. Was aus Najaxis oder Gudrun geworden war, konnte Merkanto nicht sehen.
Merkanto sah in den düsteren Himmel. Er spürte die Energie in der Luft knistern. Lautlos spannte er die Finger auf, ließ die Elektrizität hindurch fließen. Er sammelte Macht.
Die Zentauren durften ihre Gefangenen nicht bekommen. Cary, Stella und Terziel wussten alles über ihre Pläne. Wenn sie den Zentauren von der Mission der Kinder der Sonne erzählten, würde man sie bald jagen und töten.
Und dann wäre alles vorbei.
Merkanto biss die Zähne aufeinander. Der Hufschlag der Zentauren kam seinem Versteck immer näher. Über seine Haut knisterten Funken, die schon bald für alle Angreifer gut zu sehen wären.
Er konnte die Lichter unter seine Roben lenken. Seine Muskeln spannten sich. Die Zentauren kamen näher, Speere gezückt, wachsam und bereit, zu töten.
Dann besaß Merkanto genug Macht. Die Blitze sprangen plötzlich hervor, legten sich als ein schimmerndes Netz um ihn. Er trat hinter dem Baum hervor, in die Magie gehüllt wie in einen Kokon aus Spinnenseide. Die Energie zuckte in alle Richtungen davon, seine Haare sträubten sich. Die Zentauren wirbelten herum. Speere und Pfeile prallten von Merkantos Schutzwall ab. Er spürte, wie seine Sicht sich verschob. Seine Augen wurden weiß wie bei einem Blinden. Statt Formen und Farben sah er Energie: Rote, unscharfe Wärmequellen, schwarze Bewegung, blau und kalt den Wind, die Blitze von Pfeilspitzen auf der Suche nach einem Ziel.
Er hob die Hände, sah ein weißes Gewitter über seine Haut tanzen. Er schickte seine Blitze zu den Fingern und griff an.
Abarax spürte die Veränderung des Luftdrucks, als würde ein Gewitter heraufziehen. Seine Welt bestand nur noch an Dunkelheit, Licht und Emotionen. Überall, wo Schatten herrschte, konnte er sich bewegen. Er konnte so dünn und so dick werden, wie er es brauchte. Unter den Blättern, verborgen vor den Fackeln der Zentauren und dem Licht der Sterne, kroch er dahin.
Er spürte eine Quelle größter Angst. Es musste Gudrun sein, denn inzwischen kannte er die Muster der Hexe. Halb im Boden versunken floss er auf sie zu, wich den Pferdehufen aus, die den Boden zerwühlten.
Nur Licht konnte ihm in dieser Form schaden. Doch die Hufe fegten die schützende Laubschicht fort, damit Fackellicht in sein Reich eindringen konnte.
Abarax wand sich zwischen den Wesen hindurch.
Bis er merkte, dass er wahrgenommen wurde. Er konnte die Aufmerksamkeit spüren, die sich auf ihn richtete. Es existierte kein Geräusch in dieser Schwärze, er konnte nichts hören, aber er spürte, wie ein Blick sich auf ihn richtete.
Er wand sich in die Richtung, aus der ihm dieser Blick entgegen schlug. Die Aufmerksamkeit war ein Stein, den man in einen See geworfen hatte. Er spürte die Wellen, die an das Ufer schlugen und schmeckte im Wasser, was für eine Art von Stein es gewesen war.
Das Bewusstsein war ihm vertraut, doch er erkannte es nicht sofort. Es musste einer der drei Wächter sein.
Das Einhorn, erkannte er endlich. Stella, sie folgte ihm, bestrebt, ihn aufzuhalten.
Abarax spürte auch Merkantos Energie, als der Zauberer angriff.
Mitten in der Herde der Zentauren nahm Abarax feste Gestalt an. Er wuchs mitten unter ihnen in die Höhe, in der Gestalt eines schwarzen, rotäugigen, hungrigen Monsters.
Er sperrte das lange Maul auf und brüllte. Die Zentauren stoben entsetzt auseinander.
»Abarax, nein!«, schrie Iljan und sprang aus seinem Versteck. Irritiert hielt der Nachtmahr inne, die langen Klauen schwebten über den Köpfen der Zentauren. Seine roten Augen huschten zu Iljan.
Ein Pfeil pfiff durch die Luft und traf Abarax am Bein. Fauchend wurde der Alp nach hinten gerissen und schlug, jetzt wieder in menschlicher Form, gegen einen Baumstamm. Iljan hörte ihn vor Schmerz brüllen, doch er wirbelte bereits herum.
»Merkanto, hör auf!«, rief er dem Magier zu. Merkanto starrte ihn entgeistert an, Blitze um die dunkle Gestalt. Dann erlosch das silbrige Licht um den Zauberer.
Innerhalb von Sekunden wurde Iljan von Zentauren umkreist. Er hob beide Hände auf die Höhe seiner Ohren.
»Jackie, Askook, Naja, kommt heraus«, rief er über die Schulter.
Langsam, die Hände ebenfalls neben die Ohren erhoben, kamen Werwolf, Drache und Inkubus aus dem Wald. Die Zentauren sahen unschlüssig auf das Schauspiel.
»Fesselt sie!«, sagte ein großer, rotbrauner Zentaur.
Ein Pferdeleib stieß gegen Iljan und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Der Vampir taumelte direkt in die Hände eines anderen Pferdemenschen. Ehe er sich versah, war ihm der Degen abgenommen, dann wurden seine Hände gefesselt. Er konnte hören, wie die anderen sich knurrend und schimpfend über ähnliche Behandlungen beschwerten, doch er sah seine Gefolgsleute erst, als sie gefesselt an einen Baum geführt wurden. Gudrun saß noch dort, wo man sie zurückgelassen hatte.
»Wer seid ihr?«, fragte ein Zentaur, dessen pechschwarzer Pferdeleib in einen ebenso dunklen Oberkörper überging. Er richtete sein Schwert auf Iljan.
»Wir sind die Kinder der Sonne«, erklärte der Vampir. Ihr ehemaliger Rastplatz war von den Hufen zerwühlt, ihre Vorräte bereits auf den Rücken eines Kaltblut-Zentauren geschnallt worden. Die sechs anderen, Gudrun, Askook, Najaxis, Jackie, Merkanto und Abarax, bedachten Iljan mit Blicken, in denen sich Wut und Sorge mischte.
»Wir wollen zum Schloss am Sonnenberg, damit wir hier leben dürfen«, sagte Iljan weiter und sah dem dunklen Zentauren in die braunen Augen. »Wir sind keine Feinde.«
Die Zentauren brachen in lautes Gelächter aus. Iljan vermied es, die anderen anzusehen. Vielleicht war es eine dumme Entscheidung gewesen, sich zu ergeben. Die anderen sahen ihn jedenfalls an, als hätte er sie eigenhändig erstochen. Die einzige Ausnahme bildete Jackie – sie vertraute ihm.
»Ihr seid Verräter, auf diese oder auf jene Weise«, sagte einer der Zentauren. »Und ihr seid unbefugt in dieses Lang eingedrungen.«
»Ihr seid Spione!«, rief ein anderer.
Die Zentauren zogen den Ring enger und hoben die Waffen. Der Rote, der offenbar ihr Anführer war, sprach feierlich: »Hiermit verurteile ich euch zum Tod!«
»Halt!«
Das Einhorn Stella trottete nach vorne, als Cary ihr die Fersen in die Seite stieß. Die Elfe hatte die Hand erhoben, in der sie noch den Bogen samt eingelegtem Pfeil hielt.
»Wartet einen Moment«, sagte sie und ritt in den Kreis. Stellas weißer Leib drängte sich schützend zwischen die Gefesselten und die Zentauren.
»Sag bloß, du glaubst ihnen diese Geschichte!«, schnaubte ein Zentaur.
Caryellê schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht naiv! Natürlich glaube ich ihnen nicht, dass sie sich wirklich bessern wollen oder überhaupt können.«
Sie sah nach unten und ihre schwarzen Augen begegneten Iljans.
»Ich glaubte trotzdem, dass wir sie befragen sollten. In Ruhe.«
Die Zentauren starrten die Elfe an. »Sie haben euch gefangen gehalten!«
»Caryellê, was tut ihr?«, mischte sich jetzt auch Terziel ein. »Wisst ihr, wie viele von uns sie getötet haben? Ohne Gewissensbisse, ohne Zögern!«
Der Engel klang so entgeistert, als hätte Cary vorgeschlagen, ihn statt der Kinder der Sonne zu töten.
»Ich weiß nur von einem«, sagte Caryellê ruhig. »Und das war Nephanir. Ansonsten war das Schlachtfeld leer, und es gab nur einen einzigen Verwundeten außer mir und Stella – dich. Sie haben uns gerecht behandelt, also verdienen sie etwas Vergleichbares.«
»Wie du es sagst, Weiße Wächterin«, sagte der rote Zentaur schließlich widerwillig.
Iljan stieß den Atem aus, von dem er nicht gemerkt hatte, wie er ihn angehalten hatte. Ihr Urteil wurde verschoben. Und damit gab es eine Chance, doch noch alle seine Freunde zu retten.
Er warf einen Seitenblick auf Gudrun und fragte sich, ob sie ihre Chancen zerstören würde.
Sie wurden gefesselt. Während der ganzen Prozedur hielt Iljan den Blickkontakt zu seinem Gefolge aufrecht, zwang sie mit den Augen dazu, ruhig zu bleiben. Die Zentauren gingen nicht eben sanft vor, und Iljan las in den wütenden Blicken der anderen, wie sehr sie die Pferdemenschen dafür hassten. Doch sie gehorchten ihm.
Dann mussten sie der Herde zu Fuß folgen, den Fluss entlang und auf den Berg zu. Wer nicht mit den trabenden Pferdemenschen mithielt, wurde mit den Speeren gestochen. Und immer noch blieben die Kinder der Sonne ruhig. Iljan war sich bewusst, dass ihre Blicke auf ihm ruhten. Er überlegte fieberhaft, was er nur tun oder sagen könnte, um sie alle zu retten. Doch es hatte einen Grund gegeben, warum sie sich versteckt halten wollten – es gab keine Worte oder Taten, die ihnen das Vertrauen der Lichtwesen einbringen könnten. Nichts jedenfalls, wozu sie in dieser Situation fähig wären.
Wäre Caryellê nicht gewesen, so wären sie jetzt alle tot. Iljan sah zu der Elfe hinauf, die neben dem vordersten Zentauren ritt. Sie saß aufrecht und stolz. Nicht einmal sah sie nach hinten zu den Gefangenen. Sie hasste die Wesen der Dunkelheit. Trotzdem hatte sie ihnen das Leben gerettet. War es allein der Sinn für Gerechtigkeit? Oder begann sie, ihnen zu glauben?
Als der Weg bergan zu steigen begann und immer schmaler wurde, verringerten die Zentauren ihr Tempo. Die Gefesselten stolperten hintereinander vorwärts, umringt von wachsamen Pferdemenschen, die sie kaum aus den Augen ließen. Ihr Weg schlängelte sich die Berge hinauf, überquerte Bäche auf kleinen Brücken aus hellem Stein, und führte durch Höhlen, deren mit Edelsteinen bedeckte Wände das Fackellicht zurück warfen.
Cary genoss das vertraute, tanzende Licht der Fackeln, ihre Wärme und den Geruch nach Rauch. Die Kinder der Sonne waren ohne Licht durch die Nacht gezogen.
Gleichzeitig fühlte Cary sich blind. Denn außerhalb der roten Lichtkreise tanzten die Schatten schwarz und undurchdringlich, viel tiefer, so schien es, als wenn keine Fackel brennen würde. Direkt neben dem Weg ging es tief und steinig nach unten, und dort war kein Boden zu sehen. Sogar die Sterne erschienen Caryellê weniger zahlreich.
Sie fragte sich, ob eine größere Wahrheit darin verborgen lag, dass man das Licht am besten im Dunkel sehen konnte. Dann fragte sie sich, ob ein solcher Gedanke nicht blasphemisch wäre. Durfte sie davon ausgehen, dass die Dunklen das Licht besser sehen konnten? Sie hatte Angst davor, dass ihre Grenzen verschwimmen könnten. Sie war eine Weiße Wächterin, keine Freundin von Vampiren und Werwölfen!
Mit plötzlichem Grimm trieb sie Stella vorwärts. Das Einhorn verfiel in einen sanften Galopp und trug sie die gewundene Straße hinauf, vorbei am Murmeln der Wasserfälle und Bäche. Die kalte Nachtluft schlug ihr ins Gesicht, als Feuer und Licht hinter ihnen zurück blieben. Cary stellte fest, dass ein leichter Regen eingesetzt hatte, den sie zuvor nicht einmal gespürt hatte. Feine Tropfen fielen in ihr Gesicht und beschwerten ihre dunklen Haare und Stellas Mähne. Sie trieb das Einhorn weiter an. Mit federleichten Sprüngen wurde Stella schneller, fand sicher ihren Weg auf dem düsteren Pfad, den sie eingeschlagen hatten.
Sie hörte, dass die Zentauren ihr etwas hinterher riefen, aber Cary ignorierte sie. Stattdessen schloss sie die Augen und hielt das Gesicht in den Regen, atmete die Kälte ein, die saubere, klare Luft.
Stella wurde langsamer, als sie den Gipfel des Berges erreicht hatten. Die weißen Hufe klapperten über eine breite Straße, die von runden Lampen in bläuliches Licht getaucht wurde. Hier wartete Stella. Caryellê riss die Augen auf und starrte auf das Tempeldorf.