https://www.deviantart.com/ifritnox/art/680134589
An der höchsten erreichbaren Stelle auf einem sehr abschüssigen Feld, das zu drei Seiten von hohen Bergen mit schneebedeckten Gipfeln eingerahmt wurde, thronte der Tempel von Quellheim. Es war ein zweistöckiges Gebäude aus hellem, weißen Stein, gänzlich mit einem flachwinkeligem Dach bedeckt, von dessen Rändern Eiszapfen hingen. Das obere Geschoss war nur zur Hälfte ausgebaut, nach vorne hin erstreckte sich eine Art riesiger Balkon, durchbrochen von regelmäßigen Säulen, die das Dach trugen. Obwohl es auf diesem Balkon eisig kalt sein musste, konnte Gudrun Gestalten erkennen, die zwischen den Säulen herum liefen, in weißen Stoff gekleidet und Laternen in der Hand. Sie erinnerten Gudrun an Geister, verlorene Seelen, die sich in dem hohlen Obergeschoss eingerichtet hatten.
Der Tempel stand nicht alleine. Der Bergpfad führte durch ein hohes Tor in einer Steinmauer auf eine Art Burghof. Hier standen Gebäude aus dem gleichen, hellen Stein, die Wände mit Muschelornamenten und blauen Steinen verziert, die Dächer unter Schnee begraben. Es gab ein paar kleine Ställe und Brunnen, Gudrun entdeckte auch ein karges Feld, auf dem nur sehr ungenießbare Kräuter gedeihen konnten. Alle Wege waren von den seltsamen, blauen Kugeln erleuchtet, die an den Wegen entlang tanzten wie Irrlichter. Doch schienen es nur Gegenstände zu sein, die schwebten und mit einer dünnen Leine am Boden befestigt waren; jedenfalls ließen sie keine Intelligenz und keinen Willen erkennen. Irgendwer hatte diese schwebenden Kugeln gefunden und sie mit blauem Licht gefüllt.
Als die Hufe der Zentauren über die Straße klapperten, wurden Fensterläden geöffnet und verschlafene Bewohner blinzelten neugierig heraus. Gudrun war erstaunt, als sie ein paar Menschen entdeckte, aber der Großteil der hier wohnenden waren große Yetis mit weißem Fell oder aber eine schlanke Nixenart, die wohl die Flüsse hier oben hegten.
Die Zentauren führten sie schweigend über die gewundenen Steinstraßen und direkt auf den Tempel zu. Links und rechts blieben die Wohnhäuser, die kleinen Felder und unzähligen Springbrunnen zurück.
Die weiße Pforte des Tempels schwang wie von Geisterhand nach Innen. Erst, als die Gefangenen und ihr Gefolge in der großen Eingangshalle standen, entdeckten sie die beiden weiß gekleideten Gestalten, die die Tür geöffnet hatten. Die Wesen waren in weiße Roben gehüllt, deren große Kapuzen die Gesichter in tiefe Schatten tauchten. Weitere Gestalten erschienen in den Türen, die in die Halle führten. Soweit Gudrun das erkennen konnte, waren die Mönche – oder welche Funktion sie auch erfüllten – allesamt unbewaffnet.
»Wer seid ihr, Fremde?«, verlangte einer der Mönche zu wissen, der sich in nichts von den anderen unterschied. Selbst seine Stimme konnte Gudrun keine weiteren Hinweise liefern.
»Wir sind die Patrouille von den Wiesen«, erklärte der rote Zentaur. »Wir haben Eindringlinge entdeckt.«
»Und warum bringt ihr sie her?«, fragte ein anderer Mönch.
Cary trieb das Einhorn nach vorne. Stella trat neben den Zentaur, der gesprochen hatte.
»Ich bin Caryellê Assadar«, sagte die dunkelhaarige Elfe so laut, dass ihre Stimme in der Halle ein Echo erzeugte, »Anführerin der Weißen Wächter. Ich war Gefangene dieser Dunklen, und ich möchte, dass man sie befragt. Das hier ist kein gewöhnlicher Trupp Spione.«
Cary warf einen Blick zu den Gefesselten, der zögerlich wirkte, als wollte sie Iljan um Erlaubnis fragen. Gudrun hätte beinahe laut gelacht. Das fehlte noch, dass die stoische Elfe Iljans Charme verfiel. Der junge Vampir kam ganz nach seinem Vater.
»Ich will, dass man ihre Geschichte überprüft, bevor sie hingerichtet werden«, sagte Cary dann in etwas weniger befehlshaberischem Tonfall zu den Mönchen. »Dies war die einzige befestigte Siedlung in der Nähe.«
Die Mönche näherten sich jetzt den Gefangenen. Gudrun konnte von den Wesen unter den Kutten nur Mund und Kinn erkennen, trotzdem spürte sie die Last der Blicke auf sich ruhen.
»Wir werden kooperieren«, sagte Iljan laut, aber jeder musste die Nervösität in der Stimme des Vampirs hören. »Herrin Caryellê hat Recht, wir sind keine gewöhnlichen Spione. Wir sind überhaupt keine Spione.«
»Bitte, ihr müsst uns anhören!«, rief Jackie dazwischen. »Wir wollen doch nur –«
»Still!«, fuhr Terziel auf und machte einen drohenden Schritt auf Jackie zu, die tatsächlich verstummte.
Die Mönche schwiegen, bis das Schweigen schon fast beängstigend lang andauerte. Gudrun bekam den Eindruck, dass sich die Weißgewandeten stumm absprechen würden.
»Wir haben keinen Kerker oder etwas in der Art«, sagte schließlich einer der Mönche. »Wir können ein Zimmer frei räumen, doch ihr müsst sie bewachen.«
Die Zentauren bewegten sich unruhig. »Wir können nicht hier bleiben«, sagte einer zu Caryellê, dessen brauner Pferdeleib und Oberkörper mit helleren Flecken gesprenkelt war. »Vielleicht wäre es wirklich besser, sie zu töten.«
Cary sah zweifelnd auf Iljan und Jackie, dann wanderte ihr Blick über den Rest der Gruppe und streifte auch Gudrun.
Die Hexe schluckte. »Das war's dann wohl«, murmelte sie leise. Sie hatte sich ihre Karriere anders vorgestellt.
»Ich kann sie bewachen, aber ich brauche jemanden, der mir hilft«, sagte Caryellê dann. »Ich denke, es steht viel auf dem Spiel. Diese Dunklen könnten wertvolle Informationen besitzen.«
Gudrun musste die Elfe für ihren Mut bewundern. Caryellê Entschlossenheit trieb sie aber auch auf gefährliches Terrain. Vielleicht könnte Gudrun das für sich nutzen und entkommen.
»Ich helfe dir«, sagte Terziel und stellte sich an Cary Seite, den Kopf gesenkt wie zu einer Verbeugung. »Ich würde sie bei allen Sternen lieber töten. Aber wenn du glaubst, dass sie uns nützlich sein können, so stehe ich hinter dir.«
»Nützlich sein!«, fluchte Abarax, als sie in dem ihnen zugeteilten Raum saßen und endlich allein waren. »Ich will ihnen nicht nützlich sein!«
»Wir wollen hier leben, oder nicht?«, fragte Iljan. Er bemühte sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Dazu müssen wir erst einmal beweisen, dass wir keine Gefahr sind.«
»Unser ursprünglicher Plan gefiel mir besser«, sagte Merkanto.
»Man muss sich auf alles einstellen können, sonst ist man aufgeschmissen, wenn der alte Plan scheitert«, zitierte Iljan seinen Vater. Sowohl Jackie als auch Gudrun sahen ihn überrascht an.
Die Kinder der Sonne saßen in einem kleinen Schlafzimmer. Es gab kein Fenster, die einzige Tür war versperrt. Damit neben Askook auch die anderen noch Platz fanden, war die Einrichtung entfernt worden.
Iljan stand neben der Tür und sah auf die anderen herab, die auf dem Boden zusammengesunken waren, an die Wand oder an Askook gelehnt. Es war eine traurige Versammlung, und Iljan wurde von Schuldgefühlen überwältigt.
Hatte er sie nun alle in den Tod geführt? Würde dies das Ende der Kinder der Sonne sein? Er ging die letzten Stunden und Tage wieder und wieder im Kopf durch. Was hätte er anders machen müssen? Was hätte er anders machen können?
Es brannte kein Licht in dem kleinen Raum. Iljan spürte, wie draußen die Sonne unterging. Langsam ließ auch er sich an der Wand nach unten gleiten und setzte sich. Was hatte er nur getan?
Jackies Kopf fuhr ruckartig in die Höhe. Iljan, der bereits gelernt hatte, den Sinnen der Werwölfin zu vertrauen, war nicht überrascht, als sich wenig später die Tür öffnete.
Herein kam Caryellê.
Sie wechselte ein paar Worte mit zwei Mönchen, die die Tür offenbar zuvor bewacht hatten. Dann schloss sie die Tür und sah die Versammelten an.
Iljan atmete tief ein. Caryellê roch nach frischem Wasser und Heilsalbe. Ihre Kleidung war sauber und noch feucht, die Haare ordentlich gekämmt. Es war schwer zu sagen, wie viel Zeit nun schon vergangen war, aber Cary hatte diese offensichtlich genutzt.
»Hmm, du siehst gut aus!«, sagte Najaxis und leckte sich anzüglich über die Lippen.
»Naja!«, zischte Iljan dem Inkubus zu.
Caryellê schlenderte auf Najaxis zu und ging vor ihm in die Hocke. Seelenruhig zog sie einen Dolch aus dessen Scheide an ihrer Hüfte und richtete die Spitze auf Najaxis.
»Ich an deiner Stelle wäre vorsichtig«, meinte Cary mit einem Grinsen. »Von mir hängt die Art deines Todes ab!«
»Tu ihm nichts«, bat Iljan mit ruhiger Stimme. »Er wird nichts mehr sagen, ich verspreche es.«
Caryellê drehte sich zu ihm um. »Oh, er wird reden. Das werdet ihr alle. Ihr werdet mir die Wahrheit sagen.«
Iljan sah der Elfe in die dunklen Augen. »Wir haben dir die Wahrheit gesagt. Wir sind hier, um ein neues Leben zu beginnen.«
Er hielt ihre Augen mit dem Blick fest, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er war immer noch der Anführer dieser Gruppe, und als solcher war es seine Aufgabe, die anderen zu beschützen. Sehr zu seiner Erleichterung stand Caryellê auf und steckte das Messer zurück. »Das wird sich herausstellen. Bis dahin: Genießt diese Nacht. Ist vielleicht eure letzte.«
Cary trat zur Tür und setzte sich davor in den Schneidersitz, die Gefangenen gut im Blick.
Iljan spürte, wie die anderen ihm verstohlene Blicke zuwarfen. Sie hatten Angst. Sie fragten sich, ob sie im Notfall stark genug wären, um Caryellê zu töten. Iljan wollte es auf keinen Fall so weit kommen lassen, aber er befürchtete, dass Cary ihnen vielleicht keine Wahl lassen würde. Und dann wäre sie ein ernstzunehmender Gegner für die Gefangenen, die gefesselt und erschöpft waren.
Cary saß in der Finsternis und lauschte den Atemzügen der Dunklen. Obwohl sie jetzt einige Nächte mit ihnen verbracht hatte, waren die Geräusche in dem engen Raum sehr viel bedrohlicher. Askooks Schnarchen ließ die Wände erzittern.
Cary fühlte sich nicht wohl dabei, in einem Raum mit den Kindern der Sonne zu sein. Aber sie wollte verhindern, dass die Dunklen sich absprachen. Das ging am einfachsten, indem sie im gleichen Raum war. Sie würde alles hören, was gesprochen wurde.
Und am nächsten Tag würde sie endlich die Wahrheit erfahren.
Sie hoffte, dass das ausreichen würde, um die Lande des Lichts zu retten. Denn irgendein Plan musste hinter diesem seltsamen Stoßtrupp stehen. Vom Weg der Dunkelheit gab es kein Zurück mehr. Niemand, der einmal gemordet hatte, konnte sich danach noch als gutes Wesen verstehen. Selbst die Weißen Wächter, die doch nur ihre Heimat verteidigten, konnten sich nicht mehr als Wesen des Lichts bezeichnen. Für diese Monster, die aus weit weniger edlen Gründen töteten, gab es überhaupt keinen Weg zum Frieden.
Die Zeit schien sich nicht von der Stelle zu rühren. Cary erschrak, als es von der anderen Seite gegen die Tür klopfte. Als sie aufschloss, entdeckte sie Terziel auf dem Gang.
»Ist schon Mitternacht?«, fragte sie erstaunt.
Der Engel nickte. »Alles ruhig?«
Cary sah in den dunklen Raum. »Sie geben keinen Mucks von sich.«
Terziel übernahm jetzt ihre Wache. Cary übergab ihm den Schlüssel und machte sich dann auf den Weg zu der kleinen Kammer, die die Mönche ihr geliehen hatten. Der Raum war vollgestellt. An einer Seite stand ein zweites Bett, jenes, das aus dem Raum mit den Gefangenen entfernt worden war. Dort hatte Terziel geschlafen. Das andere Bett war noch unter den Taschen begraben, die man den Kindern der Sonne abgenommen hatte. Cary räumte das schwere Gepäck vorsichtig zur Seite und fiel dann auf die harte Matratze.
Sie vermisste den Sternenhimmel über sich mit plötzlicher Heftigkeit. Sie vermisste auch das Gefühl des Windes auf der Haut. Obwohl sie sich müde fühlte, konnte sie nicht schlafen. Ein Gedanke kreiste ihr im Kopf herum wie eine gefangene Stubenfliege. Nur konnte Cary ihn nicht ergreifen. War es die Sorge, dass sie falsch handelte? Oder dass sie zu spät kam? Nein, nichts davon traf zu. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere, bis sie endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, aus dem sie bei dem ersten Tageslicht erwachte.
Mit ungerührter Miene sah Terziel zu, wie Caryellê den Befragungsraum vorbereitete. Die Mönche stellten dafür einen großen Raum mit eigener Kammer zur Verfügung. Um die Kammer zu betreten, musste man den großen Raum durchqueren. Cary nutzte das zu ihrem Vorteil. In dem kleineren Raum würden die Kinder darauf warten, an die Reihe zu kommen. In dem anderen Raum, jenem, den man durchqueren musste, baute sie ihr Arsenal auf.
»Ist das wirklich alles nötig?«, fragte Terziel. Cary hatte einen Stuhl in die Mitte des Raumes geschoben und ein paar Gürtel und Riemen bereitgelegt, um jemanden daran zu fesseln. Auf einem kleinen Tisch legte sie Messer, Zangen und andere Metallgegenstände aus.
»Ich hoffe, dass wir das nicht einsetzen müssen«, sagte Cary. »Aber ich werde die Wahrheit erfahren.«
Terziel bewunderte seine Anführerin für ihren Mut. Trotzdem bekam er langsam Zweifel an ihrem geistigen Zustand, seit sie die Mönche nach einer Auswahl an Folterwerkzeugen gefragt hatte. Obwohl der Tempel kein Gefängnis und auch keinen Folterkeller besaß, hatte sie eine beachtliche Sammlung von Haushaltsgeräten zusammen getragen. Und Terziel wusste aus Erfahrung, dass Cary erfinderisch war. Jetzt betrachtete er die Korkenzieher und Holzblöcke, die Caryellê bereitgelegt hatte. Irgendwie war der Engel froh, dass er nur die Gefangenen bewachen und in den Raum führen musste.
»Ich denke, wir können sie holen lassen«, sagte Cary schließlich nach einem letzten kritischen Blick. Der Tisch mit den Foltergeräten stand so, dass man auf dem Weg zu dem kleineren Raum daran entlang gehen musste.
»Sie können einem beinahe leid tun«, bemerkte Terziel.
»Mir tun sie leid«, sagte Cary. »Obwohl sie böse sind, sowas wie mich haben sie vielleicht nicht verdient.«
Terziel lachte kurz und hart. »Sie haben alles verdient. Ich freue mich darauf, wie du diesem Inkubus einen Zahn nach dem anderen ziehst!«
Carys Lächeln war freudlos.